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Wenige Jahre vor und nach Abfassung seiner berühmten Untersuchung über das Spiel, "Homo ludens" (1938), verfasste der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga (1872-1945) zwei Werke zur Analyse und Kritik seiner Zeit - der Herrschaft des Nationalsozialismus in Europa und des Zweiten Weltkriegs -, die unterschiedlich wahrgenommen wurden. Beide Essays werden hier in einer kommentierten Neuübersetzung publiziert, die an die erstmalige Übersetzung der "Amerika"-Bücher ins Deutsche anschließt. "Im Schatten von morgen" (1935) wurde seinerzeit ein Bestseller, geschätzt für seine…mehr

Produktbeschreibung
Wenige Jahre vor und nach Abfassung seiner berühmten Untersuchung über das Spiel, "Homo ludens" (1938), verfasste der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga (1872-1945) zwei Werke zur Analyse und Kritik seiner Zeit - der Herrschaft des Nationalsozialismus in Europa und des Zweiten Weltkriegs -, die unterschiedlich wahrgenommen wurden. Beide Essays werden hier in einer kommentierten Neuübersetzung publiziert, die an die erstmalige Übersetzung der "Amerika"-Bücher ins Deutsche anschließt. "Im Schatten von morgen" (1935) wurde seinerzeit ein Bestseller, geschätzt für seine Hellsichtigkeit und Schärfe. "Ist die Welt weiser geworden?", fragte Huizinga und reflektierte kulturelle Phänomene im weiten Resonanzraum der Geschichte: zeitgemäße Moden der Theorie (Schmitt, Spengler) ebenso wie Kino, Roman, Reklame, Aviatik. Sein Urteil über die gegenwärtige Kultur bleibt zwiespältig. Im allmählichen Sich-Vorantasten bestand gerade die Stärke seines Denkens, dessen Tiefe und Originalität an Benjamin, Plessner und Kracauer erinnert. "Verratene Welt" entstand 1943, als Huizinga - nach seiner Haft im Geisellager St. Michielsgestel - bereits unter strengen Auflagen in der Nähe von Arnheim lebte, ohne Zugang zur Universität und zu seiner Privatbibliothek. Die Verbreitung seiner Werke war seit 1943 verboten, weshalb das Buch erst 1945, nach Kriegsende, aber auch nach Huizingas Tod, herausgegeben wurde.
Autorenporträt
Johan Huizinga (1872-1945) war Professor für Geschichte an den Universitäten Groningen und Leiden und ein bedeutender niederländischer Kulturhistoriker, u.a. Verfasser des Herbst des Mittelalters und Homo ludens, die zu zeitlosen Klassikern geworden sind.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Thomas Thiel freut sich, dass Johan Huizingas späte "Kultur- und zeitkritische Schriften" nun in einer kommentierten Neuübersetzung vorliegen. Der Kritiker bewundert die Weitsicht des niederländischen Kunsthistorikers, der in den zwischen 1935 und 1943 verfassten Schriften "Verratene Welt" und "Im Schatten von morgen" den Kulturverfall analysiert und nach Möglichkeiten der Erneuerung sucht (Huizinga starb drei Monat vor Ende des Zweiten Weltkriegs starb, während dessen er lange als Widerstandskämpfer inhaftiert war). Interessiert liest Thiel, eine vollkommen animalische Zivilisation beschreibt, der metaphysische beziehungsweise christliche Werte abhanden gekommen sind. Während dem Kritiker Huizingas Forderung nach einer Rückkehr zu "weltlicher Askese" zwecks Rehabilitierung verbindlicher Werte ein wenig verhalten erscheint, folgt er aufmerksam und anerkennend seinem Vorschlag zur föderativen Neuordnung Europas, der die Europäische Union vorwegnimmt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2015

Die Welt in der Zerreißprobe
Ein Band mit zwei späten kulturkritischen Schriften Johan Huizingas

In Vorahnung und Erfahrung des Zweiten Weltkriegs zieht der große niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga zwischen 1935 und 1943 in zwei zeitkritischen Schriften Bilanz. Es sind dunkle Texte, die Kulturkritik mit Kulturgeschichte verschränken. Die erste Schrift, "Verratene Welt", ist eine Analyse des Kulturverfalls. Die zweite, "Im Schatten von morgen", fragt auch nach Möglichkeiten der Erneuerung, wirkt jedoch unentschlossen in ihrem schließlich abgebrochenen Versuch, die Kulturkrise historisch herzuleiten und im Vergleich zu anderen Krisenepochen einzuordnen.

