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Die Geschwister Karol und Kandis leben zusammen in Wolfratshausen. Sie erforschen die Umgebung nach den Spuren von D.H. Lawrence und Frieda von Richthofen, Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé. Auch die ehemaligen Dynamit-Werke erregen ihr Interesse. Karol arbeitet als Flugbegleiter bei der Lufthansa. In seiner Freizeit widmet er sich Resignifizierungen der Musik: wenn leichtverständlicher Swing zu schwierigem Bebop umkodiert wird oder Disco als House Music erneut in den Underground abtaucht. Karol gerät in den süßen Bann der Queer Music und der Ästhetik des Camp, die er mit seinen…mehr

Produktbeschreibung
Die Geschwister Karol und Kandis leben zusammen in Wolfratshausen. Sie erforschen die Umgebung nach den Spuren von D.H. Lawrence und Frieda von Richthofen, Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé. Auch die ehemaligen Dynamit-Werke erregen ihr Interesse.
Karol arbeitet als Flugbegleiter bei der Lufthansa. In seiner Freizeit widmet er sich Resignifizierungen der Musik: wenn leichtverständlicher Swing zu schwierigem Bebop umkodiert wird oder Disco als House Music erneut in den Underground abtaucht. Karol gerät in den süßen Bann der Queer Music und der Ästhetik des Camp, die er mit seinen Kolleginnen und Kollegen in diversen Hotelzimmern der Welt auslotet. Seine heterosexuelle Orientierung erkennt er dabei gleichsam als das Andere der Homosexualität.
Kandis ist Schriftstellerin, zieht sich hin und wieder in eine Almhütte zurück und beschäftigt sich mit historischen Ansätzen zu Weiblichem Schreiben. Die Figuren ihres gerade entstehenden Romans, König Ludwig I. von Bayern, König Ludwig II. von Bayern, Lola Montez, Claudia Schiffer und viele andere mehr, wollen am selben Tag wie sie Geburtstag haben. Der Tag ist gleichzeitig der Todestag von Friedrich Nietzsche und Aaliyah. In wachsender überschneidung ihrer Themen tauschen sich Karol und Kandis aus und landen dabei unweigerlich bei der Frage: Was ist eigentlich ein Mann?
Autorenporträt
Thomas Meinecke wurde 1955 in Hamburg geboren, lebte ab 1977 in München und zog 1994 in ein oberbayrisches Dorf. Von 1978 bis 1986 war er Mitherausgeber und Redakteur der Avantgarde-Zeitschrift Mode & Verzweiflung, in den Achtzigerjahren schrieb er Kolumnen für die ZEIT, ab 1986 veröffentlichte er Erzählungen und zahlreiche Romane, zuletzt den Roman Selbst (2016) im Suhrkamp Verlag. Außerdem war er von 2007 bis 2013 Kolumnist für das Berliner Magazin Groove. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Düsseldorfer Literaturpreis (2003) und dem Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst (2008). Im Wintersemester 2012 hatte er die Poetikdozentur an der Goethe-Universität Frankfurt inne, 2014 war er Writer in Residence an der Queen Mary University in London, 2016 Fellow am IFK in Wien und 2020 wurde er mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnet. Die Frankfurter Vorlesungsreihe mit dem Titel Ich als Text ist anschließend in der edition suhrkamp erschienen. Thomas Meinecke ist außerdem Musiker und Texter in der 1980 von ihm mitgegründeten Band Freiwillige Selbstkontrolle (FSK), Radio-DJ in seiner Sendung Zündfunk Nachtmix (BR 2) und hat auch als Solokünstler Platten aufgenommen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Nietzsches Soul
Thomas Meineckes Geschlechtersound / Von Edo Reents

Am 25. August 1900 ist Friedrich Nietzsche gestorben, am 25. August 2000 Jack Nitzsche. Guter Witz, was? Stimmt aber. Was hat der Philosoph mit dem Rockmusiker zu tun, der nur noch einem älteren Publikum bekannt sein dürfte? Die Musik natürlich! Geburtstag haben an einem 25. August: Ludwig I., König von Bayern, Lola Montez, Ludwig II., König von Bayern, Leonard Bernstein sowie Claudia Schiffer. Auch hier hat der eine mit dem anderen das eine oder andere zu tun. Nur was? Aber schon die Frage nach Zusammenhängen ist falsch. Fragen wir lieber so: Was hätte Thomas Meinecke gemacht, wenn er nicht selber auch an einem 25. August geboren worden wäre, sondern, beispielsweise, an einem 26. September, zusammen mit Heidegger, T. S. Eliot, George Gershwin, Bryan Ferry, Olivia Newton-John, Karl Heinz Bohrer, Peter Turrini und Michael Ballack? Das wäre ja noch schöner gewesen!

