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» Ein für die Nachkommen bestimmter Apostelbrief über die Köpfe der Zeitgenossen hinweg.« Alexander Etkind In den Krankensaal des Ordinators für die 'halbwegs Harmlosen' Dr. Andrejschin werden zwei Juweliere eingewiesen, die auf dem großen Moskauer Markt verkündet hatten, sie seien beauftragt, die Krone für den Kaiser von Amerika anzufertigen - und diese sei nun, fast fertig, gestohlen worden! Im Versuch, hinter den Wahnsinn der beiden Brüder zu kommen, gerät der Arzt in das merkwürdige Haus Nr. 42, in dem er unverhofft lange bleibt und mit den Bewohnern und einem gewissen Tscherpanow, der…mehr

Produktbeschreibung
» Ein für die Nachkommen bestimmter Apostelbrief über die Köpfe der Zeitgenossen hinweg.« Alexander Etkind
In den Krankensaal des Ordinators für die 'halbwegs Harmlosen' Dr. Andrejschin werden zwei Juweliere eingewiesen, die auf dem großen Moskauer Markt verkündet hatten, sie seien beauftragt, die Krone für den Kaiser von Amerika anzufertigen - und diese sei nun, fast fertig, gestohlen worden!
Im Versuch, hinter den Wahnsinn der beiden Brüder zu kommen, gerät der Arzt in das merkwürdige Haus Nr. 42, in dem er unverhofft lange bleibt und mit den Bewohnern und einem gewissen Tscherpanow, der angeblich Arbeitskräfte für eine Großbaustelle anwirbt, absurde, die Wirklichkeit in eine fantastische Welt von Traum und Mystifikation verwandelnde Abenteuer und handgreifliche Auseinandersetzungen erlebt. In dieser surrealen Atmosphäre entstehen immer groteskere Pläne für das Projekt der »Umformung des Menschen «, die diesen geeigneter und williger für den Aufbau einer neuen Gesellschaft machen sollen.

Die Mitarbeiter im sowjetischen Litfond haben nicht ahnen können, welche bizarren Seltsamkeiten im Kopf ihres Vorsitzenden Wselowod Iwanow vorgingen, mit denen er ausgerechnet in den Jahren seine Schubladen füllte, in denen er die literaturpolitischen Entscheidungen darüber traf, welche Texte gedruckt werden durften und welche nicht. Die nachfolgenden Kollegen strichen denn auch 1990 sämtliche erotische Szenen, die erstmals in dieser Übersetzung ins Deutsche zugänglich gemacht werden
Autorenporträt
Iwanow, Wsewolod
Wsewolod Iwanow (1895-1963) verdingte sich zunächst als Matrose, Clown, Schwertschlucker und Drucker, publizierte ab 1915 erstmals in Zeitungen, veröffentlicht 1919 seinen ersten Roman Rogulki. Nachdem er im Russischen Bürgerkrieg gekämpft hatte, begründete er mit anderen Schriftstellern 1920 die literarische Gruppe »Serapionsbrüder« in Petrograd. Die Freundschaft zu Maxim Gorki führt dazu, dass er in »Krasnaya Nov.« veröffentlicht und 1932 an dem berühmten Treffen der Intelligenzjija mit Stalin teilnimmt, der ihn zeitlebens schätzte. 1933 wir er von seiner Frau, der Schauspielerin Tamara Iwanowa, bei der Schriftsteller- Besichtigung der Arbeiten am Weißmeer-Ostseekanals begleitet. Als Sekretär des Ersten Kongresses sowjetischer Schriftsteller und später als Vorsitzender des Literaturfonds definiert er, welche Texte in der Sowjetunion gedruckt werden dürfen. Mit dem Ausbruch des Vaterländischen Kriegs gelangt er als Frontkorrespondent der Iswestija mit den sowjetischen Truppen bis nach Berlin. Bekannt wurde er durch seine zahlreichen Erzählungen über den Kampf der Sowjetunion im Süden Sibiriens wie Panzerzug und Partisanen, sowie teilweise autobiografische Romane wie Die Abenteuer eines Fakirs, Wir fahren nach Indien und auch die Romane Die Rückkehr des Buddha, Der Kreml, Blauer Sand.

