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Die erste umfassende Biographie der Familie Wagner
Seit über einem Jahrhundert und von zwei Weltkriegen, der Nazidiktatur und der Besatzungszeit ungebrochen herrschen die Wagners über die Bayreuther Festspiele, hatten viele der größten und der gespenstischsten Gestalten aus Kunst und Politik zu Gast und bekämpfen einander wie die Recken in den Musikdramen, die sie in Szene setzen. Der ausgewiesene Wagner-Kenner Carr legt die erste umfassende Biographie der Familie Wagner vor, beginnend mit Richard Wagners Geburt 1813 und endend mit der bevorstehenden Entscheidung über Wolfgang Wagners…mehr

Produktbeschreibung
Die erste umfassende Biographie der Familie Wagner

Seit über einem Jahrhundert und von zwei Weltkriegen, der Nazidiktatur und der Besatzungszeit ungebrochen herrschen die Wagners über die Bayreuther Festspiele, hatten viele der größten und der gespenstischsten Gestalten aus Kunst und Politik zu Gast und bekämpfen einander wie die Recken in den Musikdramen, die sie in Szene setzen. Der ausgewiesene Wagner-Kenner Carr legt die erste umfassende Biographie der Familie Wagner vor, beginnend mit Richard Wagners Geburt 1813 und endend mit der bevorstehenden Entscheidung über Wolfgang Wagners Nachfolge in Bayreuth. An keiner deutschen Familie kann man so kontinuierlich und so spektakulär Zeitgeschichte ablesen.
Autorenporträt
Jonathan Carr wurde 1942 in Berkhamsted bei London geboren. Mehr als drei Jahrzehnte war er Auslandskorrespondent der Financial Times, deren Büroleiter in Frankfurt und Bonn er später wurde. Für seine Reportagen aus Deutschland bekam er mehrere Preise. 1985 veröffentlichte er seine anerkannte und erfolgreiche Biografie von Helmut Schmidt. Es folgte unter anderem 1997 eine ebenso gelobte Biografie von Gustav Mahler. Als Wagner-Kenner und -Liebhaber besuchte er seit 1970 regelmäßig Bayreuth. Jonathan Carr verstarb im Juni 2008.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2008

Von der Krankheit, ein Wagner zu sein
Jonathan Carrs Familienbiographie über die Nachkommenschaft Richard Wagners ist grandios

Man kennt, so scheint es, alles über Richard Wagner, der sich stolz und vielleicht auch erschrocken als "den deutschesten aller Deutschen" bezeichnete. Kennt seine Träume, seine Tränen, seine Lieben und Leiden, Pläne und Pleiten. Kennt den Schwärmer und den Schwätzer, den in der Liebe wie in der Freundschaft treulosen Opportunisten und den heißhungrigen Erotomanen, den von Visionen erfüllten Schwärmer und den von Weltekel geplagten mürben Melancholiker, den luxusbedürftigen Revolutionär und das Pumpgenie, den Prediger der Zukunftsmusik und den selbsternannten "Plenipotentarius des Untergangs". Ist Richard Wagner, so fragte der vom Freund zum erbitterten Gegner gewordene Friedrich Nietzsche, "überhaupt ein Mensch, ist er nicht eher eine Krankheit"?

War er womöglich eine ansteckende Krankheit? Gar eine Erbkrankheit? Dies ist der Leitfaden der Familien- und Gesellschaftsbiographie, die der britische Journalist Jonathan Carr auf knapp 500 Seiten vorgelegt hat. Es gibt etliche Familienromane, die vom Geist, vom Glanz und vom Untergang einer Epoche erzählen, so wie John Galsworthys "Forsythe Saga" oder Thomas Manns "Die Buddenbrooks". Doch gibt es keine Familiensaga, in der sich die deutsche Geschichte der letzten 150 Jahre auf so faszinierende Weise spiegelt wie in der Geschichte der Wagners - einer Familie, in der sich, über vier Generationen hinweg, die immer gleichen kulturellen und psychischen Konstellationen auf vexatorische Weise wiederholen: Liebesverrat und gebrochene Ehen, dreister Betrug und Vernichtung belastender Dokumente, ökonomischer Opportunismus, politisches Mitläufertum.

