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Victor kommt zum Rendezvous mit einer Frau, die er kaum ein paar Tage kennt, in deren Wohnung. Ihr Mann ist verreist, ihr zweijähriges Kind endlich eingeschlafen. Sie gehen ins Schlafzimmer. Doch aus der Liebesnacht wird nichts. Eine plötzliche Übelkeit überfällt die Frau, und innerhalb kurzer Zeit ist sie tot. Victor ist ratlos. Was soll er mit der Leiche tun? Er spielt verschiedene Möglichkeiten in Gedanken durch und entschließt sich endlich, heimlich zu verschwinden, nachdem er dem Kind einen Teller mit Essen bereitgestellt hat. Sicher wird eine Aufwartefrau oder eine Tagesmutter die Tote…mehr

Produktbeschreibung
Victor kommt zum Rendezvous mit einer Frau, die er kaum ein paar Tage kennt, in deren Wohnung. Ihr Mann ist verreist, ihr zweijähriges Kind endlich eingeschlafen. Sie gehen ins Schlafzimmer. Doch aus der Liebesnacht wird nichts. Eine plötzliche Übelkeit überfällt die Frau, und innerhalb kurzer Zeit ist sie tot.
Victor ist ratlos. Was soll er mit der Leiche tun? Er spielt verschiedene Möglichkeiten in Gedanken durch und entschließt sich endlich, heimlich zu verschwinden, nachdem er dem Kind einen Teller mit Essen bereitgestellt hat. Sicher wird eine Aufwartefrau oder eine Tagesmutter die Tote am Morgen finden.
Wie die Gespenster Richard III. am nächsten Tag in der Schlacht heimsuchen - der Titel des Romans ist ein Shakespeare-Zitat -, so steht Victor unter dem Eindruck dieser Nacht. Er geht zur Beerdigung, er läßt sich mit dem Vater der Toten bekanntmachen, lernt ihre Schwester kennen und schließlich auch Eduardo, den Witwer. In einem Showdown erfährt Victor am Ende die Wahrheitüber die Ereignisse der Todesnacht.
Marías' Sensibilität für sprachliche Details, die Aufmerksamkeit für die Nuancen zwischenmenschlicher, vornehmlich erotischer Beziehungen, für die feinen Unterschiede der guten Gesellschaft machen den Roman zu einem dichten Psychogramm der Abgründigkeiten und Lebenslügen eines weltläufigen Großstadtmilieus der neunziger Jahre.
Autorenporträt
Javier Marías, 1951 als Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen geboren, veröffentlichte seinen ersten Roman mit neunzehn Jahren. Seit seinem Bestseller "Mein Herz so weiß" gilt er weltweit als interessantester Erzähler Spaniens. Sein umfangreiches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Nelly-Sachs-Preis sowie dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.1998

Dunkler Rücken der Zeit
Der Geisterbeschwörer Javier Marías · Von Paul Ingendaay

Der gewaltige Erfolg des spanischen Schriftstellers Javier Marías ist das merkwürdigste Vorkommnis, das der deutschsprachige Literaturbetrieb in den letzten Jahren erlebt hat. Nicht nur, weil einige hunderttausend verkaufte Exemplare des Romans "Mein Herz so weiß" den Madrilenen im Buchhandel überraschend in die Nachbarschaft der wenig feinen Stapelware mit den knallbunten Umschlägen gerückt haben. Sondern weil es nach der ehrfurchtgebietenden Zahlenmystik der letzten achtzehn Monate schwierig ist, die Maßstäbe wieder zurechtzurücken.

Der erste, der dafür sorgte, war Marías selbst. Der Erfolg mache ihn ein bißchen mißtrauisch, gab er unbeeindruckt zu Protokoll, und verstehen könne er ihn eigentlich nicht. Seine Bücher seien schwierig, und da er dies wisse, sehe er in Verkaufszahlen kein Votum der Literaturgeschichte. Das war nicht kokett gemeint, sondern trifft den Tatbestand. Den Folkloristen in seinem Heimatland gilt Marías ohnehin als zu britisch (er hat in Oxford gelehrt und mit Ende Zwanzig den "Tristram Shandy" übersetzt), und mit dem prallen iberoamerikanischen Realismus hat er wenig zu tun. Um die zehntausend verkaufte Exemplare im Ausland, findet er, seien für jemanden wie ihn angemessen.