Kühn, Regine
Regine Kühn, 1941 in Torgau geboren, studierte Theaterwissenschaften in Moskau, schrieb Spielfilm- und Dokumentarfilmdrehbücher und lehrte an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam Babelsberg.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Urs Heftrich gerät in kindliches Staunen angesichts von Wsewolod Iwanows Roman von 1932. Dass der Autor eines solchen Textes den stalinistischen Terror überleben konnte, muss mit Iwanows enormer Biegsamkeit zu tun haben, mutmaßt der Rezensent. Der Roman um ein paar psychologisch geschulte Kommunisten im Ural auf fieberhafter Suche nach dem Neuen Menschen ist laut Heftrich auch in der deutschen Fassung von Regine Kühn sprachlich virtuos, voll grotesker Bilder und Verweise. Dazu gehören auch allerhand "Nebelkerzen", wie Fußnoten ohne Referenztext, deren reine Schönheit der Rezensent bewundert. Iwanows "Bericht aus dem Tollhaus des Kollektivismus" scheint Heftrich jedenfalls nicht allein bemerkenswert, weil der Autor die Rolle der Psychoanalyse im Kommunismus untersucht.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2021

Stalinismus auf der Couch

Ein halbes Jahrhundert lag dieser Roman in der Schublade, und das dürfte ein Glück für den Verfasser gewesen sein. Wsewolod Iwanow beschrieb in seinem 1932 fertiggestellten Buch die sowjetische Gesellschaft auf eine Weise, die ihn wohl ins Straflager gebracht hätte. Nun erscheint "U" auf Deutsch.

U - kürzer kann ein Romantitel nicht sein. Wer einen solchen Titel wählt, der will das Publikum verblüffen, vielleicht sogar Rekorde brechen. Zu dem Autor von "U", dem Sibirier Wsewolod Iwanow (1895 bis 1963), würde so etwas durchaus passen. Bei ihm muss man auf alles gefasst sein: Iwanow büxte als Jugendlicher von zu Hause aus, trat als Zirkusclown, Fakir und Schwertschlucker auf, focht in der Roten Armee, stieß zur Avantgardebewegung der Petrograder "Serapionsbrüder", läutete den Sozrealismus mit ein, kletterte an die Spitze des mächtigen "Literaturfonds", schwamm obenauf durch alle Wellen von Stalins Terror und überlebte, hochdekoriert, den Diktator um eine volle Dekade.

Was an Iwanows jahrzehntelanger Kontorsionsnummer aber besonders perplex macht, ist die Entdeckung, dass dieser Verbiegungsartist nicht nur seine elastische Haut zu retten verstand, sondern tatsächlich auch ein bedeutender Künstler war. Iwanows Roman "U", 1929 begonnen, 1932 abgeschlossen, lag rund ein halbes Jahrhundert in der Schublade, bevor er 1982 in Lausanne und 1990 schließlich in Moskau veröffentlicht werden konnte. Zu Gesicht bekommen hatten das Manuskript bis dahin nicht einmal die engsten Freunde des Autors. Der Gummimensch konnte nicht nur schreiben, er konnte auch schweigen.