Der Seelenzauber von Wagners Musik hat Jonathan Carr immer wieder nach Bayreuth gelockt. Er, der politische Journalist, lässt in jedem der 19 Kapitel erkennen, wie bewusst ihm ist, dass diese Passion dem höchst Verdächtigen gilt: der Faszination eines fragwürdigen Charakters, der Zweideutigkeit eines berückenden, auf fatale Weise auch berauschenden Werkes.

Über die opiatische Wirkung der Musik verliert Carr wenig Worte - sie ist als Fakt vorausgesetzt. Seine Studie ist jedoch alles andere als billige Bloßstellung mit den Mitteln biographischer Bescheidwisserei. Es gelingt ihm, den Bayreuther Kultur-Imperialismus, den Antisemitismus und den Wirtschaftswunder-Neubeginn nach 1951 als Spiegel der deutschen Mentalitätsgeschichte zu beschreiben. Die Saga beginnt mit Liebesverrat und Ehebruch. Cosima, illegitime Tochter von Franz Liszt und der Gräfin Marie d'Agoult, verheiratet mit dem Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow, wird die Geliebte Wagners. Beider Kind, Isolde mit Namen, wird auf den Namen Bülow getauft und Jahrzehnte später dann ausgebootet - Leit- (und Leid-)Motiv für alle kommenden Generationen in ihren erbitterten Erbfolgekämpfen um den Heiligen Stuhl auf dem Grünen Hügel.

Carr beschreibt das Janusgesicht des "größten Talents aller Kunstgeschichte" (Thomas Mann über Wagner), eines faszinierenden Monstrums und schäbigen Charakters, treulos gegenüber seinen Gönnern, demagogisch zeitgemäß in seiner verhängnisvollen Schandschrift "Das Judenthum in der Musik", opportunistisch in seiner politischen Anpassungsfähigkeit. Er zeigt, wie Frau Cosima, ihre Kraft aus wollüstigem Leiden beziehend, den Bayreuther Festspielen Kontinuität zu sichern versteht und sich zur hohen Frau stilisiert. Und sie beobachtet das immer häufigere Auftauchen eines "Killerwals": des Antisemitismus. All dies ist, so scheint es, ad nauseam abgehandelt. Doch erliegt Carr nicht der Versuchung, Wagner einmal mehr als Vorläufer Hitlers hinzustellen. Er beschreibt den wagnerschen Antisemitismus als ein Epochenphänomen und ordnet ihn in den wirtschaftspolitischen Kontext ein. Zeigt, dass das erneuerte Gesetz der Judenemanzipation (1869) die Angst schürte und wie "die Juden" Deutschland, wie der Historiker Heinrich von Treitschke schrieb, "wirtschaftlich im Würgegriff" hielten. Zu den nach der Reichsgründung immer heftiger metastasierenden Ressentiments passt es, wie der Dirigent Hermann Levi und andere jüdische Mitarbeiter Wagners, die im "Schweinestall aller Schweineställe" (Richard Strauss über Bayreuth) dem "Meister" dienten, gedemütigt wurden. Bei der Schilderung selbst kleiner, ridiküler Episoden gelingt dem Autor eine schlüssige Diagnostik: Er zeigt, dass jede der Figuren in einem emphatischen, meist auch fanatischen Sinne Repräsentant der deutschen Identität war, individuell und kollektiv, bis in die feinsten Verästelungen.

Die feinsten? Nein, die gröbsten, die gefährlichsten, die infamsten. Mit kritischer Sympathie zeichnet Carr das Bild eines "Spätentschlossenen", des weithin unterschätzten Siegfried Wagner, der nur einer Rolle nicht gerecht werden konnte: der, die ihm durch seine beiden Vornamen (Siegfried und Helferich) auferlegt war. Und eines der fesselndsten Kapitel ist jenem "Spindoktor" gewidmet, der mit seinem Buch "Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts" den (Un-)Geist der Epoche infizierte: Houston Steward Chamberlain. Cosima betrachtete ihren Schwiegersohn, dessen Schriften von Kaiser Wilhelm wörtlich zitiert wurden, als den höheren Mund der Bayreuther Kunstreligion.

