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1930 - ein Jahr, in dem Tucholskys Veröffentlichungen das ganze für ihn typische Spektrum umfassen, von "Ich rufe vor 1 noch mal an" über die Verteidigung der Fremdwörter, einer großen Würdigung Jacobsohns bis zu - nun allerdings anders pointierten - Wendriner-Geschichten ("Wir haben da an der Ecke einen sehr netten SA-Mann"). Gegen die sehr sichtbaren Nazis schreibt Tucholsky mit Sarkasmus, Klarsicht und Leidenschaft. Am 22. Januar zieht er offiziell nach Hindas in Schweden.

Produktbeschreibung
1930 - ein Jahr, in dem Tucholskys Veröffentlichungen das ganze für ihn typische Spektrum umfassen, von "Ich rufe vor 1 noch mal an" über die Verteidigung der Fremdwörter, einer großen Würdigung Jacobsohns bis zu - nun allerdings anders pointierten - Wendriner-Geschichten ("Wir haben da an der Ecke einen sehr netten SA-Mann"). Gegen die sehr sichtbaren Nazis schreibt Tucholsky mit Sarkasmus, Klarsicht und Leidenschaft. Am 22. Januar zieht er offiziell nach Hindas in Schweden.
Autorenporträt
Tucholsky, KurtDer am 9. Januar 1890 in Berlin geborene Kurt Tucholsky war einer der bedeutendsten deutschen Satiriker und Gesellschaftskritiker des vorigen Jahrhunderts. Er gewann als radikaler Pazifist und geradezu bestürzend frühzeitiger, prophetischer Warner vor dem militanten deutschen Nationalismus politische Bedeutung. Unter den Pseudonymen Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel und Kaspar Hauser war er fünffacher Mitarbeiter der «Weltbühne», einer Wochenschrift, die er gemeinsam mit Siegfried Jacobsohn und nach dessen Tod mit dem späteren Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky zu einem der aggressivsten und wirksamsten publizistischen Instrumente der Weimarer Republik machte.Nach dem Absturz Deutschlands in die Barbarei nahm er sich am 21. Dezember 1935 in seiner letzten Exilstation Hindås/Schweden das Leben. Er starb im Göteborger Sahlgrenska Sjukhuset. Sein Grab liegt auf dem Friedhof Mariefred-Gripsholm.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2000

Bomben einer Spazierschleiche
Eine Gesamtausgabe erschließt Tucholskys Werke und Briefe

Die Wende, das geschickte Umdenken war seine Sache nicht. Konjunkturelle Einsicht mochte er Metzgern und Politikern zugestehen, nicht aber denen, die über das Wort verfügten. Sie, die Intellektuellen, sah er mit dem "Geist" im Bunde, sie sollten, was sie angestiftet hatten, auch ausbaden. Da war der Moralist unerbittlich und ohne Nachsicht. Noch Walther Rathenau musste sich "schlanke Fingerfertigkeit" vorhalten lassen. Nie wurde dem Demokraten der "Appell" vergeben, mit dem er 1918 für die Fortsetzung des Krieges eingetreten war. Weil er die Meinung, die doch "verpflichten" sollte, der Zeit entsprechend gewechselt hatte, mochte der Kritiker dem belehrten Bürger so wenig trauen wie den "Bolschewistenhorden", die die Macht nur deshalb in Frage stellten, weil sie ihnen selbst zufallen sollte.

Wo die vielen Sicherheit im Vertrauen auf das ideologische Versprechen suchten, musste Tucholsky unentwegt die Realität aufrufen, das Falsche satirisch zuspitzen, bis ihn sogar Walter Benjamin mit der übel gemeinten Nachrede "linker Melancholie" verfolgte. Zu schmerzlich wirkte der Rationalismus auf die Gläubigen; getroffen krümmten sie sich unter einer Kritik, die offen angriff, solange der Gegner aufstand; Woche für Woche, in Hunderten von Artikeln über die Jahre.