Man muss sich vor Augen halten, dass beide Schriften im Unwissen über den Kriegsausgang geschrieben sind. Huizinga, der in seinen Hauptwerken "Herbst des Mittelalters" und "Homo ludens" die öffnenden, künstlerischen Kulturkräfte hervorgehoben und das Schöpferische gerade im Verfall gesucht hatte, zeichnet das Bild einer rein animalischen Zivilisation. Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" übt dabei zwar eine gewisse Faszination aus, wird wegen seiner romantischen Heldenverehrung aber letztlich deutlich zurückgewiesen.

Für beide Texte, die jetzt zusammen in einer kommentierten deutschen Neuübersetzung vorliegen, fand Huizinga nur schwer einen Verleger. Er leistete als Direktor der Universität Leiden früh Widerstand gegen den Nationalsozialismus, wurde mit Lehr- und Publikationsverbot belegt, weil er - schon 1933 - einem fanatischen nationalsozialistischen Propagandisten Hausverbot erteilt hatte. 1942 kam er für knapp drei Monate in das Geisellager St. Michielsgestel, wurde aber bald wieder freigelassen. Das NS-Regime wollte seinen Tod im Lager vermeiden. Er verstarb drei Monate vor Kriegsende.

Huizinga wurde nicht erst über nationalsozialistische Machtergreifung und Krieg zum Kulturkritiker. Mit "Mensch und Masse in Amerika" hatte er schon 1918 sein zeitkritisches Debüt vorgelegt. Die Kriegserfahrung verschärft aber seinen Ton. Huizinga schreibt im Duktus unerbittlicher Konsequenz, er schließt nicht aus Beobachtung und Detail, sondern aus dem Begriff. Über allem steht der metaphysische Wahrheitsanspruch. Die Wurzel des Übels ist die Aufkündigung christlicher Werte, das "dümmste, was dem menschlichen Gehirn je entsprungen ist". Der weltanschaulich sterile Fortschritt der Wissenschaften könne den Glaubensverlust nicht kompensieren, sondern erzeuge ein Gefühl von Schwindel. Huizingas Herkunft aus einer mennonitischen Predigerfamilie ist überdeutlich.

So hilflos seine Forderung nach einer Begrenzung des abstrakten Wissens wirkt, ist sie doch nicht ignorant gegenüber der modernen Naturwissenschaft. Seine Kritik am Glaubensverlust ist einer religiösen Indifferenz überlegen, die sich heute im ängstlichen Zurückweichen vor selbstgewissen religiösen Ansprüchen niederschlägt, die sich auf nicht weiter begründungspflichtige Gefühle berufen. Kategorisch gerät sein Urteil über die moderne Kunst, die er nach der Absage an die Metaphysik in einen irrationalen Lebenskult und leere Abstraktion versunken sieht. Die Verwirrung beginne bereits mit der Romantik, nach 1910 ist für ihn mehr oder weniger alles verloren. Wertrelativismus steht für ihn auch an der Quelle von Nationalismus und Militarismus. Momente der Hoffnung, geknüpft an die Rückkehr zu verbindlichen Werten, sind nur angedeutet.

Die zweite Schrift "Verratene Welt" geht nicht nur historisch weiter zurück, sie blickt auch mit verhaltener Skepsis nach vorn. In den Mitteln beschränkt sie sich auf Ratschläge zu weltlicher Askese. Die Menschen "werden sich erinnern müssen, dass der Mensch wollen kann, kein Raubtier zu sein". Konkret wird Huizinga im Politischen. Sein Vorschlag zur föderativen Neuordnung Europas nimmt nicht nur ideell die Europäische Union vorweg. Er entwirft auch ein elastisches Funktionsprinzip, das wie eine höhere Anleitung für aktuelle Zerreißproben erscheint: Europa "als ein dehnbares Band, dem es nicht schadet, wenn nötig bis an die Grenze seiner Elastizität angespannt zu werden und danach wieder zu dem gewöhnlichen lockeren Grad des Zusammenhalts zurückzukehren". THOMAS THIEL

Johan Huizinga: "Kultur- und zeitkritische Schriften". Aus dem Niederländischen von Annette Wunschel. Hrsg. und mit einem Nachwort von Thomas Macho. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014. 305 S., geb., 39,90 [Euro].

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