Chamberlain hatte nicht nur entscheidenden Anteil daran, dass Bayreuth zum chauvinistischen Treibhaus wurde. Vielmehr stieg der Brite, dessen antisemitische Hasspredigten millionenfach gedruckt wurden, zum Vorbild für fast alle rassistischen Kampfschreiber des Dritten Reiches auf. Er schrieb jenen berühmten Brief vom 7. Oktober 1923 an den von ihm zum neuen Martin Luther verklärten Hitler, in dem es heißt: "Der Fanatiker erhitzt die Köpfe, Sie erwärmen die Herzen. Sie kennen Goethes Unterscheidung von Gewalt und Gewalt! Es gibt eine Gewalt, die aus Chaos stammt und die zu Chaos hinführt, und es gibt eine Gewalt, deren Wesen es ist, Kosmos zu gestalten."

Aus dem Führer wurde der (platonische) Geliebte Winifreds, die ihn nach dem Tod Siegfrieds zu gern geheiratet hätte, zugleich der gute "Onkel" Wolf für Wieland und Wolfgang. Viel ist zu erfahren über die Manipulationen des intriganten Staatsintendanten Heinz Tietjen, viel auch aus dem großen Korb der schmutzigen Wäsche über die Eifersüchteleien zwischen den Brüdern und Schwestern; über lieblose Mütter und egomanische Väter; über das tragische Schicksal der Richard-Wagner-Tochter Isolde, die auf dem Altar juristischer Formalitäten geopfert wurde; über die Friedelind, die ob ihres Buches "Nacht über Bayreuth" zur "Verräterin" wurde - Episoden, die an den Satz von Karl Kraus erinnern, dass das Wort Familienbande einen Beigeschmack von Wahrheit habe.

Wie bitter dieser Geschmack, das verraten die Kabalen und Kämpfe im neuen Bayreuth nach 1951. Da entwickelt sich, kurz nach dem Neubeginn, der Bruderzwist zwischen Wieland und Wolfgang, der so erbittert ausgefochten wurde wie der zwischen Heinrich und Thomas Mann, wenn auch auf kindisch-kleinkarierte Weise. Carr ist bemüht, die Leistungen Wolfgangs, von der Kritik gern als ein Wagner für die "Armen im Geiste" hingestellt, angemessen zu würdigen: die des tatkräftigen Managers, des gewieften Finanzchefs, des geschickten Diplomaten im Umgang mit Künstlern. Dazu gehört auch Wolfgangs Instinkt, sich nach 1968 auf den Zeitgeist einzustellen und Regisseure wie Götz Friedrich oder Patrice Chéreau zu engagieren, wobei Letzterer mit Pierre Boulez für den erfolgreichsten Skandal der Festspielgeschichte gesorgt hat: für den aus dem Geist der Politik inszenierten "Jahrhundert-Ring" 1976.

Dass Wolfgang Wagner in seiner viele unbequeme Fakten ausklammernden "Lebensakte" meinte, keiner der Enkel, die 1951 das neue Bayreuth übernahmen, habe Grund, in Sack und Asche zu gehen, gehört zu den Schutzbehauptungen, die von Carr widerlegt werden. Offenbar hatte gerade der Ruhm des gleichermaßen genialischen wie egomanischen, jähzornigen, rachsüchtigen Wieland keine weißen Flügel. Carr fällt über die Haltung und Handlungen seiner Protagonisten keine Urteile. Er stellt Fragen, die darauf abzielen, den Leser zum Nachdenken zu veranlassen. Seine Sympathien sind aber erkennbar auf der Seite derer, die auf dem Schlachtfeld der Erbkämpfe geopfert worden sind, weil sie mit Bayreuth nicht umgehen wollten nach der Maxime des heutigen Fafner: "Hier lieg' ich und besitz'." Und so endet er mit einer Paraphrase der Nornen-Frage: "Wie weiter?"