Wie viele es tatsächlich waren, ist erst jetzt abzusehen; erst die "Gesamtausgabe", die seit 1996 bei Rowohlt herauskommt, belegt den ganzen Umfang des Werkes. Allein die bisher erschienenen acht Bände umfassen über siebentausend Seiten. Gute 17 000 werden es sein, wenn die Edition mit zweiundzwanzig Büchern - fünfzehn Text-, sechs Brief- und einem Registerband - abgeschlossen vorliegt, voraussichtlich im Jahr 2005. Alles, was in eigenen Büchern sowie in der "Weltbühne", im "Vorwärts", in der "Frankfurter Zeitung", im "Prager Tageblatt", im "Ulk", in der "Freiheit" oder im entlegenen "Pieron" stand, soll dann zusammengetragen sein. Etwa 3200 Texte wird das Register einmal umfassen, tausend Beiträge mehr als die bisherigen Ausgaben anboten, und 250 mehr noch, als die Tucholsky-Bibliografie verzeichnet.

Dass so viel Tucholsky nicht jeder braucht, steht außer Frage; außer Frage steht aber zugleich, dass das vorige Jahrhundert wenige Schriftsteller kannte, bei denen der Philologenfleiß angebrachter wäre. Die zwei Millionen, mit denen die Deutsche Forschungsgemeinschaft das Projekt der "textkritisch überprüften" Darstellung fördert, fließen in die Grundlagenforschung zu einem Autor, dessen gesammelte Schriften wie eine kulturhistorische Erzählung anmuten, wie der endlose Essay zur Epoche. Auf ihn lässt sich beziehen, was Tucholsky selbst sagte, als er über ein vergessenes Buch seiner Zeit schrieb: "darin ist alles: das ganze Deutschland, wie es sich zugrunde gerichtet hat, seine Führer, sein Ressortkrieg, sein nervöses Hin und Her, die Kopflosigkeit und die Weltfremdheit seiner Soldaten und Diplomaten".

Die Herausgeber haben gut daran getan, dieser Verbindung von Kultur und Politik mit der chronologischen Anlage ihrer Ausgabe zu folgen, vom Kaiser über Noske und Kapp, über den Film und die Revue, über Fallada und Benn bis zu den Tauentziengirls, der Syphilis, Hitler nicht zuletzt. Bekanntes mischt sich mit Unbekanntem, Vergessenes kommt vielfach zur Sprache. Das Wesentliche wird oftmals am Rande, im flüchtigen Ereignis des Tages entdeckt: ob der Autor 1919 die öffentliche Entrüstung über ein pornografisches Privattheater in der Berliner "Motzstraße 38" verspottet oder ob er von der Hinrichtung eines unbekannten Raubmörders vor geladenem Publikum erzählt, um bei nächster Gelegenheit, 1920 bereits, festzustellen, dass die Regierung nur noch regiert, "weil die Leute zu müde sind, sie davonzujagen".

Auffälliger als die großen Sammlungen der Vergangenheit - "Das Lächeln der Mona Lisa", "Ein Pyrenäenbuch" oder "Mit 5 PS" - zeigt die Zusammenstellung in der zeitlichen Folge seiner publizistischen Entstehung, dass Tucholsky zuerst und in allen Gattungen Journalist gewesen ist; ein Journalist freilich, der es verstand, das Ereignis als Geschichte zu gestalten, ohne dabei Wahrheit und Wirklichkeit preiszugeben. Gegenwärtig blieb das Zeitgeschehen, der literarisch anregende Anlass. Auch auf "Schloss Gripsholm" wissen die Freunde immer, dass sie bestenfalls für Tage entkommen sind. Ihr ironisches Spiel mit der Heiterkeit verdrängt die Gegenwart, die sie kenntlich macht, die späte Dämmerung glücklicher Zeit, die Jahre 1930/31.

Der Kritiker konnte sich nie verleugnen, überall, bis in die kleinste Rezension, wollte der Publizist mitreden. Die Pointen, die er setzte, waren stets Mittel, nie Zweck der Darstellung. Bomben, keine Knallerbsen sollten die Beiträge sein. Witze, die nichts kosten, hat Kurt Tucholsky nie gerissen. Die Sprache war eine Waffe, die es zu schärfen galt. Gleichsam aufklärerisch wurden Form und Inhalt aufeinander bezogen. Unversehens ergab sich der eingreifende Gestus eines Schreibens, das wie von selbst abbrach, als die "Erziehung des Menschengeschlechts" endgültig gescheitert schien.

