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Netzwerke durchdringen heute nahezu jeden gesellschaftlichen Bereich, und lange Zeit galt: je vernetzter, desto besser! Diese Vernetzungseuphorie ist aber inzwischen ein Stück weit verflogen. Die ständige Erreichbarkeit fordert ihren Preis, Open-Office-Architekturen geraten zunehmend in die Kritik und neue Sicherheitsrisiken sorgen für Unruhe. Ausgehend von solchen Krisendiagnosen denkt Urs Stäheli in diesem Buch auf dreifache Weise über die Grenzen der Vernetzung nach - als Kritik an relationalen Sozialtheorien, als kultursoziologische Analyse von Figuren der Entnetzung und als genealogisch…mehr

Produktbeschreibung
Netzwerke durchdringen heute nahezu jeden gesellschaftlichen Bereich, und lange Zeit galt: je vernetzter, desto besser! Diese Vernetzungseuphorie ist aber inzwischen ein Stück weit verflogen. Die ständige Erreichbarkeit fordert ihren Preis, Open-Office-Architekturen geraten zunehmend in die Kritik und neue Sicherheitsrisiken sorgen für Unruhe. Ausgehend von solchen Krisendiagnosen denkt Urs Stäheli in diesem Buch auf dreifache Weise über die Grenzen der Vernetzung nach - als Kritik an relationalen Sozialtheorien, als kultursoziologische Analyse von Figuren der Entnetzung und als genealogisch angelegte Untersuchung von Praktiken der Entnetzung in verschiedenen Feldern.
Autorenporträt
Urs Stäheli ist Professor für Allgemeine Soziologie an der Universität Hamburg. Im Suhrkamp Verlag erschienen: Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie (stw 1810) und Soziologie der Nachahmung und des Begehrens. Materialien zu Gabriel Tarde (stw 1882, hg. zus. mit Christian Borch).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.04.2021

Der Reiz des Ladenhüters

Von der krankmachenden Lust an immer neuen Verbindungen: Urs Stäheli untersucht den Aktivitätszwang digitaler Kulturen und denkt über Möglichkeiten der Entnetzung nach.

Was lässt sich mit einem Netz bewirken? Für den Ethnologen Julius Lips waren Fang- und Haltenetze in seinen 1927 erschienenen "Fallensystemen der Naturvölker" noch eindeutig als Falle zu beschreiben. Sein Kollege Sture Lagercrantz erwiderte zehn Jahre später, dass es sich beim Netzgebrauch lediglich um eine "fallenähnliche Fangmethode" handele. Netze waren im ethnologischen Wissen lange ambivalente, weil verschlingende, verfangende oder gar niederschlagende Objekte materieller Kultur. Soziale Netzwerke beflügelten hingegen in einer Konjunktur, die seit den 1930er Jahren bis in die Gegenwart andauert, kulturelle Praxis, Medientechniken und Wissenschaften meist positiv.

Gelegentlich ist dem allzu enthusiastischen Netzwerken Skepsis entgegengebracht worden, am deutlichsten in den gemeinsamen Studien von Luc Boltanski und Ève Chiapello. Den "Neuen Geist des Kapitalismus" verorteten beide bereits 1999 in der Organisation flexibler, neoliberal formierter Netzwerke. Mit Urs Stäheli hat nun ein systemtheoretisch geprägter Medien- und Sozialtheoretiker eine avancierte Soziologie der Entnetzung vorgelegt. Wie Boltanski und Chiapello liest Stäheli dafür aktuelle organisationstheoretische Literatur, die nunmehr Ratschläge zur Entnetzung erteilt. Zu viele Meetings und zu viel analoge wie digitale Netzwerkarbeit kommen schnell an ihre koordinativen Grenzen.

Entnetzung, so einer der durchgehenden Befunde, muss unter digitalen Bedingungen räumlich und vor allem zeitlich organisiert werden. Sie stellt sich nicht von selbst ein; einer Rückkehr zu vermeintlich entschleunigter, unvernetzter und analoger Sozialität erteilt das Buch durchgängig eine Absage. Sogar Einladungen zum "digital detox" folgen immer noch den Verbindungslogiken, die für einen Moment suspendiert werden sollen. Wer sein Smartphone gezielt ein Wochenende abgibt, tut dies unter dem Motto "Disconnect to reconnect".

