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Jürg Amanns neuer Prosaband ist ein literarisches Requiem
"Rondo" hieß das Prosastück, mit dem Jürg Amann 1982 zum Klagenfurter Wettbewerb gekommen war. Er las als letzter der Autoren, am Sonntag morgen. Und schon nach den ersten Seiten war den meisten Juroren und Zuhörern klar: Der Ingeborg-Bachmann-Preisträger dieses Jahres ist gefunden. In "Rondo" wird der erzwungene Dienst des Erzählers an der schwerbehinderten Mutter zum Albtraum; sogar das Motiv von der Rückkehr in den Mutterschoß ist angedeutet. Und obwohl sich die Angstsituation tatsächlich als bloßer Traum enthüllt, bleibt eine Aggressivität des Sohns gegen die Eltern ungemildert.
Dem schweizerischen Schriftsteller Jürg Amann wurde nach dem Triumph in Klagenfurt, trotz weiterer Literaturpreise, kein roter Teppich ausgerollt. Nicht eben zu Leitsternen, wohl aber zu Ratgebern wählte er Franz Kafka (über den er promoviert hatte), Robert Walser und Thomas Bernhard, ohne sich ganz auf die Konsequenzen ihres Schreibens einzulassen. Aber den "Chronisten geschundener Existenzen" hat man ihn genannt. Immer nimmt der Erzähler im Leben auch "die Spuren des Todes" wahr.
Beide Motive, Marter und Nähe zum Tod, gehen auch in den neuen Prosaband "Mutter töten" ein. Doch zentrieren sich die vier untereinander verknüpften Erzählungen alle um das Mutter-Sohn-Verhältnis und weisen so zurück auf das Prosastück "Rondo". Im Titel "Mutter töten" kündigt sich sogar eine Aggressivität des Sohns wieder an. Aber dieses Signal täuscht. Alle vier Prosastücke werden erzählt aus der Perspektive des Sohns. Im ersten, "Die Reise", ist das Kind Zeuge der Erniedrigung der unehelich geborenen Mutter. Sie muß nach dem Tod ihres Vaters, der sie in seiner Familie verleugnet hat, um den versprochenen Erbschaftsanteil betteln und wird vor die Tür gewiesen. Im Bericht über die Reise aus der nördlichen Schweiz ins italienische Tessin steht die ruhige, gesammelte Landschaftsbeschreibung in wohltuendem Gegensatz zur "Poesie" der Tourismus-Prospekte. Die zweite Erzählung trägt den Titel "Nachtstück". Die Wahrnehmung nächtlichen Streits der Mutter mit dem Vater schlägt in Phantasien von der schrecklichen Verstümmelung ihres Körpers um.
Auch im dritten Text, der Titelerzählung "Mutter töten", bedrängen den Sohn Vorstellungen von möglichen Todesarten der Mutter; hier jedoch werden sie ausgelöst durch ihre Bitte um Sterbehilfe. Der vierte Text schließlich, "Requiem", macht das Sterben selbst zum Gegenstand des Erzählens. Amann setzt vor dieses "Requiem" als Motto den Schlußvers aus Brechts Gedicht "Meiner Mutter": "Wieviel Schmerz brauchte es, bis sie so leicht ward."
Wie die Phasen des Sterbens - bis zum letzten "Weinkrampf des Kinns" - vergegenwärtigt werden, wie sich dem Erzähler später beim Anblick des Totengesichts das Bild vom eingebundenen Kopf der Uta aus dem Naumburger Dom aufdrängt, wie Amann den ernstesten aller Vorgänge in Sprache bringt, ohne auf Rührung zu spekulieren - alles dies sind Zeugnisse künstlerischen Gelingens. Hätte er es nur dabei belassen! Aber er wollte höher hinaus. Die Texte zu den sieben Phasen des Sterbens überschreibt er jeweils, in lateinischer Sprache, mit Christi letzten Worten am Kreuz. So erhebt er das Sterben zu religiösem Märtyrertum, sakralisiert die Gestalt der Mutter. Wohlfeil werden hier die Bibelworte. Sie umkränzen eine sehr körnige, körpernahe Sprache mit Devotionalienpoesie.
WALTER HINCK
Jürg Amann: "Mutter töten". Haymon Verlag, Innsbruck 2003. 112 S., geb., 15,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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