Unerfüllt blieb zum Ende im Exil die Hoffnung, sich trotz allem als Schriftsteller wieder finden zu können. Jenseits der Republik, dem Freiraum vernünftiger Diskussion, gab es für den Gegner aller Ideologien keine Seite, auf die er sich hätte schlagen können. An die Stelle des Engagements rückte der Zweifel, etwas, von dem der Journalist glaubte, dass es nicht an die Öffentlichkeit gehöre. Die Briefe, die der Emigrant, der "aufgehörte Schriftsteller", die "Spazierschleiche", aus der schwedischen Provinz bis zuletzt an wenige Freunde schickte, zeigen den Stadtmenschen auf dem Rückzug aus der Literatur. Sie sind der Text eines tragischen Nachspiels, in dem der Schriftsteller selbst als die Figur einer Geschichte auftritt, gegen die er nach eigenem Urteil zu wenig vermochte.

Dass sie die literarhistorische, die biografische Bedeutung dieses Ausgangs erkennt, dass sie die Briefe in erreichbarer Vollständigkeit einbezieht, zählt zu den besonderen Verdiensten der Edition. In kurzen Abständen, von Woche zu Woche, von Tag zu Tag mitunter, gibt die Korrespondenz Auskunft über das Leben mit einer Krankheit, in der der Patient zu gern die Ursache seines Verstummens gesehen hätte. Doch die Verstopfung der Nase, mittlerweile ein bekanntes Symptom psychischen Leidens, diese "Wand von Schleim", hinter der er im Exil existierte, war durch keine Operation niederzureißen. Immer wieder verschloss sich die Stirnhöhle, und als dann durch größere Eingriffe endlich einmal Raum geschaffen war, drängten andere Krankheiten nach; mit Verweigerung reagierten Magen und Darm. Der Körper, scheint es, ertrug das Leben gegen die Natur, das Schweigen des Publizisten, nicht länger. Sein Rückzug war ein Selbstmord auf Raten. Wie ein Akt letzter Auflehnung beschloss der Freitod am 21. Dezember 1935 das Werk eines Kritikers, dem das Geschick zur Wende fehlte, der mit all seinen Pseudonymen, als Kaspar Hauser wie als Peter Panter und Theobald Tiger gefangen blieb "hinter den dicken Stäben" ererbter Ideale.

THOMAS RIETZSCHEL

Kurt Tucholsky: "Gesamtausgabe. Texte und Briefe". Hrsg. von Antje Bonitz, Dirk Grathoff, Michael Hepp und Gerhard Kraiker. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg. Bd. 1: Texte 1907-1913. Hrsg. von Bärbel Boldt, Dirk Grathoff und Michael Hepp, 1997. 704 S., geb., 78,- DM. - Bd. 3: "Texte 1919". Hrsg. von Stefan Ahrens, Antje Bonitz und Ian King, 1999. 864 S., geb., 98,- DM. - Bd. 4: "Texte 1920". Hrsg. von Bärbel Boldt, Gisela Enzmann-Kraiker und Christian Jäger, 1996. 912 S., geb., 78,- DM. - Bd. 5: "Texte 1921-1922". Hrsg. von Roland und Elfriede Links, 1999. 992 S., geb., 98,- DM. - Bd. 9: "Texte 1927". Hrsg. von Gisela Enzmann-Kraiker, Ute Maack und Renke Siems, 1998. 1200 S., geb., 98,- DM. - Bd. 14: "Texte 1931". Hrsg. von Sabina Becker, 1998. 768 S., geb., 78,- DM. - Bd. 20: "Briefe 1933-1934". Hrsg. von Antje Bonitz und Gustav Huonker, 1996. 1040 S., geb., 78,- DM. - Bd. 21: "Briefe 1935". Hrsg. von Antje Bonitz und Gustav Huonker, 1997. 896 S., geb., 78,- DM.

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