Plausibel wird die Soziologie der Entnetzung in einer Vielzahl von Fallstudien, etwa einem instruktiven Kapitel zur Figur des Schüchternen, in Bemerkungen zum Ladenhüter als entnetztem Ding und zur fragilen Zeitlichkeit digitaler Datenströme, die auf ständiges Zwischenspeichern angewiesen bleiben. Stäheli hinterfragt dergestalt den ständigen Aktivitätszwang in digitalen Kulturen. Am überzeugendsten ist seine Argumentation immer dann, wenn sie die konkreten Praktiken, Imaginationen und Infrastrukturen des temporären Entnetzens in Anschlag bringt: War die offene Bürolandschaft der falsche Weg? Brauchen Organisationen den gelegentlichen Leerlauf? Ist digitaler Verfall von Daten der Normalzustand?

Mit spürbarer Lust führt der Autor durch einen breiten Parcours von Entnetzungspraktiken: Ob nun in Science-Fiction-Szenarien wie einem auf menschlichen Boten basierenden "sneakernet" oder in Szenarien der Wahrung sicherheitspolitischer Interessen, die bis hin zum internetabschaltenden "Kill Switch" oder abgeschlossenen nationalen Netzen reichen. "Wir können das Netz, in dem wir stehen, nicht zuziehen", hat Walter Benjamin einmal in erzähltheoretischer Absicht formuliert. Mit Stähelis listiger Studie ist aber zumindest einem allzu einseitigen Vernetzungsenthusiasmus eine medien- und sozialtheoretische Falle gestellt.

Als Netzwerkkritik greift der Text auffällig oft auf medizinisches Vokabular zurück, gerade wenn er von ökonomischen und soziotechnischen Phänomenen handelt. So diagnostiziert Stäheli, mit einem Terminus des Architekturtheoretikers Mark Wigley, vielerorts ein "Netzwerkfieber". Netzwerke sind dabei Antrieb und Ausdruck paranoiden Denkens und Operierens. Zugleich konstatiert Stäheli eine große Erschöpfung, ausgelöst durch eine "krankmachende Lust an der Herstellung von immer neuen Verbindungen".

Obwohl das Buch weder Zeitdiagnose noch Entnetzungsratgeber sein will, lässt es sich in vielen Passagen als kollektive Psychoanalyse lesen. Auch Zersetzungsmetaphern wie "digital decay" oder "rubble" greifen auf eine Sprache zurück, die Organisches und Materielles miteinander verbindet. Die letzte Grenze der digitalen Netzwerke scheinen erschöpfte Körper und der allgegenwärtige Datenmüll zu sein.

Als schrittweise vorgehende Suche nach kulturellen Reserven erzählt diese "Soziologie der Entnetzung" vielleicht mehr über digitale Lebenswelten, als uns lieb sein kann. Sie ist, ganz ohne plakativen Bezug zur Corona-Pandemie, fraglos aktuell.

SEBASTIAN GIESSMANN

Urs Stäheli: "Soziologie der Entnetzung".

Suhrkamp Verlag,

Berlin 2021. 551 S., br., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der hier rezensierende Soziologe Andreas Reckwitz liest das Buch seines Kollegen Urs Stäheli mit großem Gewinn. Das liegt an Stähelis kluger Argumentation und einer vielschichtigen Sicht auf die Phänomene der Ver- und der Entnetzung und daran, dass der Autor nicht einfach eine Vernetzungskritik vorlegt, sondern versucht, Rückzugsräume für eine grundsätzlich vernetzte Gesellschaft zu erkunden. Dabei geht es nicht nur um die digitale Welt, sondern um soziale Netzwerke schlechthin, erklärt Reckwitz. Die analytische Genauigkeit, mit der der Autor sozialtheoretische Konzepte der Ver- und Endnetzung bei Latour, Luhmann, Deleuze und Georg Simmel betrachtet, findet Reckwitz bemerkenswert, subtil und stellenweise höchst erfrischend.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.06.2021

