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Drei Helden, die einen heiklen Punkt in ihrer Vergangenheit haben, ein seelisches Desaster. Sie erzählen vom Mann, von der Frau und vom sich zuspitzenden Verhältnis der Generationen. Niemand, der hier nicht an einem bestimmten Punkt seines Lebens dem Tod begegnete.
Ein langes Wochenende in der Schweiz, mit Wandern und Lektüre ausgefüllt - so hat es sich der Kleinunternehmer Jobst Böhme aus Hamburg vorgenommen. Bald sitzt er auf einer Bank, unter den Himmeln der Bergwelt, und greift zum ersten der drei unveröffentlichten Manuskripte, die ihm ein befreundeter Schriftsteller mitgab. Doch…mehr

Produktbeschreibung
Drei Helden, die einen heiklen Punkt in ihrer Vergangenheit haben, ein seelisches Desaster. Sie erzählen vom Mann, von der Frau und vom sich zuspitzenden Verhältnis der Generationen. Niemand, der hier nicht an einem bestimmten Punkt seines Lebens dem Tod begegnete.

Ein langes Wochenende in der Schweiz, mit Wandern und Lektüre ausgefüllt - so hat es sich der Kleinunternehmer Jobst Böhme aus Hamburg vorgenommen. Bald sitzt er auf einer Bank, unter den Himmeln der Bergwelt, und greift zum ersten der drei unveröffentlichten Manuskripte, die ihm ein befreundeter Schriftsteller mitgab. Doch schnell wird aus der Lesereise eine Odyssee in die Innenwelten dreier Figuren, eine Slalomfahrt durch die Psyche der Zeitgenossen.

Denn die Helden dieser drei Geschichten, sie haben alle einen heiklen Punkt in ihrer Vergangenheit, ein seelisches Desaster. Und deshalb einen schwer ergründbaren Schuldkomplex, der ihnen als dunkle Macht in den verschiedensten Verkleidungen begegnet. Böhme, zuerst nur mäßig interessiert, wird hineingezogen in gefährdete Lebensverläufe, in schlechte Trips. Und auch er selbst beginnt, die Begegnungen seiner Reise zu fürchten. Das Unterste seiner harmlosen Seele kehrt sich nach oben.

»Der andere aber erstarrte durch Jobsts unerwartete Drehung mitten in der Attacke. So standen sie.«

Autorenporträt
Kronauer, BrigitteBrigitte Kronauer, 1940 in Essen geboren, lebte als freie Schriftstellerin in Hamburg. Ihr schriftstellerisches Werk wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis der Stadt Berlin, mit dem Heinrich-Böll-Preis, dem Hubert-Fichte-Preis der Stadt Hamburg, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Jean-Paul-Preis ausgezeichnet. 2005 wurde ihr von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung der Büchner-Preis verliehen. Brigitte Kronauer verstarb im Juli 2019.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.09.2007