Aber auch so reicht es: "Musik", Meineckes ambitioniertes neues Buch, handelt, wovon im Titel die Rede ist, preßt aber der avancierten Form eine im Grunde altmodische Frage ab: die nach der allmählichen Verfertigung von Gedanken, postmodern und poststrukturalistisch gesagt: von Text. Daß es dabei hauptsächlich um moderne gender studies geht, weitet den Horizont über die klassische Epoche hinaus: Kleist hatte keinen Anlaß, über den Unterschied zwischen biologischem und sozialem Geschlecht nachzudenken. Meinecke läßt seine Helden so tun, als glaubten sie gar nicht an ein biologisches Geschlecht - zu irgend etwas muß die Lektüre von Judith Butler und Silvia Bovenschen ja führen. Der Autor als manischer Leser: das ist Meineckes Lesern eine vertraute und meistens auch angenehme Vorstellung, ein Ideal geradezu. Meinecke sprengt es recht gewalttätig. Was in seinen Text, den man nicht zwingend einen Roman nennen muß - aber was er sonst ist, läßt sich auch schwer sagen -, eingeht, geht gewissermaßen auf keine Kuhhaut. Meinecke, der wirklich ein manischer Leser ist, scannt alles ein und bringt es trotzdem fertig, daß seine beiden Protagonisten unter der Last nicht zusammenbrechen.

Die so gut wie handlungsfreie Geschichte eines in Wolfratshausen beheimateten Geschwisterpaars ist ein raffiniertes Stück Popsoziologie, das sich nicht nacherzählen läßt und vielleicht als hochartifizielle Literarisierung des Kinofilms "Pulp Fiction" durchgehen könnte, wenn nur etwas mehr passierte. Karol verbringt die viele freie Zeit, die er als Flugbegleiter der Lufthansa hat, mit dem Hören von und vor allem dem Nachdenken über schwarze Musik: Jazz / Swing, Rhythm & Blues, Soul, Hip-Hop. Das klingt als Romanplot zugänglicher, als es ist. Hier schreibt kein oberbayerischer Nick Hornby gemütlich über Lieblingsplatten; hier geht es innerhalb eines vermutlich absichtlich aseptisch gehaltenen und extrem weiten, atemraubend kundig und ohne erkennbare Emotion ausgeleuchteten Referenzrahmens zuerst und zuletzt um sexuelle Orientierungen und Identitäten und deren Ausdruck oder Verschleierung in populärer Musik - Meineckes Leib- und-Magen-Thema. Michael Jackson, um aus der Vielzahl eher abgelegener Namen einen bekannten zu nennen, erscheint als ein moderner und nicht weniger tragischer Ludwig II., der wiederum - und hier kommen die beiden Perspektiven annähernd zur Deckung - zum Personal eines historischen Romans gehört, den Karols Schwester Kandis schreibt und in dem die obenerwähnten August-Geburtstagskinder alle vorkommen sollen. Das Ganze ist ein Dauergespräch, mal mit sich selbst, mal im Dialog, immer zu dem Zweck, daß daraus etwas werde, nämlich ein Buch.