Gewonnene Illusionen
Der Soziologe Urs Stäheli hat eine große Studie über die Kehrseite der Digitalisierung
geschrieben, den Wunsch, sich der Vernetzung wieder zu entziehen
VON ANDREAS RECKWITZ
Die Verheißungen der Spätmoderne sind schal geworden. Der nüchterne Blick auf jene Realitäten, die sich aus der eifrigen Befolgung der in den 1980er bis 2000er Jahren weitgehend unstrittigen Ideale ergeben haben, verleiht den Sozial- und Kulturwissenschaften schon seit einiger Zeit einen guten Teil ihrer Motivation: Die Schattenseiten der Globalisierung und der Digitalisierung werden ebenso sichtbar wie die Fallstricke der Norm eines selbstverantwortlichen, hypermobilen oder kreativen Subjekts oder die unerwünschten Folgen eines deindustrialisierten kognitiven Kapitalismus.
Dass diese Desillusionierung ein weiteres scheinbar alternativloses Ideal der Spätmoderne erfasst hat, ist der Ausgangspunkt von Urs Stähelis reichhaltiger kultursoziologischer Studie „Soziologie der Entnetzung“. Ihr geht es um das allgegenwärtige Modell des sozialen Netzwerks, der Vernetzung des Sozialen und des umfassend vernetzten Subjekts, das nicht allein das soziologische Denken, sondern auch das politisch-kulturelle Imaginäre der letzten Jahrzehnte massiv beeinflusst hat. Vor allem geht es dem Hamburger Soziologen aber um dessen Kehrseite, um den Wunsch und die Praxis, sich aus diesen Netzen des Sozialen zu lösen: um das Phänomen der Entnetzung.
Manuel Castells sprach in den Neunzigern prophetisch und durchaus mit einer gewissen Euphorie von „The Rise of the Network Society“, dem Aufstieg der Netzwerk-Gesellschaft. Die Wissensökonomie mit ihren Projekten und Netzwerken zwischen Unternehmen und zwischen Arbeitskraftunternehmern, wie sie zeitgleich Luc Boltanski und Eve Chiapello als Kennzeichen des „neuen Geistes des Kapitalismus“ unter die Lupe nahmen, die Etablierung der digitalen Netzwerke mit ihren Dateninfrastrukturen und scheinbar grenzenlosen Verknüpfungsmöglichkeiten, schließlich die ganze Subjektkultur eines vernetzten Individuums, dessen Leben durch flexible und mobile Kontakte an Reichhaltigkeit vermeintlich gewinnt und das sich im Modus des „Networking“ durch die Welt bewegt, haben sich als die wichtigsten Stützen einer vernetzten Gesellschaft herausgestellt.
Dem entsprach eine Zeitlang die Euphorie eines regelrechten „Netzwerkfiebers“: Netzwerke erschienen per se gut; und absurd, gestrig oder bemitleidenswert schien es, gegen die Vernetzung zu sein. Die Netzeuphorie nahm in den Netzwerken offene, grenzenlose, flexible Gebilde wahr, welche die Starrheit der Hierarchien der korporatistischen Moderne hinter sich lassen. Kann man überhaupt nicht nicht vernetzt sein? Oder dies gar wollen? Mittlerweile ist jedoch Katerstimmung angesagt, so Stähelis Ausgangspunkt. Klagen über die „Übervernetzung“ grassieren, und passend dazu erschien vor zwei Jahren Guido Zurstieges Essay „Taktiken der Entnetzung“.
Einfache Vernetzungskritik ist freilich Stähelis Sache nicht. Sein Buch tritt einen Schritt zurück und geht mit äußerster analytischer Sorgfalt und großer Gründlichkeit vor. Tatsächlich ist die Situation für die Soziologie nämlich komplizierter: Auf der einen Seite bezeichnen die Netzwerke gesellschaftstheoretisch und zeitdiagnostisch ein spezifisches Phänomen, das nicht nur das Internet und die sozialen Medien betrifft, sondern auch die Praxis von Organisationen der Wissensökonomie. Zugleich formuliert die Idee des Netzwerks allerdings auch eine elementare Vorstellung hinsichtlich der Funktionsweise