Hierzulande wird sich das Publikum damit nicht zufriedengeben. Aus gutem Grund: Der neue Roman "Morgen in der Schlacht denk an mich", den wir in dieser Zeitung vorabdrucken, knüpft an den Vorgänger "Mein Herz so weiß" an. Abermals stammt die Titelzeile von Shakespeare, abermals erfahren wir auf der ersten Seite vom Tod einer jungen Frau. Anders als im Vorgänger jedoch, wo sich eine frisch Verheiratete mit der Pistole ins Herz schießt und damit ein Geheimnis schafft, das erst Jahrzehnte später aufgedeckt wird, umweht den Tod der dreiunddreißigjährigen Marta Téllez nichts Mysteriöses. Dem Ereignis haftet eher etwas Peinliches an. Marta Téllez nämlich, so berichtet Víctor Francés Sanz, der konsternierte Erzähler, stirbt, als sie sich im ehelichen Bett für ihn ausziehen will, während ihr Ehemann in London ist. Damit wächst dem verhinderten Liebhaber seine eigentliche Rolle zu: das Leben der Frau, die er kaum kannte, zu erforschen und es mit ihrem Sterben zu verbinden.

Drei der letzten vier Marías-Romane beginnen damit, daß ein Erzähler (einer wie der Zwillingsbruder des anderen) von Toten berichtet. Die Folgerung liegt nahe, daß der Autor den Tod braucht, um seine Bühne zu bereiten. Es ist eine Bühne, auf der oft nur zwei Personen stehen. Einer spricht, der andere hört zu. Was da gesagt wird, soll Phantasien verscheuchen und böse Geister bannen, es soll die Leerstellen füllen, die besonders die männlichen Figuren in ihrem Leben spüren und kaum ertragen. Meistens geschieht das genaue Gegenteil: Wer Phantasien bannen will, ruft sie herbei. Das Nichtbedachte und Nichtgewußte wird bei Marías zum Fluch. Wer von ihm befallen wird wie Víctor, verwandelt sich in einen einsamen Jäger, der kaum noch schläft, Tag und Nacht nicht mehr auseinanderhält und erst nach Hause zurückkehrt, wenn er ein weiteres Stück aus einem fremden Privatleben erbeutet hat.

Die letzten beiden Bücher des Spaniers sind mit ihren gegenläufigen Geschichten besonders kunstvoll ineinander gespiegelt: "Mein Herz so weiß" berichtet von einem Mann, der etwas nicht erfahren will und gleichwohl zum leidenschaftlichen Mitwisser wird; der neue Roman von einem Mann, der anderen, die ahnungslos sind, von seiner Mitwisserschaft erzählen muß. Derlei Konstruktionspläne lassen freilich nichts von der Artistik ahnen, mit der Marías hier schreibt. Rund achtzig Seiten verwendet er auf die erste Szene, und schon mit dem ersten Satz ("Niemand denkt je daran, daß er irgendwann eine Tote in den Armen halten könnte und daß er nicht mehr ihr Gesicht sehen wird, an dessen Namen er sich erinnert") hat er den Leser in seinen Bann geschlagen.

Ein Minimum von Arrangement genügt: Während Marta Téllez halbnackt auf dem Bett sitzt, gelähmt von einer rätselhaften Übelkeit, die ihr den Tod bringen wird, schaltet ihr Besucher den Fernseher an (ohne Ton) und verfolgt die Bilder alter Hollywoodfilme. Auch "Falstaff" mit Orson Welles ist dabei, ein Film, den er kennt, und so hallen die Abschiedsworte des von Heinrich V. verstoßenen Dicken ("Leb wohl, Gelächter, und leb wohl, Schmach") in seinem Bewußtsein nach. Genauso kehrt das Echo der Zeilen zurück, mit denen der ermordete Clarence seinen Mörder, den schlafenden Richard III., in der Nacht vor der Entscheidung quält: "Morgen in der Schlacht denk an mich, und es falle dein Schwert ohne Schneide: Verzag und stirb."

Marías' Sinn für diese Situation und für jedes ihrer Details ist bestechend. In Víctors Bericht laufen Gedachtes, Erfundenes und Memoriertes wie auf Endlosbändern nebeneinander her und bleiben doch stets aufeinander bezogen. Wie Refrains kehren die Leitformeln wieder; der Erzähler selbst wird zur Echokammer. Stimmen auf dem Anrufbeantworter - zweifellos Marías' Lieblingsgerät, weil niemand weiß, an wessen Ohren eine Nachricht dringt - bedrängen Víctor so sehr, daß er beim Verlassen der Wohnung kurzerhand die Kassette einsteckt. Die sonstigen häuslichen Kleinigkeiten (wo ist der Mantel?) können es an Dramatik durchaus mit einem Thriller aufnehmen, weil jede zeitlupenhafte Bewegung des Erzählers mit verstörender Reflexion aufgeladen ist.

Diese Reflexionen sorgen für den eigentümlichen Sog, den Marías' Bücher entwickeln. Denn der Erzähler tut nichts, was ein Mensch in so einer kompromittierenden Situation tun würde. Vielleicht ist Víctor verrückt. Vielleicht ist er nur ein urbaner Intellektueller, der unter etwas leidet, was Therapeuten "Ichschwäche" nennen. In jedem Fall trifft der zweijährige Sohn Martas, als er verschlafen auf die Szenerie getappt kommt, neben seiner sterbenden Mutter einen Fremden an, der im Begriff ist, sich zu verwandeln: Schon hat Víctor sich in Martas Sterben eingenistet (nicht umsonst ist er Drehbuchautor) und damit begonnen, seine eigene Existenz neu zu choreographieren.

Mit erstaunlicher Radikalität stürzen Marías Figuren bereitwillig jede Normalität in ihrem Leben um; kein Stundenplan gilt mehr, wenn ihr krankes Hirn zu arbeiten beginnt. Sie sind bürgerliche Besessene, freilich von einer Besessenheit, der nie die guten Manieren abhanden kommen. Zielstrebig und nicht ohne Charme drängt sich Víctor in Martas Leben - oder das, was ihr Leben war, bevor sie starb. Er beobachtet ihre Wohnung und besucht ihr Begräbnis. Er schreibt eine Rede für ihren Vater, einen alten Höfling, der ihn beim spanischen König einführt (der satirische Höhepunkt des Romans, comic relief reinsten Wassers). Er umgarnt Luisa, die Schwester der Toten. Und er tritt schließlich auch Deán unter die Augen, dem Ehemann, nun Witwer, der ihm seinerseits eröffnet, was sich in London in der Nacht von Martas Tod ereignet hat.

In "Morgen in der Schlacht denk an mich" ist wieder alles zu bewundern, was auch die anderen Bücher von Javier Marías auszeichnet: der geschliffene Stil, die präzisen Beschreibungen, die kalte Ironie, das jederzeit kontrollierte Pathos, für das sich Marías gern hinter Shakespeare verbirgt. Allerdings, eines ist jetzt klarer geworden: Der Schlüssel zu den Büchern liegt nicht in den Spuk- und Geisterbildern, von denen bei seinen Bewunderern so oft die Rede ist. Denn natürlich spukt es hier gar nicht. Er ist auch nicht bei Shakespeare zu finden und erst recht nicht bei schönen toten Frauen mit einem Nacken "wie aus dem neunzehnten Jahrhundert". Der Schlüssel zu diesem und den anderen Romanen des Autors liegt in dem schlichten Umstand, daß sie einen Erzähler haben, der aus der Erinnerung - der Beschwörung - heraus erzählt. Was uns im Buch vor Augen tritt, ist eine gefilterte und bearbeitete Version von Ereignissen, für die es nur einen einzigen Zeugen gibt, ein Kunstprodukt, das weniger auf die Qualität des Erlebten als auf Willkür und Allmacht des Erzählers schließen läßt.

Man mag einwenden, erzähltheoretisch sei das ein alter Hut; die Implikationen sind nicht weniger gravierend. Seinen Roman "Der Gefühlsmensch" (deutsch 1992) hat Marías als eine Liebesgeschichte bezeichnet, "in der die Liebe weder sichtbar ist noch lebt, sondern angekündigt und erinnert wird". Kurz, die Sache selbst, die Liebe, läßt sich nicht darstellen; sie gründet "weitgehend auf ihrer Vorwegnahme und ihrer Erinnerung", ja sie benötigt, neben allem Wirklichen, "immer ein Quantum an Fiktion". Erst die Erfindung macht die uns nicht zugänglichen Dinge sichtbar, jene Zone, die Marías - mit Shakespeare - den "dunklen Rücken der Zeit" nennt.