Mit virtuoser, zitatlastiger Geschwätzigkeit wird hier an der Auflösung des Unterschieds zwischen "männlich" und "weiblich" gearbeitet, dem die allmähliche Preisgabe der beiden Erzählerperspektiven auf so unaufdringliche wie kunstvolle Weise korrespondiert. Sprechen und Denken sind dabei als Schreibvorgang gekennzeichnet, Satzzeichen werden mitgesprochen: die spontane Verfertigung der Gedanken beim Reden. Aber nicht die macht die Lektüre extrem sperrig. Es sind die Inhaltsstoffe, wahre Ballaststoffe, die Meinecke so großzügig verabreicht, daß Leser mit empfindlichem Magen schnell zuviel kriegen können. Natürlich ist es interessant zu sehen, wie sich Imagefragen durch die Epochen hindurch gleichen, ob zu Zeiten des legendären Filmdarstellers Al Jolson ("The Jazz Singer") oder bei einer jungen Rhythm & Blues-Interpretin wie der, Achtung: am 25. August 2001 tödlich verunglückten Aaliyah - Meinecke erscheint alles bedenkenswert, und er hat ein Gespür für die Bedeutung des scheinbar Oberflächlichen. So bringt er es auch fertig, Nietzsche als einen Wegbereiter wider Willen für den Feminismus auszuweisen. Ob aber D. H. Lawrence, Lou Andreas-Salomé, dekadente Popgruppen wie "Roxy Music" und der deutsche Herbst 1977 auch für weniger spezialisierte Leser unter einen Hut zu bringen sind, das ist die Frage. Vielleicht war es auch gar nicht beabsichtigt? Thomas Meinecke ist zu intelligent, als daß er sich von der Sorge um Anschlußfähigkeit leiten ließe. Leser, die der Popkultur nur ein freundliches, durchschnittlich konsumorientiertes Interesse entgegenbringen, werden das vermutlich bedauern und das Buch vor dessen lässigem Ende aus der Hand legen. Für die informierten Fanatiker gilt: lesen!

Thomas Meinecke: "Musik". Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 370 S., geb., 19,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.10.2004

Wurm im Ohr
Ein Roman mit Theorie-Turbo: Thomas Meineckes „Musik”
Eine Lakritzschnecke ist nicht nur eine Lakritzschnecke. Wenn man genau hinsieht, könnte es auch eine Vinylscheibe sein. Oder etwas anderes. Die Identitäten der Dinge sind halt nicht so eindeutig, will uns das Cover zu Thomas Meineckes neuem Roman „Musik” wohl bildlich sagen, und es wird auf den folgenden 370 Seiten noch viele, viele Male in Worten bekräftigt. Thomas Meinecke schreibt wieder über Pop, und das ist durchaus sehr erfreulich, denn er hat dazu viel zu sagen - jenseits von Generationen beschwörender Verständigungsliteratur oder akademisch fundiertem Rechtfertigungsdiskurs für eigenes Konsumverhalten. Thomas Meinecke hat sich vielmehr schon in seinen Romanen „Tomboy” und „Hellblau” die großen Themen vorgenommen, „Identität” oder „Rasse”, und er tut dies in einer Weise, der sich alles andere unterordnen muss.
Die Protagonisten seines neuen Werkes, die Geschwister Karol und Kandis aus Oberbayern, sind daher auch nicht viel mehr als zwei Seiten einer Medaille, einander angenähert durch fröhliches gender bending. Eine feministische Schriftstellerin, die ihren neuen Roman vorbereitet, und ein offensichtlich akademisch geschulter Flugbegleiter, der als Knabe ihre ausgemusterten Hosen und Hemden aufzutragen hatte. Daher zeigt er heute große Begeisterung für „all die kulturellen Errungenschaften aus dem schwulen Underground”, und zwar so sehr, dass er sich von Kollegen „Dehomosexualisierung einer Subkultur” vorwerfen lassen muss. Karol sammelt Indizien für „Rekontextualisierungen, Umkodierungen und Resignifizierungen in der Geschichte der US-amerikanischen Popmusik”. Jazz versus Pop, Pop versus Rock, blau versus rosa und so weiter.
Und während die beiden Geschwister sich so austauschen, kommen sie sich im Verlauf des Romans sowohl thematisch als auch räumlich immer näher, bis es schließlich - am heimischen Computer durch Websites und Foren streifend - darum geht, wer von den beiden denn nun die selige RnB-Sängerin Aliyah in seine Untersuchung aufnehmen darf. Davor und danach geht es um die „partielle Perversion einer aus männlicher Perspektive postulierten heterosexuellen Polarität” bei D. H. Lawrence oder um Drag Queens „als ambulante Archive der Fraulichkeit”.
Es geht außerdem um das transgressive Potenzial Claudia Schiffers, die Nase Michael Jacksons oder die schwer wiegende Frage, ob der Slogan des Münchner Kaufhauses Beck, wonach weibliche Formen nie aus der Mode kommen, eher dekonstruktivistisch oder als verkappter Essentialismus zu verstehen sei. Nicht immer ist eindeutig zu bestimmen, wo die Komik als solche intendiert war, aber das ist ja auch egal, würde Thomas Meinecke vermutlich dagegen halten, denn er habe ohnehin alles nur arrangiert, die Materie, wie er selbst sagt, „durch sich hindurch fließen lassen”. Wieder so ein Versuch, Gegenwart zu archivieren, einfach aufschreiben, „was ist”.
Doch zugleich will „Musik” erzählte Theorie sein, und davon nicht gerade wenig. Man muss schon tief von diesen Ideen infiziert sein, um an ihrem Defilee so etwas wie Lesefreude zu empfinden. Denn ganz so, wie es die anti-hierarchische Stoßrichtung verlangt, gibt‘s Anfang und Ende hier nur in technischem Sinne, keine Zäsuren, keine Verdichtung. Meinecke will nicht, dass seine Texte „abspritzen”, wie er einmal im Interview sagte. Die Einzelskizzen folgen einander dicht an dicht, wie die Tracks eines DJ-Sets. Das mag als konzeptionelles Vorgehen seinen Reiz haben, und die schiere Menge an Daten, Wissen und Anekdoten sowie die Ernsthaftigkeit, mit der sie präsentiert werden, verdienen hohe Anerkennung. Doch das Ergebnis wirkt pedantisch, die vermeintliche Radikalität eher schulmeisterlich, weil sich Bezüge und Verweise viel zu dicht verweben, um nicht als gekünstelt und übertrieben empfunden zu werden.
Nicht nur, dass man sich an der Nase herum geführt fühlt - die erzählerischen Bestandteile sind schlicht langweilig, und mit jeder Seite, die man umblättert, fällt die Lektüre schwerer. Sie fließen und fließen und fließen, die Bruchstücke, und doch kommt kein rechter Flow zustande. „Musik” gebricht es an Eleganz und Raffinesse, es ist auf seine Art sogar bieder, eher Fleißarbeit und Etude als ein DJ-Set, dessen Groove man sich bereitwillig würde überlassen wollen.
SEBASTIAN HANDKE
THOMAS MEINECKE: Musik. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004. 370 Seiten, 19,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Elke Buhr mag Thomas Meineckes neuen Roman - oder sagen wir mal: Text. Sie mag ihn, wie sie einen Popsong - oder sagen wir mal: Track - mag, wie ein Stück Musik, das Bestandteile anderer Geschichten hernimmt, kombiniert, mal gegeneinanderstellt, mal sanft verfließen lässt. So funktioniert die "Musik" von Thomas Meinecke auch hier, erklärt sie: nicht wie eine Erzählung, sondern wie eine "Textmaschine", wenn die auch gegenüber dem Vorgänger "Hellblau" deutlich weichere Übergänge produziert - die Gedanken und Lektüren der beiden Hauptfiguren Kandis und Karol, Geschwistern, brauchen nicht mehr unbedingt das schroffe Cut-Up der angeordneten Korrespondenzen, und es gibt sogar "ein Minimum an Nahrung für den Human Interest". Es ist, schreibt Buhr, "alles in allem, eine sehr freundliche Textmaschine. Sie liebt die Details und platziert sie sorgsam", lässt die Prosa ihren Weg finden, "von Thema zu Thema, von Fundstelle zu Fundstelle. Zahlenmystik, Namensähnlichkeiten, Koinzidenzen der Wahrnehmung: Das Prinzip ist das einer vollständig säkularisierten, coolen Kabbala." Nein, Meinecke ist nicht müde von all den "Resignifizierungen" der Neunziger, von den Mikropolitiken und dem Zweifel an der geschlossenen Form, der abschließenden Wahrheit, der runden, unkomplizierten Geschichte - und das ist, auch wenn seine Textmaschine so etwas wie "Trauer, Leid, oder auch nur einen ernsthafter Streit zwischen den handelnden, nein, redenden und lesenden und Musik hörenden Personen" nicht erzählen kann, gut so, findet Buhr.

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