des Sozialen generell. Stäheli behandelt in seinem Buch daher drei Ebenen: die Argumente der Vernetzungskritiker, die Thematisierung von Ver- und Entnetzung in der Sozialtheorie sowie – und das steht im Mittelpunkt – die Diskurse und Praktiken der Entnetzung selbst. Das Buch fordert einen etwas längeren Atem, man wird jedoch mit Reichhaltigkeit, Detailfreude und theoretischer Stringenz der Ausführungen belohnt. Beständig dreht sich die Untersuchung dabei um ein analytisches Rätsel: Wie kann man etwas in Begriffe fassen und soziologisch untersuchen, was sich doch dem Blick entzieht, was gerade durch seine Abwesenheit und Negativität gekennzeichnet ist - eben das Entnetzen? Stähelis Argument lautet, dass man sich das Entnetzen nicht als etwas völlig anderes denken als die Vernetzung, sondern eher als etwas, was immer schon inmitten der Vernetzung passiert. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass er den gängigen kritischen Zeitdiagnosen der Übervernetzung mit deutlicher Skepsis gegenübersteht. Die Kritik, der Steigerungsimperativ der Vernetzung führe in den Burnout, zum „Information overload“, zu ineffizientem Arbeiten oder in die Überwachungsgesellschaft, erscheint ihm zu oberflächlich. Denn sie suggeriert, es gebe eine Ausstiegsmöglichkeit in Richtung eines authentischen Lebens.
Hilft einem die Sozialtheorie weiter, um die Phänomene der Entnetzung zu begreifen? Stäheli behandelt zu diesem Zweck nicht nur Bruno Latour, sondern wirft auch einen frischen Blick auf Niklas Luhmanns Kommunikationstheorie und Gilles Deleuzes Theorie des Rhizoms. Er liest so verschiedene Versionen dessen, was er ‚relationale Soziologie‘ nennt, gegen den Strich. Zugegeben haben nicht alle diese Theorien den Begriff des Netzwerks als Schlüsselbegriff gewählt, sie enthalten aber, so Stäheli, allesamt einen „Konnektivitätsbias“. Sie gehen also von der Natürlichkeit, ja sogar von der Wünschbarkeit eines Sozialen aus, das sich in immer neuen Relationen endlos ausbreitet.
Stäheli macht nun an den Grenzen dieser Theorien Denkfiguren aus, in denen so etwas wie Entnetzung gedacht wird: bei Latour etwa einen Begriff wie das Plasma, bei Luhmann die Nicht-Anschlussfähigkeit, bei Deleuze die Vakuole der Kommunikation. Insbesondere die Auseinandersetzung mit Deleuze und mehr noch den Deleuzianern ist erfrischend: Stäheli nimmt den „Konnektivitätswahn“ der „Befreiungsdeleuzianer*innen“ aufs Korn, deren ehemalige Gesellschaftskritik sich schon längst in eine Affirmation des Bestehenden verkehrt habe Bei Luhmann, Latour oder Deleuze ist allerdings nicht wirklich viel zu holen, was die Denkbarkeit der Entnetzung angeht, und so landet Stäheli am Ende dieses Kapitels bei einem Klassiker der Soziologie, bei Georg Simmel. Denn dessen Begriff der „Indifferenz“ des Großstadtmenschen gegenüber der urbanen Reizüberflutung scheint tatsächlich so etwas eine Distanz gegenüber dem Sozialen auszudrücken. Subtil und perspektivenreich steigt Stäheli anschließend in die kultursoziologische Konkretisierung der Entnetzungsformen der Gegenwartsgesellschaft ein. Ihn interessieren hier etwa die Schüchternen und Introvertierten, die lange Zeit pathologisiert wurden, mittlerweile aber auch (so in Susan Canes Buch „Still. Die Bedeutung der Introvertierten in einer lauten Welt“) als Widerstandsfiguren gedacht werden.
Vor allem aber interessiert Stäheli, wie in verschiedenen sozialen Feldern Entnetzung praktiziert wird, wie deren Strategien und Taktiken aussehen. Ein reichhaltiges Feld bietet hier die Organisationssoziologie: Vernetzung wird dort beileibe nicht nur positiv gesehen. Abstrakt spricht man sich hier für Zonen der Indifferenz, für lose Kopplungen und organisationellen ‚Slack‘ aus, konkret für eine Reduktion zeit- und energiefressender Vernetzungsmeetings und einen Rückbau jener ‚Open offices‘, die im Namen ständiger Ansprechbarkeit im lockeren Großraumbüro konzentrierte Arbeit oft unmöglich machen.
Ein großes Thema des Buches sind auch die Entnetzungsphänomene der digitalen Welt. Stäheli geht hier zunächst auf die unintendierten Formen des Entnetztwerdens innerhalb der Datennetze selbst ein, auf die toten Links und verlorenen Datenpakete, bevor jene verschiedenen Strategien eines „Ausstiegs ins Analoge“ durch die Nutzer und Nutzerinnen selbst zur Sprache kommen: die Praktiken des Unplugging, die Plug-Off-Software, die einem ein paar Stunden Ruhe vom Netz verspricht, die Kultivierung der Nicht-Erreichbarkeit und nicht zuletzt die Detox-Camps, in denen man an der Rezeption für 14 Tage sein Smartphone abgibt und sich wieder in der Nutzung der analogen Medien übt.
Entnetzung wird schließlich auch im Zusammenhang mit dem gedacht, was man kritische Infrastrukturen nennen kann: Für den Schutz einer nationalen Infrastruktur gegen terroristische Attacken erscheint ein gezieltes Durchschneiden oder Isolieren von Netzen als eine mögliche Strategie, das nationale „Abschalten“ des Internets als eine andere. Dass in populären Thriller-Genres ein ungeplantes digitales Abschalten reichlich Stoff für Katastrophenszenarien und Geschichten eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs ‚ohne Netz‘ bietet, ist dabei die andere Seite der Medaille. Es wird deutlich, dass ein kompletter Ausstieg aus der vernetzten Gesellschaft eigentlich nur als Katastrophe gedacht werden kann, so dass es den existierenden Entnetzungsstrategien allein um das gehen kann, was Stäheli von Anfang an vermutet hatte: die Konnektivität nicht zu dementieren, sondern Rückzugsräume zu schaffen, um schließlich aber doch an der Netzwerkgesellschaft teilzunehmen.
Insgesamt ist Stäheli ein kluges und vielschichtiges Buch über die Dialektik von Ver- und Entnetzung gelungen, eine nicht völlig mühelos konsumierbare, aber umfassende Kartierung eines soaktuellen wie elementaren Phänomens. In der Natur der anregenden Sache liegt, dass Richtungen auffallen sind, in die man weiterdenken könnte. Die erste Frage, die sich stellt, ist die durchaus klassisch soziologische nach den sozialen Trägergruppen der Prozesse der Vernetzung und der Rückzugsstrategien. In seiner Analyse von Prozessen und Praktiken – die hier selbst einer soziologischen Netzwerklogik folgt – interessiert nämlich nur am Rande, wen dies alles betrifft – und wen nicht. In einer interessanten Nebenbemerkung, die im Rahmen seiner Untersuchung von Digital-Detox-Sommercamps fällt, erwähnt Stäheli einen möglichen neuen „Digital Divide“ zwischen jenen Übervernetzten, die sich nach Entnetzung sehnen – die hochqualifizierten, mobilen Wissensarbeiterinnern vor allem – und jenen anderen, ‚abgehängten‘ sozialen Gruppen, deren Problem eher zu wenig Vernetzung ist.
Genau in diese Richtung sollte man weiterdenken, denn offenbar ist dies ein nicht zu unterschätzender, aber bisher zu wenig thematisierter Aspekt der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeiten in der polarisierten Gegenwart: die Diskrepanz zwischen den reichhaltig und den spärlich Vernetzten sowie der Gegensatz zwischen jenen, die sich Entnetzung leisten können (‚ich bin dann mal weg‘) und jenen, für die sie den sozialen Tod bedeuten würde.