Seit das Buch in der Welt - und nun in Regine Kühns sprachgewandter Übersetzung auch auf Deutsch zugänglich - ist, dürfen die Leser darüber rätseln, was sich hinter dem Titel verbirgt: U. Warum U? Iwanow, ein Virtuose des Versteckspiels, lüftet das Geheimnis erst auf Seite 468. Dort schildert der Erzähler Jegor Jegorytsch, Buchhalter einer Nervenheilanstalt, das Saufgelage einer Gruppe von Visionären, die in der psychiatrischen Abteilung eines Baukombinats im Ural den Neuen Menschen formen wollen. Einer von ihnen plant dort bereits die sexuelle Kommune. Und so klingt sie, die sternhagelvolle Avantgarde des Homo sovieticus: "Wirklich, wenn man richtig hinhörte, klang es wie Wolfsgeheul. Alle hatten finstere, strenge Gesichter, breite Nasen, eiserne Backenknochen, waren hager. Besonders beim Refrain gingen alle anderen Vokale unter, es blieb nur ein 'U . . . uuuu . . .'. Mir kam der Gedanke, alles Tiergeheul beruht auf diesem Laut, er war mir zuwider."

Man braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, was mit Iwanow geschehen wäre, wenn sein Roman in den Dreißigerjahren ans Licht der Öffentlichkeit gelangt wäre. Eine Verlegung vom weichen Lager des Spitzenfunktionärs auf ein Nagelbrett im heimischen Sibirien wäre dem einstigen Fakir sicher gewesen. Seine Schilderung des machttrunkenen Mobs, der davon träumt, mit den Mitteln der Psychoanalyse den Menschen zum kommunistischen Rudeltier umzuerziehen, liest sich wie eine groteske Illustration zu Osip Mandelstams Metapher vom "Jahrhundert der Wölfe". Das U hat es in sich!

Vielleicht ist dies der Grund, weshalb dem russischen Text von "U" drei Zitate vorausgeschickt sind, die den düsteren Vokal mit ganz unterschiedlichen Assoziationen aufladen: eines aus der Rhetorik des Universalgelehrten Michail Lomonosow, eines aus Lew Tolstois "Tod des Iwan Iljitsch" und eines von dem Religionsphilosophen Pawel Florenski. Keiner dieser drei Verweise führt ins Sinnzentrum des Romans, sie sind offenbar als Fehlspuren angelegt. Womöglich hat man sich deshalb dafür entschieden, die drei Mottos für die deutsche Ausgabe teils zu tilgen, teils nur in den Fußnoten zu bringen - ein editorischer Eingriff, der einer Begründung bedurft hätte. Wenn Iwanow gleich am Eingang seines Romans drei Nebelkerzen gezündet hat, dann sollten nicht nur Russen sie bestaunen dürfen. Eine glänzende Wahl des Verlages war es hingegen, Alexander Etkind, den Verfasser einer "Geschichte der Psychoanalyse in Russland", um ein Nachwort zu bitten.

Denn dies ist das frappierend Neue an Iwanows fiktivem Bericht aus dem Tollhaus des Kollektivismus: dass er die Rolle beleuchtet, die die Psychoanalyse bei der Errichtung dieser gigantischen Projektion spielte. Über eine mögliche Kreuzung von Freud mit Marx haben sich seit Wilhelm Reich ja viele den Kopf zerbrochen - aber welcher Analytiker hatte schon die Machtmittel, die Früchte einer solchen Verbindung großflächig in der Praxis zu testen? Die junge Sowjetunion bot hingegen ein einzigartiges Labor für derartige Versuche.

Freud sah es mit Skepsis. Doch er konnte nicht verhindern, dass sein analytisches Werkzeug in Russland von Hand zu Hand ging und dabei so zurechtgebogen wurde, dass es eher der Formung des Menschen diente als seiner Befreiung von Deformationen. Besonders die Pädologie geriet zum Steckenpferd der russischen "Freudisten" - in den Zwanzigerjahren noch mit Rückendeckung von höchster Stelle. Und genau hier wurde es brisant für einen wie Wsewolod Iwanow. Denn ein mächtiger Fürsprecher von Freuds Lehre in der Partei war Leo Trotzki, während ein anderer Mächtiger seinen eigenen Sohn in eine pädologische Anstalt geschickt hatte, damit er dort in psychoanalytischer Obhut heranwachsen könne: Väterchen Stalin. Die Bühne, die der ehemalige Clown Iwanow mit seinem Roman betrat, war also, gelinde gesagt, prominent besetzt.

