Marktplatzangebote
30 Angebote ab € 0,89 €
  • Broschiertes Buch

2 Kundenbewertungen

Sie heißen Margarita, Stefanie und Urs, Lotta, Larissa oder Dylan. Sie leben in einem heruntergekommenen Backsteinhaus am Rand von Spanish Harlem in New York, stammen aus einem Dorf im schweizerischen Thurgau oder verbringen ihre tristen Tage in einer Lungenklinik nahe der Autobahn bei Hannover. Sie gehen in einer hellen Mondnacht im Eisweiher schwimmen, sie machen Kanuferien in Schweden und entdecken ein gekentertes Boot,oder sie verschwinden auf Block Island - wie Treibgut, ohne eine Spur zu hinterlassen. Immer sind sie jung und unabhängig, einsam oder ein perfektes Paar, scheinbar. Immer…mehr

Produktbeschreibung
Sie heißen Margarita, Stefanie und Urs, Lotta, Larissa oder Dylan. Sie leben in einem heruntergekommenen Backsteinhaus am Rand von Spanish Harlem in New York, stammen aus einem Dorf im schweizerischen Thurgau oder verbringen ihre tristen Tage in einer Lungenklinik nahe der Autobahn bei Hannover. Sie gehen in einer hellen Mondnacht im Eisweiher schwimmen, sie machen Kanuferien in Schweden und entdecken ein gekentertes Boot,oder sie verschwinden auf Block Island - wie Treibgut, ohne eine Spur zu hinterlassen. Immer sind sie jung und unabhängig, einsam oder ein perfektes Paar, scheinbar. Immer sind sie auf der Suche nach etwas und finden doch nichts, stets gerät ihr Leben für einen Moment in Bewegung oder steht plötzlich still. Einziger Beobachter ist der Ich-Erzähler: kühl und distanziert, abwartend, rauchend. Ebenso wie in "Agnes", seinem preisgekrönten Debütroman, zeichnet Peter Stamm auch in seinen Erzählungen realistische Porträts und scharfe Momentaufnahmen. Coole Liebesgeschichten in bewegten Bildern, die nie abgegriffen sind. Geschichten, die den Zeitgeist treffen.
Autorenporträt
Peter Stamm, geboren 1963, studierte nach einer kaufmännischen Lehre einige Semester Anglistik, Psychologie, Psychopathologie und Wirtschaftsinformatik. Längere Aufenthalte in Paris, New York und Skandinavien. Er lebt mit seiner Familie in Winterthur. Peter Stamm arbeitete in verschiedenen Berufen, unter anderem in Paris und New York, seit 1990 als freier Autor und Journalist. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. 2012 wurde Peter Stamm mit dem Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen ausgezeichnet, 2013 wurde er Mainzer Stadtschreiber und 2014 wurde ihm der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg verliehen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.2000

Erdmännchenblicke
Herzensblind: Peter Stamms Erzählungen · Von Hubert Spiegel

Man könnte Peter Stamms Erzählungen auf den ersten Blick für konventionelle Single-Prosa halten: Kleine Geschichten vom Liebeselend weitgereister Provinzflüchtlinge, Erinnerungen von der letzten Pauschalreise in die Einsamkeit. Stamms Figuren schwitzen in Italien, paddeln durch Schweden, gehen im amerikanischen Ostküstensand spazieren und machen weihnachtliche Zufallsbekanntschaften an New Yorker Theken. Aber die Orte, an denen diese Geschichten sich ereignen, spielen für ihre Figuren keine Rolle. Heimat ist ihnen nichts mehr, wovor man flüchten müsste, die Fremde nichts, was erkundet oder erobert werden müsste. Für die literarischen Vorgänger von Stamms einsamen Helden bildete die Flucht noch den Ausgangspunkt einer jeden Reise, sie flüchteten vor der Schweiz, der Pfalz oder Oberschwaben hinaus in die Welt und kehrten zurück wie geprügelte Dorfhunde, weil die Welt sie im Nu erkannte als das, was sie nicht sein wollten: Schweizer, Pfälzer, Oberschwaben. Diese Generation musste erst mit den Augen anderer sehen lernen, bevor sie sich selbst ins Gesicht blicken konnte. Ihre Nachkommen jedoch sind auch mit fremden Augen blind.

Diese Blindheit, die vor allem eine des Herzens ist, war schon das zentrale Motiv des Romans "Agnes", mit dem der Schweizer vor zwei Jahren debütierte. Damals erzählte Stamm die Liebesgeschichte eines Schweizer Sachbuchautors, der in Chicago für ein Buch über amerikanische Luxuseisenbahnwaggons recherchiert. In der Bibliothek lernt er die junge Physikstudentin Agnes kennen, ein sprödes, trotzig schüchternes Mädchen. Eine banale kleine Liebesgeschichte nimmt ihren Lauf: aufregend unverbindliche Bibliotheksgespräche, das erste Rendezvous, die erste gemeinsame Nacht. Als Agnes unter den Büchern, die der Ich-Erzähler verfasst hat, einen Band mit Erzählungen entdeckt, bricht das Unheil über die Beziehung herein. Sie bittet ihn, eine Geschichte über sie zu schreiben - "damit ich weiß, was du von mir hältst". Sie wünscht sich ein Porträt, das sie erkennen lässt, wie der Geliebte sie sieht, er schreibt gemäß der literarischen Devise, dass eine Geschichte die bestmögliche Form erreicht, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung nimmt. Ob die Geschichte nur vorwegnimmt, was ohnehin geschehen wäre, oder ob sie die Ereignisse vorherbestimmt und die Realität lediglich nachvollzieht, was die Fiktion vorgegeben hat, lässt Stamm offen.

