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Sabine Peters eindrucksvoller Roman über den sterbenden Vater
Ein Vater stirbt. Jahrzehntelang hat er, der gebildete und wortgewaltige „Doktor Phil”, seine Frau und seine vier Töchter dominiert, sie selbstsicher überragt wie ein „dunkler fensterloser Turm”. Jetzt, in seinem achtzigsten Lebensjahr, geht es mit ihm von Monat zu Monat bergab. Immer noch ist er „ein Redebogen, ein Tyrann und ein Tynarr”, aber die Worte, die aus ihm hervorsprudeln, werden konfus. Manchmal verstummt er auch oder schreit, wenn er wieder in die Hose gemacht hat, nach seiner Frau, die gelernt hat, ihn wie ihr Kind zu behandeln: „So ist mein Junge anständig. Properes Kerlchen. Die Mutter redete sonst manchmal so. Früher. Neuerdings hat sie sich aufs Horchen verlegt. Mutters Ohren. Mutters Ohren sind Federn, sind Flügel, die Mutter ist ein Vogel, fliegt auf, fliegt hoch, um ihren Jungen zu finden, ihren Mann. Sie findet den Vater überall.”
In „Abschied” gelingt Sabine Peters eine in mehrfacher Hinsicht schwierige Balance. Zunächst versteht es die Autorin,das Spezifische ebenso wie das Exemplarische ihres deutlich autobiographisch inspirierten Sujets herauszuarbeiten. Nicht in jeder Familie gibt es einen „Doktor Phil”, die Gefühle, die dessen Siechtum bei seinen Angehörigen provoziert, dürften dennoch universell sein: ein Schwanken zwischen Hilfsbereitschaft und Überforderung, Mitleid und Gereiztheit, zwischen plötzlicher Zärtlichkeit und plötzlichem Ekel. Und so beredt, wie „Doktor Phil” war, so beredt ist auch dieses Buch – allerdings ohne je in die Falle poetisierender Großsprecherei zu tappen. Alle Kunstgriffe erhellen das schlichte, gewichtige Sujet, blähen es aber nie auf. Sabine Peters leistet sich Wortspiele, Anklänge an den Märchenton und Lyrismen. Sie ergänzt die dominierende Perspektive der Tochter Marie durch Passagen, die sich in die Köpfe der Eltern zu versetzen suchen, und sie ist eine Meisterin in der raffenden Montage von Telefon-, Party- undTischdialogen: „Ja, sagt die Mutter, die Stadtverwaltung, sie lächelt den Vater an und schüttelt den Kopf. Bekloppte Fußgängerzone. Auch Marie macht mit. In ihrer Schulzeit sind die Busse alle abgefahren ab Marienplatz, anfangs, und irgendwann, vielleicht zu Abiturzeiten, ist es geändert worden. Verrückter Städtebau. Eben, sagt die Mutter, hüh, hott. Fußgängerzone, Busse, mal so, mal so. Die wissen auch nicht, was sie wollen. Mit dem Luisenplatz. Sie beugt sich über den Tisch, nimmt Vaters Gabel. Der Vater macht den Mund auf. Zwei Gabeln Bohnen, das schaffst du.”
Das Geschehen, das in „Abschied” erzählt wird, könnte alltäglicher nicht sein. Die Schreibkunst von Sabine Peters aber gestaltet es zu einem literarischen Ereignis. Der Eindruck, den diese Erzählung hinterlässt, übertrifft manchen umfangreichen Roman.CHRISTOPH HAAS
SABINE PETERS: Abschied. Erzählung. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 144 Seiten, 18 Euro.
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Doktor Phil und die Seinen: Eine Erzählung von Sabine Peters
Eigentlich ist es eine eher banale Geschichte, die Sabine Peters in ihrem schmalen Buch erzählt: Ein bejahrter Vater, eine alte Mutter, vier erwachsene Töchter leben ihr Durchschnittsdasein, fraglos verbunden durch Jahrzehnte familiärer Gemeinsamkeit, aber genaugenommen jeder für sich allein. Besonderes, gar Dramatisches passiert nicht, wenn man davon absieht, daß der Vater seinem Tod entgegengeht; er stirbt langsam, mit all den Begleiterscheinungen greisenhaften Verfalls, und die fünf anderen Familienmitglieder müssen mit den daraus resultierenden Belastungen ihres Alltags zurechtkommen. Eine Dutzendszenerie also, die einen normalerweise nur dann interessiert, wenn man selbst darin agiert. Und doch nimmt die Geschichte den Leser gefangen, treibt ihn von Seite zu Seite weiter.
Offensichtlich hat Sabine Peters, 1961 geboren, eigene Erfahrungen verwertet. Wir erkennen sie wieder in Marie, der dritten Tochter, aus deren Perspektive vorrangig die Familienstory gesehen wird. Marie stammt, wie ihre Schöpferin, aus Rheinland-Pfalz, arbeitet als Buchautorin und Kritikerin und wohnt im ostfriesischen Rheiderland, alles nach dem Muster der Autorin Peters. Genau das verleiht der Geschichte, trotz der thematischen Alltäglichkeit, ihre Faszination. Wir finden eine Mischung von inniger Nähe zu den Personen, ihren Redegewohnheiten, ihrem Handeln einerseits und andererseits kritischer Ferne zu allem Geschehen. Das setzt uns in den Stand, den Figuren unentwegt ins Herz zu blicken und doch zu unaufgeregten Urteilen über sie zu kommen. Wir verstehen sie alle, müssen uns aber mit niemandem identifizieren - außer allenfalls mit uns selbst. Denn letzten Endes begegnen wir unentwegt auch eigenen Erfahrungen.
Der Vater im Buch, ständig "Doktor Phil" genannt, war promovierter Gymnasiallehrer, ein seiner Bildung wegen Eingebildeter, der für alles nur einen Maßstab gelten läßt: den eigenen. Die Mutter ist ein gutes Kerlchen, deren größte Lebensleistung darin bestand, es dem Ehemann und den Kindern immer einigermaßen recht gemacht zu haben. Die Töchter mühen sich, angesichts der Sterbelasten ihre Pflichten zu erfüllen; wobei die Frage offenbleibt, wie weit hier Liebe, wie weit nur anerzogener Anstand im Spiel ist. Wir kommen im Verlauf der Handlung ja nur Marie richtig nahe, und nur sie läßt ahnen, daß das Eltern-Kinder-Land nicht solch ein Märchenreich gewesen ist, wie der Vater meint und die Mutter hofft.
Freilich läßt Sabine Peters keinen Zweifel daran, daß die Vorgänge in Doktor Phils Familie nicht bemerkenswert anders waren oder sind als bei uns selbst oder sonstwelchen Leuten: geprägt von einander widersprechenden Charakteren, belastet von allerlei Egoismen und dennoch gesegnet von einer Portion Liebe. Menschen sind keine Engel, weder die ehrbaren Eltern noch die braven Kinder. Infolgedessen sind Gemeinschaften, die Menschen miteinander gründen, selten Paradiese. Immerhin aber kann man sie als Nest begreifen, als ein Stück - wenn auch unvollkommene - Heimat im fremden Universum, in das man ungefragt hineingeboren wird.
SABINE BRANDT
Sabine Peters: "Abschied". Erzählung. Wallstein Verlag, Göttingen 2003. 143 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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