JÜRGEN KESTING

Jonathan Carr: "Der Wagner-Clan. Geschichte einer deutschen Familie". Hoffmann und Campe, 496 Seiten, 25 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.07.2008

Ich weiß ein wildes Geschlecht
Am Freitag ist wieder Premiere in Bayreuth. Es ist ein deutscher Fortsetzungsroman: Jonathan Carr erzählt die Geschichte des Wagner-Clans
Am 22. Oktober 1927 frühstückt Harry Graf Kessler, der „rote Graf”, bei Elisabeth Förster-Nietzsche. Und sie hat ihm etwas zu erzählen. Sie habe sich „mit Bayreuth ganz ausgesöhnt. Im vorigen Jahr, während der Festspiele hier für Siegfried Wagner, habe zuerst die Gräfin Gravina (Blandine, Tochter aus der ersten Ehe Cosima Wagners mit Hans von Bülow) vorgefühlt und dann die ganze Familie Wagner bei ihr Besuch gemacht; sie habe für sie ein Frühstück gegeben, und bei diesem sei die Versöhnung dann feierlich besiegelt worden, indem sich alle um den Tisch herum die Hände gegeben hätten und sie die ,Sternenfreundschaft‘ ihres Bruders vorgelesen habe.” Und Kessler kommentiert: „So klingt die große, welterschütternde Fehde Richard Wagner – Nietzsche, der ,Fall Wagner‘, am Kaffeetisch aus, niedlich und ganz im Stil der beiderseitigen Epigonen. Damit auch die Hofatmosphäre, die für Bayreuth so bezeichnend ist, nicht fehle, hat die ,Fürstin von Albanien‘ der Szene beigewohnt und gerührt von der Versöhnung Kenntnis genommen.”
Das ist Wagner und seine Wirkungsgeschichte. Ein Werk von ungeheurer Bedeutung – welcher andere Komponist hätte eine Reaktion auf dem Niveau Nietzsches hervorgerufen? – und seine Nachverhandlung an der Kaffeetafel. Bei der Gemütlichkeit bleibt es nicht. Die Leute, die sich da bei der Hand fassen, sind schon dabei, Wagner und Bayreuth (und Nietzsche natürlich auch) an Hitler auszuliefern.
Und doch darf man sich das Bayreuth dieser Jahre nicht bloß als die Ruine einer großen Idee vorstellen. Für die Neuinszenierung des „Tannhäuser” 1930 wird Arturo Toscanini eingeladen. Und Toscanini, der prominenteste und bestbezahlte Dirigent dieser Jahre, ein Mann der glauben durfte – und so wurde es auch von Dritten gesehen –, es seien die Festspiele, die ihm zu danken hätten und nicht er ihnen: Toscanini verzichtete auf jede Gage aus Respekt vor dem Ort und seiner Tradition.
Waisen in trübgrünem Meer
Das Interesse, das Bayreuth und der Familie Wagner bis heute entgegengebracht wird, hat also Gründe. Die Momente des Fortsetzungsromans gehören sicher dazu, aber da ist vor allem der Eindruck, hier verdichte sich die Geschichte der deutschen Kultur. Was Charles de Gaulle in der Zwischenkriegszeit über Deutschland sagt, „ein erhabenes und zugleich trübgrünes Meer, dem des Fischers Netz wahllos Ungeheuer und Schätze enthebt”, das gilt auch von Wagner und seiner Familie. Jonathan Carr, der de Gaulle zitiert, hat das zum leitenden Gedanken seines Buches über die Familie Wagner gemacht. Carr, langjähriger Deutschland-Korrespondent der Financial Times und Biograph auch von Helmut Schmidt und Gustav Mahler, ist vor wenigen Wochen mit 66 Jahren gestorben.
Was ein Buch wie „Der Wagner-Clan” rechtfertigt, ist nicht allein die krude Tatsache, dass die Bayreuther Festspiele, lange Zeit eine ideologische Großanlage Deutschlands, in dritter und bald wohl in vierter Generation von Mitgliedern der Familie Wagner geführt werden. Noch interessanter ist, in welcher Weise die einzelnen Wagners durch die Familie, deren Unglücke und Pathologien, bestimmt sind. Es beginnt schon mit dem Stifter der kleinen Dynastie. Fünf Monate nach der Geburt Richard Wagners stirbt sein Vater, schnell wächst das Gerücht, der Pflegevater Ludwig Geyer sei auch der physische. Elternlosigkeit, Heimatlosigkeit, das wird ein Grundgefühl nahezu aller Wagnerschen Hauptpersonen. Senta und der Fliegende Holländer, Elisabeth und Tannhäuser, Elsa und Lohengrin, Tristan, Eva (in den „Meistersingern"), Siegmund, Sieglinde und Siegfried (im „Ring”), Parsifal – sie alle sind Waisen, Halbwaisen oder Figuren, die aus dem Nichts kommen, ortlos, heimatlos, bereit, alles aufzugeben.