"Agnes" ist nicht zuletzt ein Roman über die Macht der Literatur und ein raffiniertes Spiel über die zerstörerische Kraft der Sprachlosigkeit, die sich in der Fiktion potenziert. Denn die erfundene Geschichte erschafft eine zweite Wirklichkeit, in der das Paar ebenso sprachlos ist wie in der Realität. Aber zwei Wirklichkeiten, in denen sie stumm bleibt, sind mehr als Agnes ertragen kann. Das Buch endet mit ihrem Verschwinden, und die Vermutung liegt nahe, dass das Verhängnis auch ein Triumph ist und der Selbstmord der letzte Schritt, mit dem Agnes ihr Ziel erreicht. Erst im Tod wird sie ganz eins mit ihrer Geschichte und entspricht ganz dem Bild, das ihr Geliebter offenbar immer schon von ihr hatte.

"Blitzeis" beginnt, wie der Roman endete, mit einem Liebestodesfall. In der ersten der ingesamt neun Erzählungen kehrt ein junger Mann übers Wochenende in sein Dorf zurück und trifft sich mit alten Freunden. Beim nächtlichen Badeausflug zum "Eisweiher", so der Titel der Erzählung, lässt er sich auf dem Steg eines Bootshauses mit der Freundin seines besten Freundes Urs ein. Die beiden werden entdeckt, Urs schlägt sich beim Kopfsprung vom Steg zurück ins Wasser an einem Pfahl den Schädel ein. Das Ende ist lakonisch: "Einige Monate später erfuhr ich, dass Stefanie schwanger war. Von da an blieb ich an den Wochenenden oft in Neuchâtel und fing sogar an, meine Wäsche selber zu waschen."

Die Liebesgeschichte, um die es Stamm hier geht, ist weder die zwischen Stefanie und dem Ich-Erzähler noch jene zwischen Stefanie und dem toten Urs. Was hier mit größter Zurückhaltung, sparsam und in wenigen kargen Andeutungen geschildert wird - oder eben gerade nicht geschildert wird -, ist das Ende einer Jungenfreundschaft, die Liebesgeschichte zwischen Urs und dem Ich-Erzähler, der zum Betrüger wird, weil er sich als Betrogener, als Verlassener fühlt. Ihre Konturen erhält diese Geschichte gleichsam aus dem Ungesagten.

Das Ungesagte sprechen zu lassen, mit wenigem viel zu verhüllen und unter der Hülle die Umrisse mal ahnbar, mal erkennbar werden zu lassen, - darin liegt Stamms Kunst. Die Ich-Erzähler des Schweizers, der 1963 geboren wurde, sind allesamt Männer zwischen Mitte zwanzig und Ende dreißig, umgeben von einer seltsamen Aura der Zeit- und Kraftlosigkeit, scheinbar ziel- und appetitlos durchs Leben treibend, zaghaft sehnsüchtig und bänglich liebesmüde, beziehungsgeschädigt bis beziehungsunfähig, kurzum zeitgenössische Wesen von jener Sorte, der die Suche nach Liebe und die Flucht vor ihr in eins fällt, weil ihr das eine wie das andere vom Bedürfnis immer mehr zur Geste geworden ist.

Stamms Erzählungen sind Momentaufnahmen solcher Wesen, Schnappschüsse, die für Sekundenbruchteile auf einem Bild vereinen, was im nächsten Augenblick wieder auseinander strebt, weil die Kräfte der Abstoßung größer sind als die der Anziehung. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Erzählung "Was wir wollen".

Eine Geburtstagsparty im kleinen Kreis, ein schleppender Abend. Evelyn ist dreißig geworden, die Kollegen haben ihr einen Vibrator geschenkt. Nur der Ich-Erzähler ist geblieben, um beim Abwasch zu helfen. Evelyn ist eine frühere Kollegin von ihm, die einzige, die seine Floskel, man könne ja mal zusammen ein Bier trinken gehen, ernst genommen hatte. Aus Mitleid war er mit ihr ausgegangen, aus Mitleid ihrer Einladung zur Geburtstagsfeier gefolgt, aus Mitleid und Taktgefühl geblieben, als die anderen viel zu früh gingen. Jetzt blättert er in einem Buch über Erdmännchen, "dünne, katzenartige Tiere, die auf Erdhügeln standen und ins Weite schauten", während Evelyn im Badezimmer verschwunden war. Als sie zurückkommt, trägt sie nur noch ihre Unterwäsche, "weiße Unterwäsche aus festem, seidig glänzenden Material. An den Füßen trug sie Hausschuhe. Sie blieb in der Tür stehen, lehnte sich an den Rahmen und stellte ein Bein leicht angewinkelt vor das andere." Einige Minuten später liegt sie weinend auf ihrem Bett, und der Erzähler spendet der Verschmähten den trostlosesten Trost, der sich denken lässt: "Du darfst nicht zu viel erwarten", sagte ich. "Glück heißt, das zu wollen, was man kriegt."

Stamm, bereits nach seinem Debüt mit Lob und Auszeichnungen überhäuft, stellt mit "Blitzeis" unter Beweis, dass der Lobpreis nicht vorschnell gesprochen war. Vor allem aber bekennt er sich mit seiner ebenso strengen wie lässig-lakonischen, detailgenauen Sprache zur Tradition großer amerikanischer Erzähler wie Raymond Carver und Richard Ford. Stamms Geschichten über Einsamkeit, Sprachlosigkeit und die Unfähigkeit zu lieben tragen Titel wie "Treibgut" oder "Passion", aber sie hätten einen Untertitel verdient, der, leicht abgewandelt, an eine von Carvers besten Erzählungen erinnert: Wovon wir schweigen, wenn wir von Liebe schweigen.

Peter Stamm: "Blitzeis". Erzählungen. Arche Verlag, Zürich 1999. 136 S., geb., 32,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr