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Der wegen seines weit ausholenden Schritts Leinwandmesser genannte Wallach verlebt seine letzten Tage auf einem Gestüt und erzählt seinen Artgenossen von seinem Leben. Einst wegen seiner Kraft gerühmt, hat ihn sein Besitzer Serpuchowskoi zuschandengeritten. Danach wurde er nur noch als Lastpferd eingesetzt; Serpuchowskoi selbst ruinierte sich finanziell und musste das Gestüt an einen Freund verkaufen. Jetzt ist er noch einmal zu Besuch auf seinem ehemaligen Besitz und schwelgt vor dem Freund in Erinnerungen an seinen so wundersam starken Wallach. Doch für Mensch und Tier ist die Lebenszeit gleichermaßen abgelaufen.…mehr

Produktbeschreibung
Der wegen seines weit ausholenden Schritts Leinwandmesser genannte Wallach verlebt seine letzten Tage auf einem Gestüt und erzählt seinen Artgenossen von seinem Leben. Einst wegen seiner Kraft gerühmt, hat ihn sein Besitzer Serpuchowskoi zuschandengeritten. Danach wurde er nur noch als Lastpferd eingesetzt; Serpuchowskoi selbst ruinierte sich finanziell und musste das Gestüt an einen Freund verkaufen. Jetzt ist er noch einmal zu Besuch auf seinem ehemaligen Besitz und schwelgt vor dem Freund in Erinnerungen an seinen so wundersam starken Wallach. Doch für Mensch und Tier ist die Lebenszeit gleichermaßen abgelaufen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.12.2022

Der Riss in der Schöpfung
Rolf Boysen liest Leo Tolstois erschütternden Text „Der Leinwandmesser“
Zu den berühmtesten Momenten der Geistesgeschichte gehört der Januarmorgen des Jahres 1889 in Turin, an dem Friedrich Nietzsche ein Pferd, das von einem Kutscher gepeinigt worden war, umarmt haben soll. Dieser Akt kreatürlichen Erbarmens, den Nietzsches Zimmerwirt überliefert hat, gilt vielen Biographen als Kipppunkt, an dem Nietzsches Existenz in die Umnachtung stürzte. Und dementierte diese expressive Geste nicht alles, was er zur Kritik des Mitleids und zur Feier des starken, schönen und erbarmungslosen Menschen vorgebracht hatte? Die Frage muss schon deshalb offen bleiben, weil die Authentizität des Vorfalls nicht unumstritten ist.
Drei Jahre vor Nietzsches Zusammenbruch erschien eine zwei Jahrzehnte zuvor entstandene Erzählung Leo Tolstois, die den vollständigen Lebenslauf eines Pferdes in der Spiegelung zweier Perspektiven vorstellt, von außen und von innen. Ja, auch von innen: Denn das titelgebende Pferd „Leindwandmesser“, so genannt seines ausgreifend weiten Schrittes wegen, erzählt sein Leben darin selbst, von der Geburt bis zur Schwelle des Todes. Zugleich, also im Wechsel der Erzählhaltungen, zeigt die Novelle das Tier auch von außen, aus der Sicht von Pferdeknechten, Stallmeistern, Käufern, Eigentümern.
„Der Leinwandmesser“ ist ein erschütternder, wenig bekannter Text, der Tolstois psychologisch raffinierten und gleichzeitig urchristlich verfremdenden Blick auf die Kreaturen – die Menschen und die Tiere – und auf die moderne Gesellschaft auf knappem Raum entfaltet. Die Lesung von Rolf Boysen bringt die Geschichte mit kaum zu überbietender dramaturgischer Perfektion zu Gehör, in einer knarrenden, alten, desillusionierten, resigniert-weltverachtenden, am Ende bitter trauernden Tonlage. Wundervoll phrasiert Boysen die Sätze der Übersetzung von Josef Hahn, die solche Sorgfalt unbedingt lohnen. Das zuweilen barocke Pathos seiner Einlesungen der antiken Epen Homers und Vergils hat Boysen hier vermieden.
Das Gegenüber der Sichtweisen von Mensch und Tier zeigt den Riss in der Schöpfung. Für das Menschentier sind Pferde Gebrauchsgegenstände oder Luxusartikel, Arbeitssklaven oder Artisten, nicht zuletzt Wertgegenstände mit wechselnden Preisschildern. Das weltweise Tier dagegen wirft einen verständnislosen Blick auf eine Gesellschaft, in der die Attribute „mein“ oder „dein“ – das abstrakte Institut des Eigentums – vom unmittelbaren Gebrauchswert und von der leiblichen Beziehung zu dem lebenden Wesen getrennt sind. Ein Eigentümer kann ein Pferd „meines“ nennen, das er nie geritten oder sogar nie gesehen hat. Allein das Attribut gibt ihm das Recht, über dessen Schicksal zu bestimmen.
Auf der anderen Seite zeigt die Erzählung die zynischen Gespräche von reichen oder verschuldeten Besitzern, die mit Pferden zu Prestigezwecken oder zum Gelderwerb Handel treiben, sie also verdinglichen, nicht als lebendige, leidensfähige Wesen erkennen. Die Tiergeschichte wird zum Sozialroman. Aber nicht zur Allegorie, wie in der literarischen Tradition, wo Löwen Könige und Füchse Oppositionelle sind, und Wölfe das Recht des Stärkeren durchsetzen, dem Lämmer zum Opfer fallen. Nein, Tolstoi zeigt Gesellschaft als Verband, zu dem Tiere und Menschen gemeinsam gehören. Das mündet unvermeidlich in eine Fundamentalkritik an der realen adelig-bürgerlichen Gesellschaft, fast wie ein Vorschein der heutigen Bewegung für animal rights, für Tierrechte als Pendant der Menschenrechte.
Aber wie schön, wie zart macht Tolstoi das. Der Lebensweg des Leinwandmessers ist bestimmt von einer einzigen Eigenschaft: Eigentlich von bester, reinster Abstammung, kommt er scheckig zur Welt. Alles andere an ihm ist von beispielhafter Perfektion, Gesundheit, Körperbau, Leistungskraft, Eleganz, Schnelligkeit. Doch die Scheckigkeit macht den schönen Hengst zum Außenseiter, auch unter seinen Mit-Pferden, die da nicht besser sind als wir Menschen. Dieser eine Makel bestimmt ihn zum Wallach, der nur noch als Arbeitstier gebraucht werden kann. Allein wie Tolstoi den Moment behandelt, der alles im Leben des Pferdes verändert, den Übergang vom Hengst zum Wallach – haben alle Leser 1886 überhaupt verstanden, dass das eine Kastration ist? – gehört zu den erschütternden Momenten der europäischen Literatur.
Am Schluss sterben Tier und Mensch parallel, sterben wie sie nur bei diesem Erzähler sterben können. Besser kann man den Zeitraum von nur zwei Stunden nicht anwenden als mit diesem Text, mit diesem Vorleser. Großes 19. Jahrhundert, in dem Nietzsche und Tolstoi Zeitgenossen waren! Zog Thomas Mann nicht aus dieser Konstellation die Summe, als er seinem Bauschan in „Herr und Hund“ einen Nietzsche-Bart gab?
GUSTAV SEIBT
Die Tiergeschichte wird
zum Sozialroman. Aber
eben nicht zur Allegorie
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