Wir sind zum Erfinden verdammt, zum Erfinden und Entstellen: Darin ähnelt der getriebene Erzähler des Romans dem Autor Javier Marías, der von pensamiento literario gesprochen hat, literarischem Denken, das anderen Formen des Denkens etwas Eigenes hinzufüge. In der moralischen Ambivalenz der Hauptfigur, die wir nur durch den Schleier ihrer eigenen Manöver sehen können, liegt wohl die größte Leistung dieses fesselnden Buches. Marías lockt uns mit allem, was der moderne Bewußtseinsroman zu bieten hat, aber vor allem lockt er uns in die Falle unserer eigenen Bequemlichkeit. Er mutet uns einen Helden zu, dessen tückische Untiefen nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind; er täuscht den Leser, so wie Víctor ihn (und sich selber) täuscht.

"Vielleicht muß man den Trug akzeptieren, der Teil der Wahrheit ist, wie die Wahrheit Teil des Truges ist", heißt es in "Mein Herz so weiß". Das ist, wenn man sie zu Ende denkt, eine wenig erbauliche Wahrheit, und der Erzähler ist ihre vollkommene Verkörperung, ein Held, der sowohl Mißtrauen wie Mitleid verdient. Denn er ist nicht nur eine gefährliche, sondern eben auch eine gefährdete Figur, eine schillernde Mischung aus Philosoph, Nervenbündel und moralischem Zombie. Wie die Erzähler in früheren Romanen von Marías (ein Dozent, ein Sänger, ein Dolmetscher) fungiert er als Vermittler, in dessen Händen Informationen körperlich zu werden scheinen: Er muß sie abgeben, teilen und neue einhandeln, als wäre ihm angesichts unendlicher Möglichkeiten sein eigenes Ich abhanden gekommen - als wäre er nur in fremden Kleidern lebensfähig. So spielt sein neugieriges Bewußtsein zwanghaft die Dramen seiner nächsten Umgebung nach, all die Kränkungen, Heimlichkeiten und gebrochenen Versprechen, die Lügen und den Ehebruch.

Drei der letzten vier Marías-Romane beginnen damit, daß ein Erzähler von Toten berichtet. Ein vierter, "Der Gefühlsmensch", endet damit: Ein Mann zieht eine mutige Konsequenz und bringt sich um. "Aber ihr braucht euch keine Sorgen zu machen", sagt der Erzähler im letzten Satz, "ich wäre unfähig, seinem Beispiel zu folgen." Das ist, je nach Lesart, unerträgliche Selbstzufriedenheit oder schneidender Hohn. Es ist eine Ambivalenz, die uns der Zauberer Javier Marías lächelnd serviert, und sie beherrscht auch sein neuestes Werk. Die Guten müssen sterben, damit die Zwielichtigen ins Erzählen kommen.

Javier Marías: "Morgen in der Schlacht denk an mich". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Hartmut Zahn und Carina von Enzenberg. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1998. 430 S., geb., 44,- DM.

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"In 'Morgen in der Schlacht denk an mich' ist wieder alles zu bewundern, was auch die anderen Bücher von Javier Marías auszeichnet: der geschliffene Stil, die präzisen Beschreibungen, die kalte Ironie ..." Paul Ingendaay, 'FAZ'

"In 'Mein Herz so weiß' brauchte Javier Marías noch eine Seite, bis er uns hatte. Dieses Mal reicht ihm ein Satz, der rätselhafte erste seines neuen Romans: 'Niemand denkt je daran, daß er irgendwann eine Tote in den Armen halten könnte." Andreas Isenschmid, 'Tages-Anzeiger', Zürich

"..ein Nachtspuk, ein finsteres Notturno, eine piéce noire, grausig wie Goyas Traumgeschichte, schrecklich und komisch wie die Nachtalben von Füssli, gespenstisch wie Shakespeares Geisterauftritte." Sigrid Löffler, 'Die Zeit'

"In der Kurzzusammenfassung eines Freundes des Erzählers wird die Geschichte zu einer grausamen Zote: 'Die Tante ist abgekratzt? Und du hast ihn ihr nicht einmal reingesteckt, so eine Scheiße.' Javier Marías braucht für seinen Bericht etwas länger oder genauer: 455 Seiten. Man hat nicht das Gefühl, daß es eine zuviel ist." Hagen Grünberg