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Von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr so, wie es war. Kees Popinga, der brave holländische Familienvater und Prokurist, verliert seinen Job. Seine Firma geht Pleite, der bewunderte Chef verschwindet mit der Firmenkasse. Für Popinga ist das nicht nur eine persönliche Enttäuschung, sondern auch eine finanzielle Katastrophe, da er an der Reederei beteiligt ist. Dazu kommt, dass die Umstände es nahelegen, er sei an dubiosen Machenschaften der Firma beteiligt. Popinga fasst einen Entschluss: Er nimmt den nächsten Zug nach Amsterdam und taucht ein in ein neues Leben. Wenn schon alles…mehr

Produktbeschreibung
Von einem Tag auf den anderen ist nichts mehr so, wie es war. Kees Popinga, der brave holländische Familienvater und Prokurist, verliert seinen Job. Seine Firma geht Pleite, der bewunderte Chef verschwindet mit der Firmenkasse. Für Popinga ist das nicht nur eine persönliche Enttäuschung, sondern auch eine finanzielle Katastrophe, da er an der Reederei beteiligt ist. Dazu kommt, dass die Umstände es nahelegen, er sei an dubiosen Machenschaften der Firma beteiligt. Popinga fasst einen Entschluss: Er nimmt den nächsten Zug nach Amsterdam und taucht ein in ein neues Leben. Wenn schon alles zusammenbricht, dann möchte er wenigstens einmal richtig frei sein, leben und lieben, wie es ihm gefällt. Für seinen Traum vom neuen Leben geht Popinga sogar über Leichen, und schon bald ist er auf der Flucht.
Autorenporträt
Georges Simenon (1903-1989) wurde in Lüttich geboren und lebte ab 1957 in der Schweiz. Er gilt als einer der besten französisch-sprachigen Kriminalautoren.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.08.2004

Band 24
Das nackte Monster
Georges Simenons Roman „Der Mann, der den Zügen nachsah”
Georges Simenon sagte oft, Antrieb für sein Schreiben sei die Angst davor, als raté, als Versager und Clochard an den Rändern der Gesellschaft zu stranden. Wie groß diese Furcht war, lässt sich schon daraus ersehen, wie häufig solche verkrachten Existenzen durch seine Romane geistern. Er selbst führte seine manische Schaffenskraft auf diese dunkle Angst zurück. Geradezu eruptiv entstanden seine Bücher, sechs bis elf Tage schrieb er daran im Zustand der „Gnade”, einem Zustand, in dem er scheinbar in die Haut eines Anderen zu schlüpfen vermochte: „Ich neutralisiere mich, vergesse mein eigenes Ich”, schreibt er 1938 an Gide, im Jahr, da „Der Mann, der den Zügen nachsah”, entstand.
Ist Kees Popinga ein Gescheiterter? Oder ist er ein mutiger Mensch, weil er aus den Zwängen eines bürgerlichen Lebens ausbricht, um radikal seine Lust zu leben? So wurde der Roman oft gedeutet. Aber das ist deshalb falsch, weil es zu eindeutig ist: In dem Versuch, seinem bisherigen Leben zu entfliehen, wird Popinga zum gehetzten Outlaw, der nach und nach alles verliert, wirklich alles, bis er splitternackt gefangen genommen und in die Psychiatrie gesperrt wird. „Der Mann, der den Zügen nachsah” ist deshalb so unheimlich, weil Simenon in der Schwebe lässt, inwieweit Popinga nur scheitert oder in diesem Scheitern doch auch eine Art von Freiheit gewinnt; und inwieweit er in dem Bestreben, die festgezurrten Verhältnisse in seinem Leben zu verrücken, tatsächlich verrückt wird.
Popinga ist ein unauffälliger Biedermann: Eigenheim im holländischen Hafenstädtchen Groningen, Frau und Kinder, ein Job in der alteingesessenen Firma „Coster und Sohn”. Eines Abends aber eröffnet ihm sein betrunkener Chef, die Firma sei pleite, er, Coster, werde sich noch diese Nacht absetzen. Für den korrekten Buchhalter Popinga müsste eine Welt zusammenbrechen. Zu seinem eigenen Erstaunen aber wird er ganz ruhig und erkennt, als er die Bilanzfälschungen seines Chefs durchschaut, wie sehr sein bisheriges Leben von einem Bluff bestimmt wurde, von dem Bestreben zu gefallen, irgendwelchen Konventionen zu gehorchen. Er verlässt Groningen, um die Geliebte des Chefs zu erobern - und bringt sie (versehentlich?) um.
Ähnlich wie sein Autor einige Jahre zuvor, nimmt Popinga den Nachtzug von Amsterdam nach Paris. Anders aber als Simenon, der dort als rasender Reporter und Romanmaschine zum „Phänomen” aufstieg, wird Popinga zum „Monster” und obdachlosen Gejagten. Kommissar Lucas ist ihm auf den Fersen, die Zeitungen berichten gierig vom „Ungeheuer aus Amsterdam”, das irgendwo im Bauch von Paris sein Unwesen treibe. Popinga, der aufgebrochen war, um keinerlei Vorstellungen mehr genügen zu müssen, versucht nun verzweifelt in Leserbriefen, das Image, das die Zeitungen von ihm entwerfen, zu korrigieren. Zwar zeichnet er dabei ein scharfsichtiges Bild seiner selbst, zugleich aber steigert er sich in grotesken Größenwahn hinein.
Am Ende sitzt er in der Irrenanstalt, spielt ab und zu eine Partie Schach gegen seinen Psychiater und bittet diesen um ein Heft: Er, Popinga, wolle sein Leben aufschreiben. Nach einigen Wochen schaut der Psychiater, was aus den Aufzeichnungen wurde. Das Heft enthält nur sieben Wörter: „Die Wahrheit über den Fall Kees Popinga”.
ALEX RÜHLE
Georges Simenon
Foto: Diogenes Verlag
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.05.1995

