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Erinnerungen an Ostindien: Maria Dermouts großer Roman "Die zehntausend Dinge" in neuer Übersetzung
Eine der vielen kleinen Inseln, die zur Gruppe der Molukken gehören: Es duftet nach Nelken, nach Muskat und anderen Gewürzen. Von der reichen Pracht, die Portugiesen und Holländer hinterlassen haben, ist kaum noch etwas zu finden; Erdbeben und die Unruhen der Nachkolonialzeit haben sie zerstört. Die malaiischen Ureinwohner haben sich in die Berge zurückgezogen. Die Sklavenglocke am Hafen, die An- und Abfahrten der wenigen Schiffe verkündet, erinnert an die koloniale Vergangenheit. Erinnerung durchzieht Maria Dermouts Roman "Die zehntausend Dinge" von der ersten bis zur letzten Seite. Das Hauptwerk der niederländischen Schriftstellerin ist für uns eine Wiederentdeckung. Es erschien zum ersten Mal auf Deutsch bereits 1958, wie die englischsprachige Ausgabe, und wurde sofort zur Weltliteratur gezählt. Die neue Übersetzung von Bettina Bach ist makellos.
Maria Dermout ist auf einer Zuckerplantage auf Java aufgewachsen und nach wenigen Jahren in Holland dorthin zurückgekehrt. Es ist eine exotische Welt, in der die Toten gegenwärtig sind wie die Reste der alten Kultur mit ihren Geheimnissen. Tragische Geschichten werden immer weitererzählt und erhalten dadurch eine manchmal bedrückende Gegenwärtigkeit. Die tropische Natur überwuchert alles, auch die verwahrlosten Gewürzgärten, die neben Zuckerrohr einst den Reichtum der Insel ausmachten. Ihre Beschreibung in gelassener, poetischer Sprache gehört zum Schönsten dieses verzaubernden Buches.
Die Stimme Ostindiens hat man die 1888 geborene Maria Dermout genannt, eine Stimme voller Trauer, aber auch voller Bewunderung für die Besonderheit von Landschaft, Pflanzen und Tieren, der sich die Menschen unterzuordnen scheinen. Maria Dermout hat gründliche botanische Studien betrieben und ist eine fast wissenschaftlich genaue Beobachterin. Nie wollte sie in die Kategorie postkoloniale Literatur eingereiht werden. Bei ihr sind Rassen gleichberechtigt und gleichwertig, wie es auch Pflanzen, Vögel und anderes Getier sind. Sie nähert sich allen Geschöpfen behutsam, ohne ihnen zu nahe zu kommen.
Es sind seltsame Menschen, Verlassene, wie aus vergangenen Zeiten Übriggebliebene. Sie hüten unwiederbringliche, fast verlorene Kenntnisse, können gleichzeitig aber auch überraschend zeitgemäß und pragmatisch handeln. So lebt die Hauptfigur, die nur "die Frau vom kleinen Garten" genannt wird, davon, nach alten Rezepten weiße und schwarze Muschelsauce, Kräutersalbe und Liköre herzustellen und die Erzeugnisse des einstigen Musterhofes ihrer Großmutter auf den Markt zu bringen. In ihrem Raritätenschrank sammelt sie nicht nur Perlen, die "Tränen des Propheten", ihr Haus ist auch ein Museum der alten Inselkultur.
Religionen und Lebensweisen bestehen hier scheinbar einträchtig nebeneinander. Doch unterschwellig wirken Feindseligkeiten weiter und bedrohen den mühsam errungenen Frieden. So ist es kein Zufall, dass der geliebte einzige Sohn der Frau vom kleinen Garten als Soldat bei der Verfolgung eines aggressiven Bergstammes, von einem vergifteten Pfeil getroffen, stirbt. Sein Tod ist der traurigste aller Abschiede in diesem Abgesang vom Früher, denn mit dem Tod des Sohnes stirbt die Hoffnung auf ein glücklicheres Leben. Manche Geschichten in diesem ungewöhnlichen Roman haben einen autobiographischen Hintergrund. Diese Betroffenheit der Autorin teilt sich mit und weckt Anteilnahme wie selten in literarischen Werken.
MARIA FRISÉ.
Maria Dermout: "Die zehntausend Dinge". Roman.
Aus dem Niederländischen und mit Anmerkungen von Bettina Bach. dtv Verlagsgesellschaft, München 2016. 263 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Neues Deutschland 13.10.2016