Das erlebt auch Cosima, uneheliche Tochter des Franz Liszt und der Gräfin d’Agoult. Ihre Eltern trennen sich, führen einen hasserfüllten Kampf um die Kinder, setzen dabei Geld ein und einige Sorgfalt, sind aber von entschiedener Lieblosigkeit. Cosima – der Oliver Hilmes im vergangenen Jahr eine eigene Biographie widmete – ist eine soziale Waise, das kann eine Erklärung sein für ihre überspannte Demut Richard Wagner gegenüber. Das Schicksal setzt sich in Richards und Cosimas Kindern auf verdrehte Weise fort. Als Richard Wagner 1883 stirbt, werden die Töchter ganz auf die Zukunft ihres Bruders Siegfried, des einziges Sohnes, verpflichtet. Auf ihn ergießt sich die Fürsorge der Muter und der drei Schwestern, wie soll er darunter je hervorkriechen?
Es ist erstaunlich, wie positiv Carr Siegfried Wagner beurteilt. Dass er ein umgänglicher Mensch war, wird oft berichtet. Als Komponist zahlreicher Opern (vor allem mit märchenhaften Zügen) blieb er immer in der zweiten Reihe, Carr taxiert ihren Kunstwert deutlich höher, als es üblicherweise geschieht. Vor allem aber glaubt er nicht, dass es Siegfried war, der Hitler den Weg nach Bayreuth gebahnt habe. Bemerkenswerte Briefe sprechen für diese Sicht. Es gibt aber auch Zeugnisse, die dem entgegenstehen; Brigitte Hamann in ihrer Biographie Winifreds, der Ehefrau Siegfrieds, breitet sie aus.
Auch die ganz unintellektuelle Atmosphäre in der Familie Siegfrieds und Winifreds – kaum anders als auf einem hinterpommerschen Gutshof, wie es hieß – ließe sich schärfer beleuchten. Mit Winifred hat man dafür gleich eine weitere Figur, die die Familiengeschichte der Wagners so interessant macht. Wieder eine Waise, aufgezogen von dem damals schon sehr alten Pianisten Karl Klindworth und seiner Frau; ihre Kindheit bei den Klindworths ist voller Liebe und Verständnis, dabei wagnerdurchglüht und lebensreformerisch. Während des Ersten Weltkriegs heiratet sie Siegfried, gebiert in rascher Folge vier Kinder und setzt damit die Dynastie fort. Nach dem Tod ihres Mannes 1930 nimmt sie die Festspiele in die Hand, übersteht die Anfeindungen ihrer Schwägerinnen – allesamt in ihrem Leben unglücklich – und richtet sich und die Festspiele ganz auf Adolf Hitler aus.
Es ist ein gewaltiger Stoff, den Carr auf knapp 500 Seiten zu bewältigen hat. Und natürlich ist das moralische Scheitern Bayreuths im Nationalsozialismus eine leitende Frage. Der Erste, dem man sie stellen muss, ist Richard Wagner. Wie steht es mit dessen Antisemitismus? Carr hat die reiche Literatur zur Sache studiert, geht geistig hin und her und kommt zuletzt zu einer freundlichen, aber gut begründeten Antwort. Die antisemtischen Ausfälle sind bekannt, sie sind ekelhaft, aber Wagner habe sich ähnlich auch über Nichtjuden geäußert. Haben Judenkarikaturen Eingang in die Musikdramen gefunden? Die Spur, die Adorno fand oder legte, scheint Carr nicht überzeugend. „Wenn Wagner eine klare Rassenbotschaft überbringen wollte, ist ihm das nicht sehr gelungen.” Auch hier sieht Carr „Wagners Rundum-Ambivalenz in der ganzen Frage”.
Hitlers Spezialgeschmack