Ein Brötchen für den Kommissar
Flucht durch Zeit und Raum: García Márquez jagt Simenon

Was geht in unserem Kopf mit einer Geschichte vor, die wir vor Jahrzehnten hingerissen gelesen und inzwischen fast vergessen haben? Wenn sie uns jahrzehntelang bis zur Verrücktheit plagt, weil wir Titel und Autor nicht mehr wissen, nur noch den Ort und die Zeit der Lektüre? Wenn es zur Besessenheit wird, hinter der Geschichte herzujagen? Wenn sich Spuren finden, Fehlspuren, scheinbar nahe Triumphe, jähe bittere Enttäuschungen und man die Geschichte endlich doch in der Hand hält?

Daß sie nicht mehr so ist wie bei der ersten Lektüre, das versteht sich von selbst, wie aber und warum hat sie unser Kopf verändert? Der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel Garcia Márquez stellt diese Fragen. 1949 hat er die Geschichte gelesen und 44 Jahre gebraucht, um sie zu ermitteln. Seine Fragen beantwortet er nicht theoretisch, sondern, wie es sich für einen Erzähler gehört, durch seine Geschichte; sie ist eine Fahndung - wie die gesuchte Fahndung. Ergebnis dieser Erinnerung in Raten: "Der Mann auf der Straße", eine Maigret-Geschichte, geschrieben 1939 von Georges Simenon.

Fünf Tage und fünf Nächte lang jagen Kommissar Maigret und seine uns vertrauten Inspektoren Torrence, Janvier, Lucas einen Mordverdächtigen. Sie haben nicht viel in der Hand gegen ihn, sie müssen ihn als offene Ermittler bis in seine Wohnung begleiten, aber er geht nicht nach Hause, er flüchtet durch Paris. Dabei kommt er durch Geldmangel herunter von Nobelrestaurants bis in die Armenküche und in Wärmestuben, die Sitzschlafplätze vermieten mit einem Glas Rotwein als Bonus: er wird, unrasiert und unausgeschlafen, dem Mörder immer ähnlicher, der er in der Tat doch wohl nicht ist. Nach den Fahndern fahndet García Márquez, und das ist eine Art Simenon im Quadrat, Maigret hoch zwei.

