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Richard Coudenhove-Kalergi war für die Aufnahme der Türkei
Knapp 150 Seiten zur Geschichte der europäischen Integration - das ist nicht eben viel, vor allem dann nicht, wenn fast ein Viertel des Buches auch noch der Vorgeschichte der europäischen Einigung gewidmet ist. Jürgen Elvert informiert über die vielfältigen Europabegriffe und Europabilder seit der Antike und stellt die Europapläne seit dem Zeitalter Napoleons vor, bevor er sich der Entstehung des Europarats und der Montanunion zuwendet. Gerade die Einbeziehung der Vorgeschichte der heutigen EU macht aber den besonderen Wert des schmalen Bandes aus.
Der Verfasser erinnert daran, dass die Epoche der Nationalstaatsbildung von einer breiten Diskussion über die europäische Einbindung demokratisch verfasster Nationalstaaten begleitet wurde. Der "Europäismus" der nationalen Bewegungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlor erst infolge der pragmatischen Zweckbündnisse mit den etablierten Monarchien seine konzeptionelle Kraft. Was dann folgte, die Etablierung eines Systems souveräner Nationalstaaten, war weder ohne Alternative, noch darf es, so die implizite Botschaft der Darstellung, als das Ende der Geschichte betrachtet werden. Überzeugte Europäer wie Victor Hugo oder Ernest Renan, die Elvert zitiert, erscheinen vielmehr als hellsichtige Mahner in einer Zeit nationalen Machtstaatsdenkens. Die auf den ersten Blick erstaunliche Fülle europäischer Einigungsinitiativen nach dem Ersten wie nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wird als naheliegende Reaktion auf die Defizite des Nationalstaatensystems verständlich.
Zu den weiteren Vorzügen des Bandes zählt, dass Elvert von vornherein mehr als das "Europa der Sechs" im Blick hat, aus dem die heutige EU hervorgegangen ist. Im Kontext der Römischen Verträge schildert er die britischen Pläne für eine Europäische Freihandelszone und erläutert, warum Griechenland, Finnland und Spanien der Efta fernblieben. Die Diskussionen in den Ländern, die den sechs Gründungsmitgliedern früher oder später folgten, werden für jede Erweiterungsrunde differenziert wiedergegeben. Der Verhandlungsprozess, der vom "Europa der 15" zum "Europa der 25" führte, wird prägnant geschildert. So wird deutlich, dass die Gründe für den Beitritt zur europäischen Gemeinschaft immer sehr spezifisch waren, auch schon bei den Gründungsmitgliedern. Der Ausrichtung auf die Gemeinschaftsziele hat das aber nicht geschadet. Wichtig hierfür waren die Verpflichtung auf den Acquis communautaire, auf der die etablierten Mitglieder gegenüber allen Neuankömmlingen beharrten, und der gemeinsame Wertehorizont der europäischen Demokratien. Keineswegs zufällig wurde er nach der Erweiterung des "Europa der Sechs" zum "Europa der Neun" auf dem Kopenhagener Gipfel im Dezember 1973 zum ersten Mal formuliert.
Elvert gliedert seine Darstellung der Integrationsgeschichte in drei Zeitabschnitte: die Gründungsphase, die er mit dem Vollzug der ersten Erweiterung 1973 enden lässt; dann eine Konsolidierungsphase, die an beiden Enden überlappend von 1970 bis 1992 reichen soll; und schließlich die Phase der "Europäisierung der Europäischen Union", die 1989/90 beginnt und gegenwärtig noch andauert. Das ist auf den ersten Blick ungewöhnlich, wenn man aus der Tradition der Sechser-Gemeinschaft kommt. Bei näherem Hinsehen spricht aber viel für eine solche Gliederung. Schon bei der Gründung des "Europa der Sechs" war die Mehrheit der politischen Kräfte, die sie trugen, davon überzeugt, dass Großbritannien eigentlich dazugehören müsse. Ende der sechziger Jahre wurde die französische Zustimmung zur Erweiterung geradezu zur Vorraussetzung zur Vertiefung der Gemeinschaft. Unter "Europäisierung" versteht Elvert die zunehmende Durchdringung nationaler Politiken durch europäische Vorgaben und die damit einhergehende Ausprägung der supranationalen Struktur der Gemeinschaft. Beide Prozesse haben zweifellos mit dem Maastricht-Vertrag und seiner Implementierung an Intensität gewonnen, so dass die EU - was oft übersehen wird - mit ihrer Ausweitung nach dem Ende des Kalten Krieges auch erheblich an Relevanz im täglichen Leben gewonnen hat.
Manchmal fällt die Darstellung allzu gedrängt und damit irreführend aus. Führende Politiker der europäischen Gründerjahre wie Winston Churchill, Robert Schuman oder Konrad Adenauer sollte man nicht pauschal als "Führungsmitglieder" der Föderalisten und Unionisten präsentieren. Der "Luxemburger Kompromiss" vom Januar 1966 bestand nicht darin, dass man sich auf die Fortführung der Diskussion "bis zur Erzielung von Einstimmigkeit" einigte; festgehalten wurde vielmehr, dass man in dieser Frage nicht übereinstimmte. Gleichzeitig wartet Elvert aber immer wieder mit überraschenden Details auf. So berichtet er, dass der "Paneuropa"-Gründer Richard Coudenhove-Kalergi durchaus für die Aufnahme der Türkei in ein föderales Europa plädierte. Für manche Föderalisten dürfte das eine Information sein, die nicht eben leicht zu verdauen ist.
WILFRIED LOTH
Jürgen Elvert: Die europäische Integration. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006. 152 S., 14,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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