Was ganz dazu passt: Hitler war Wagnerianer, aber auf seine Parteigenossen machte er damit wenig Eindruck. Nicht bloß die „alten Kämpfer”, die hochgespülten Schlägertypen, konnte man mit Wagner nicht von der Bierbank hochreißen. Auch die gut ausgebildeten, kulturbeflissenen jungen Männer der SS hielten Wagner für überlebt, schwülstig, für den persönlichen Sparren des „Führers”. Carr fällt auf, wie wenig Hitler über Wagner sprach. Als Kronzeugen seines Antisemitismus benutzte er ihn nicht. Und dabei war Bayreuth doch ein Treibhaus des Rassendenkens, Houston Stewart Chamberlain (wieder ein Waise) mit der Wagner-Tochter Eva verheiratet.
Dass Bayreuth 1945 politisch-moralisch kontaminiert war, das war auch den Söhnen Winifreds klar, als sie nach dem Krieg sich um einen Neubeginn bemühten. Es ist die nächste Generation familiären Unglücks. Zwist zwischen den Brüder Wieland und Wolfgang, Eheprobleme, Spannungen überall. Und wieder findet man bei Carr Szenen, die die seelische Verfassung Deutschlands in einem wagnerianischen Bild zeigen. Die scharfe Modernisierung etwa, die Wieland Wagner in der Villa Wahnfried vornahm: halb Verarbeitung des Geschehenen, halb Verdrängung.
Ganz neu ist in diesem Buch wenig. Der Autor hat sich im Wesentlichen an die bekannte Literatur gehalten, Archivfunde sind Ausnahmen. Das Cosima-Bild ist stark nach den Studien von Franz-Wilhelm Beidler modelliert, das des Nachkriegs-Bayreuth durch Renate Schostacks „Hinter Wahnfrieds Mauern” bestimmt. „Der Wagner-Clan”, das muss man sich vergegenwärtigen, heißt mit genauem Grund so, es ist nicht die Geschichte Bayreuths, so sehr sich die Sphären der Familien und der Festspiele berühren.
Aber das sind keine Einwände. Jonathan Carr hat ein ganz ungewöhnlich interessantes Buch geschrieben, mit all den Vorzügen, die man Biographien britischer Autoren gern und oft zu Recht unterstellt. Carr schreibt zügig, genau, witzig, und er hat – was vielleicht das Schönste ist – einen unbefangenen Blick. Er verharmlost nichts, aber er eifert auch nicht. Er erzählt von einer Familie, deren Mitglieder über mehr als 150 Jahre eine bestimmende Rolle im künstlerischen Leben Deutschlands gespielt haben, durch Abkunft privilegiert, aber mehr noch belastet. Sich davon durch Carr erzählen zu lassen ist eine Freude. Kein Vergnügen aber ist es offenbar, ein oder eine Wagner zu sein. STEPHAN SPEICHER
JONATHAN CARR: Der Wagner-Clan. Geschichte einer deutschen Familie. Aus dem Englischen von Hermann Kusterer. Hoffmann und Campe, Hamburg 2008. 496 Seiten, 25 Euro.
Siegfried und Winifred Wagner mit den Kindern im Garten der Villa Wahnfried in Bayreuth, um 1925. Foto: bridgmanart.com
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Selten haben sich die beinahe zwei Jahrhunderte dieser schillernden Dynastie so pointiert, detailliert und weitgehend vorurteilsfrei gelesen, feiert Rezensent Wolfram Goertz die Familienbiografie, die der britische Jornalist Jonathan Carr über den Wagner Clan geschrieben hat. Der Titel assoziiere amerikanische Seifenopern ebenso wie antike Tragödien und das Buch habe Züge von beidem. Vor allem aber besticht es den Rezensenten durch das "dichte Netz überzeitlicher Parallelen", in das Carr seine Recherchen verwebt, was Goertz zu den journalistischen Glanzleistungen dieses Autors zählt. Auch die Trockenheit, mit der Carr aus Sicht des Rezensenten einigen angeheirateten Monstren des Clans, wie dem britischen Parade-Antisemiten Houston Chamberlain beikommt, beeindruckt den Rezensenten sehr. Ebenso die Souveränität, mit der Carr allzu simple Parallelen zwischen Richard Wagners ideologischem Kosmos und dem Adolf Hitlers von sich weist. Zu all dem Überfluss, den dieses Buch Wagnerfans und auch solchen, die es "partout nicht werden" wollten, aus Rezensentensicht zu bieten hat, kommt noch hinzu, dass es seine Leser virtuos zu unterhalten verstehe, wobei auf der "Flamme der Spottlust" manche Figur wohl eine Spur zu knusprig geriet.

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