Eine zweite Frage ist die nach den Gründen und Ursachen der neuen Entnetzungsstrategien. Auch die stehen nicht im Mittelpunkt von Stähelis Buchs. Als mögliche Ursachen werden neben Überforderungstendenzen insbesondere immanente Paradoxien und Risiken von Netzwerken genannt, die viel weniger effizient und viel riskanter sind, als auf den ersten Blick angenommen wurde.
Eine weitere Entnetzungsgrund könnte man jedoch exakt auf der Ebene der Emotionen und Affekte erkennen, die Stäheli nur auf Seiten der Netzeuphoriker ausmacht. Jene sahen (und sehen) im Netz bekanntlich einen faszinierenden Raum positiver Affekte: einen Raum, der von Gefühlen der Verbundenheit und Anregung, der Resonanz und Selbstwirksamkeit, der Begeisterung für immer neue Begegnungen geprägt ist. Man sollte jedoch darauf hinweisen, dass sich gegenwärtig insbesondere in den digitalen Netzen eine konträre Affektlogik etabliert: eine Kultur negativer Affekte, der Häme, des Neides, der Beleidigung und Drohung, des Cyberbullying und der Shitstorms verschiedenster Art. Nicht Freude, sondern Angst ist so zu einem zentralen Netz-Affekt geworden.
Die neuen Strategien der Entnetzung lassen sich vor diesem Hintergrund nicht nur als Reaktion auf ein Zuviel an Kontakten verstehen, sondern auch als eine Reaktion auf die Beschädigungen und Beschämungen, denen wir zunehmend ausgesetzt sind. Vernetzt sein heißt eben auch, exponiert und damit verletzlich sein. Entnetzung wäre damit auch eine Strategie dagegen, sich permanent der Verletzung auszusetzen.
Hinter den aktuellen Strategien, sich den Netzwerken zu entziehen oder sie zumindest temporär hinter sich zu lassen, wie Stäheli sie beschreibt, verbirgt sich am Ende so ein noch grundsätzlicheres Problem, das sein Buch eher unausgesprochen umzutreiben scheint: nämlich die Frage, inwieweit man sich dem Sozialen generell entziehen kann. Hinter dem Problem nach den Netzwerken steht die Grundsatzfrage nach den Grenzen des Sozialen insgesamt. Nun ist Stäheli weder Existenzphilosoph noch Kulturkritiker, aber trotzdem verhandelt er indirekt in seinem Buch genau jenen Punkt: Welche Strategien kann es geben, sich das herandrängende Soziale, die lästig auf den Pelz rückenden Interaktionen und Erwartungen der Anderen vom Leib zu halten oder besser: sie immer wieder elegant ab- und in ihre Schranken zu weisen?
Diese Schwierigkeit führt an die Grenzen der Soziologie und zugleich mitten in die Probleme des modernen Individuums hinein, wie sie nicht zuletzt die Kunst behandelt hat. Im Zentrum von Urs Stähelis „Soziologie der Entnetzung“ scheint so die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit für jenen gegenüber dem Sozialen grundsätzlich skeptischen Wunsch auf, wie ihn Herman Melville „Bartleby“ artikuliert: „Ich möchte lieber nicht.“
Lange erschien es
absurd gestrig, gegen die
Globalisierung zu sein
Die Schüchternen werden
mittlerweile als
Widerstandsfiguren gedacht
Kann und sollte man sich
eigentlich vom lästigen
Anderen generell abkoppeln?
Urs Stäheli: Soziologie der Entnetzung, Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
551 Seiten, 28 Euro.
Neue Kultivierung der Nicht-Erreichbarkeit: Spruch an Münchner Gymnasium.
Foto: Catherina Hess
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»Einfache Vernetzungskritik ist freilich Stähelis Sache nicht. Sein Buch tritt einen Schritt zurück und geht mit äußerster analytischer Sorgfalt und großer Gründlichkeit vor.« Andreas Reckwitz Süddeutsche Zeitung 20210618