1929, dem Jahr, als Iwanow die Arbeit am Roman aufnahm, kam Wilhelm Reich noch zu Vorträgen an die Kommunistische Akademie nach Moskau. Er konnte die Genossen zwar nicht von der sexuellen Revolution überzeugen, blieb aber unbehelligt. 1931 hatte sich der Wind gedreht. Eine Kampagne gegen "die politischen Perversionen in der Pädologie" wurde lanciert. Und genau in diesem Jahr setzt die Romanhandlung ein. Es ist das Jahr, in dem Stalin die größte Kathedrale von Moskau sprengen lässt, um an ihrer Statt einen gigantischen Palast der Sowjets zu errichten - eine Dauerbaustelle, die uns der Erzähler von "U" immer wieder in Erinnerung ruft. Dieses Leitmotiv macht "U" zu einem Gegenstück von Andrei Platonows fast zeitgleich begonnener "Baugrube", einem der beeindruckendsten und zugleich depressivsten Texte der russischen Literatur.

Iwanow besetzt den genauen Gegenpol; sein Roman strahlt etwas Manisches aus. Eine "hypergewaltige und hyperschnelle, vor allem aber hyperdringliche Baustelle" im Ural muss mit dem passenden Personal versorgt werden: sozialistischen Übermenschen. Aber wie lassen die sich aus unwilligen Nichtsnutzen kneten? Mit Psychotherapie. Ein Triumvirat nimmt sich der Sache an - und was für eines! Dem Alkoholiker Tscherpanow dient die "psychische Bearbeitung der Gesellschaft" als Ersatz für den Kick aus der Flasche; ihm wiederum dient, als "Sekretär eines großen Mannes", der Erzähler, der das Rauchen nicht lassen kann; allen beiden dient der Psychoanalytiker Andrejschin, selbst heillos einer Femme fatale verfallen, mit seinen unorthodoxen Heilmethoden (angetäuschtes Schnurrbartabreißen ist noch eines seiner milderen Mittel). Dieses Konsilium aus Süchtigen will den Neuen Menschen herbeitherapieren.

Natürlich kommt ihnen der alte Adam dabei permanent in die Quere, zumeist in Gestalt von Sehnsüchten, die die Neue Ökonomische Politik in den Menschen hat wiedererstehen lassen. Objekte der Begierde sind ein besonders edler Konfektionsanzug und eine angeblich für den künftigen Kaiser von Amerika geschmiedete goldene Krone. Schatzsucherinstinkte und sozialistische Bewusstseinsbildung durchkreuzen einander - eine Konstellation, die an das ebenfalls 1931 entstandene "Goldene Kalb" von Ilf und Petrow erinnert. Passagenweise liest sich "U", als hätte man diesem Satirikerpaar Kokain gegeben.

Der Clown Iwanow hat seinen letzten postumen Auftritt lange im Geheimen geprobt, und er hat sich für ihn alles zurechtgelegt, was im narratologischen Zirkusbedarf bei den großen Lieferanten erhältlich ist: Petronius, Boccaccio, Cervantes, Sterne, Diderot, Gogol, Belyj, Schklowski - man könnte die Liste schier endlos verlängern. Ein paar seiner Requisiten hat er gleich am Eingang zur Manege in Form von gelehrten Fußnoten ausgestellt - Fußnoten, denen aber gar kein Referenztext entspricht. Man sollte sie als das bestaunen, was sie sind: hübsche, bunte Luftballons. Noch viel staunenswerter ist aber etwas anderes: dass keiner die Löwen in die Manege gelassen hat. URS HEFTRICH

Wsewolod Iwanow: "U". Roman.

Aus dem Russischen von Regine Kühn. Mit einem Nachwort von Alexander Etkind. Friedenauer Presse, Berlin 2021. 559 S., geb., 28,- Euro.

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