Der Fahnder weiß noch, daß ihn die Angst des Gejagten mehr als die Jagd interessiert hat. Er meint, sich zu erinnern, daß die Geschichte aus der Perspektive des Verfolgten erzählt sei, aber als er sie gefunden hat, stellt sich heraus, daß sie aus der Perspektive der Verfolger gebaut ist. Woher diese Gedächtnistäuschung? Darüber spekuliert García Márquez nicht. Die Antwort fällt dem heutigen Leser leicht.

Es ist nicht nur Sympathie für den Schwächeren: der Verfolgte ist auf diesen 46 Seiten der einzige Mensch mit einem differenzierteren Seelenleben, leidend obendrein. Die Verfolger aber sind nur Maigrets Plastikfiguren mit gelegentlichen menschlichen Zügen. Der Verfolgte könnte aus einem der späten Non-Maigret-Romane Simenons kommen, er verschafft sich im Gedächtnis die Position der Zentralfigur, und seine Perspektive überlagert in der Erinnerung die Routine-Kriminalisten. Dieser literarische Vorgriff Simenons auf seine künftigen Meisterwerke geschieht im sympathischen Mief seines Frühwerks aus den dreißiger Jahren. Schon läßt Maigret Bier und belegte Brote zur Auflösung holen, schon ist Madame Maigret ungehalten, wenn er kurz vor ihrem Festessen entläuft in seinen Fall. Noch trinkt er so etwas wie heißen Picon, noch trägt er einen Bowler und stochert am Quai des Orfèvres in seinem Büro-Ofen.

Garcia Márquez hat seinen Text geschrieben als Vorwort zur ersten Gesamtausgabe Simenons in spanischer Sprache, in zweihundertvierzehn Bänden. Wohl eher um diesem kleinen Buch den lebensnotwendigen Umfang zu geben, hat der Verlag noch zehn Seiten dazugepackt: Guillaume Apollinaires Kriminalgroteske "Der Matrose von Amsterdam", ehemals ebenfalls in der Anthologie, in der sich der Simenon fand und wiederfand. Zu suchen braucht ihn der Simenon-Sammler nicht: er zieht den Band "Maigret-Geschichten" (Diogenes-Verlag 1980) aus dem Regal, wo "Der Mann auf der Straße", dort erstmals deutsch, anfängt auf Seite 7. Das kleine Buch "Dieselbe Geschichte, nur anders" ist ein Amuse-gueule vorm Nachdenken über literarische Sprünge in unserem Gedächtnis.

Bei dieser Gelegenheit: Kennen Sie vielleicht eine Geschichte, in der ein Mann (Sträfling?) durch einen (Abwasser?-)Kanal in die Freiheit kriechen will, nach unendlichen Mühen aber entdecken muß, daß ihm ein anderer Mensch entgegenkriecht; ein Ausweichen gibt es nicht, dafür ist der Kanal zu eng. Wer hat das geschrieben? Wie geht es weiter? Gelesen habe ich es im Krieg in Zeitungsausschnitten. Seit einem halben Jahrhundert fahnde ich neurotisch nach dieser Geschichte, bisher vergebens. Geliehen hatte sie mir der Direktor meiner Schule: "Lesen Sie das mal, es spielt unter uns, unter Kanalmenschen." Das war 1942, als er mich im Lazarett besuchte. Es war seine Art der hochgefährlichen Zeitkritik. GEORG HENSEL.

Gabriel García Márquez: "Dieselbe Geschichte, nur anders". Georges Simenon: "Der Mann auf der Straße". Guillaume Apollinaire: "Der Matrose von Amsterdam", Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1995. 71 S., br., 9,80 DM.

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»Simenons wichtigste Werke sind DIE ROMANE ohne Maigret, hervorragende und fantastisch geschriebene Kunstwerke, die so tun, als wären sie Krimis: hart, düster, leidenschaftlich, voller Schuld und Schmerz, ohne ein Gran Sentimentalität, von verstörender Scharfsichtigkeit und gleichzeitig unglaublich unterhaltsam. Die Romane sind tiefsinniger und philosophischer als die Romane von Camus und Sartre, aber viel weniger prätentiös.« John Banville »Die Romane zeigen Simenon auf dem Gipfel seiner Kunst. Mehr noch: Einige von ihnen zählen zu den besten Romanen, die im 20. Jahrhundert geschrieben wurden.« The New Yorker