Verführung mit kandiertem Ingwer
Kunstvoll, originell, empfindsam: Der neue Roman von Brigitte Kronauer
Ein errötender Mörder ist ja eigentlich ein Unding. Dass einem solchen das Schamgefühl die Wangen färbt, glaubt man fast ausschließen zu dürfen; und selbst wenn, so käme dieser Hauch kaum in Betracht neben dem so viel kräftigeren Ton des vergossenen Bluts an seinen Händen.
Brigitte Kronauer stellt ihrem Leser also ein Paradox in Aussicht, wenn sie ihrem Roman den Titel „Errötende Mörder” gibt, etwas zart Robustes. Auf sympathisch altmodische Art baut die Autorin eine Rahmenhandlung und füllt sie mit drei selbständigen Erzählungen. Der Computer- und Schreibwarenhändler Jobst Böhme, 39 Jahre alt und in Hamburg ansässig, fühlt sich, obwohl die Scheidung von seiner Frau Ellen und die Neuvermählung mit seiner süßen russischen Angestellten Natalja ansteht, innerlich trotzdem wie ein „Pappkamerad” – so sehr, dass er Berührungen fürchtet, bei denen seine Haut ein papieren schleifendes Geräusch hervorbringt. Ein Schriftsteller seines Bekanntenkreises, dem er als einzigem diesen Zustand beichtet, bietet ihm Hilfe an: Jobst solle doch für ein paar Tage in dessen Schweizer Chalet Urlaub machen; und im Gegenzug möge er die Zeit dafür nützen, um sich seine drei neue Kurzromane zu Gemüte zu führen. Sie tragen die Titel: „Der böse Wolfsohn oder das Ende der Demokratie”, „Errötende Mörder” und „Der Mann mit den Mundwinkeln”. Jobst tut es, wandert jeden Tag ins Hochtal hinein, sucht sich ein ruhiges Plätzchen und beginnt zu schmökern. Am Ende, nachdem er an einer gefährlichen Klamm dem Mordanschlag eines widrigen Naturburschen knapp entronnen ist, geht mit dem Protagonisten eine Veränderung vor sich, die der Leser mehr ahnt, als dass sie ihm mitgeteilt würde. Ob Ellen wirklich so schlimm war? Was ihn an ihr so rasend gemacht hat, das war ihre Angewohnheit, den kleinen Finger abzuspreizen. Aber lässt sich das nicht vielleicht verzeihen? Zumal Jobst vor seinem geistigen Auge sieht, wie der hinterlistige Schriftsteller die kleine Russin in Abwesenheit ihres Herrn und Meisters mit kandiertem Ingwer endverführt. . .
Alle diese herrlichen Sachen
Man hat es also, obwohl in diskreter und nicht unironischer Form, mit einem Entwicklungsroman zu tun. In ihn betten sich, im Hochgebirge durchzustehen wie die drei Versuchungen Jesu in der Wüste, die drei kürzeren Erzählungen. Sie sind durchweg düsterer getönt als ihre mindestens halbheitere Folie. Wahrscheinlich brauchen solche verschleierten Gemmen eine polierte Fassung, damit ihr Anblick nicht schwermütig macht. Dass dies nicht geschieht, liegt an der Kunst Kronauers, die sich vor allem auf der Ebene des Satzes, höchstens Absatzes betätigt und vergessen lässt, wie sehr die Geschichte in engen Windungen der Tiefe zustrebt. So verliert man auch nicht die Geduld mit dem Messie, dem Ich-Erzähler der ersten Geschichte, der von seiner krankhaft geizigen Lebensgefährtin verlassen wurde und nun kaum noch einen Pfad durch die mit Sammlungen aller Art vollgemüllte Wohnung findet; wenn es klingelt, öffnet er nicht mehr. Aber er vermag noch sehr wohl für sich zu sprechen und seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen:
„Alle diese herrlichen Sachen in den Schaufenstern, in den Warenhäusern! Das muss gerettet werden, denn schon ein Jahr später, ein halbes gelegentlich, ist nicht mehr lieferbar, was mich jetzt so entzückt, diese kleinen Meisterleistungen, und seien es schräge, als Raketen konzipierte Bleistifte, Armbanduhren, billig, aber vom Design her Geniestreiche, die es nie vorher gegeben hat, die mich trösten. Angesichts der maulaufreißenden Hässlichkeit der Welt, ihrer Generalscheußlichkeit: diese zarten, kühnen Blüten der Erfindungskunst. Wie sie mich verblüffen, wie es mich zu ihnen treibt, wie ich sie besitzen muss, nicht aus Gier, oder wenn, ist es die Gier, es zu beschützen, zu erlösen, sie aus dem Schutt und Schrott ihrer Umgebung in mein Reich zu leiten, unter meinen Schutz und Schirm und Schutzmantel.”
Wie hier aus Schutt und Schrott der Schutz und Schirm hervorgeht! Das Abseitige gewinnt uns durch Noblesse. Und ist es nicht wirklich eine Schande, dass all dies, die schönen Uhren und Bleistifte, als bloßes Stoffwechselprodukt der Warenwelt zugrundegehen soll? Was auf den ersten Blick so unappetitlich anmutet wie gehortetes Exkrement, gibt sich als verzweifelt unzulängliches Gefäß und Gedächtnis der verstoßenen Dinge zu erkennen. Jeder hat ja so recht – diesem Wahrspruch, der sonst als Motto über den Stammtischen schwebt, ein spöttischer Stoßseufzer, verhilft Kronauer zu seiner Geltung vollauf. Es ist ein Stil der Aus- und Ansprache, wach, sorgsam, empfindlich, von dem man sich vorstellen kann, dass er dem Briefeschreiben entwuchs, dem Briefeschreiben einer Dame – als die man sich Brigitte Kronauer, ohne ihr zu nahe zu treten, gewiss denken darf. Dazu gehört auch der Takt, der die heiklen Dinge, zum Beispiel die Inkontinenz des Alters, indem er sie nennt, doch mit Schonung umfängt. Auch das Kokette fehlt nicht ganz, und man sollte es der Autorin nachsehen wie der Gattin ihren abgespreizten kleinen Finger; den letzten der drei Kurzromane leitet der wenig deutlich werdende Schriftsteller für den Leser Jobst mit der Bemerkung ein: „Weibliche Erzählperspektive, Risiko für mich als Mann, klar!”
Es ist, wie man bald versteht, ein Risiko auch für eine Autorin; denn es agiert und erzählt eine Frau von jener schwer erträglichen Sorte, die sich selbst als Opfer und Heilige begreift. Ihr Name lautet wahlweise Petunia oder Petrulla, womit eigentlich schon alles gesagt ist. Und doch kommt auch sie, indem sie redet, zu ihrem Recht, durch einen kleinen Trick. Als unlizenzierte Kirchenführerin deutet sie einem älteren Touristentrupp, nebelkrähenhaft trotz krachbunter Wanderkleidung, einen bis zur Unkenntlichkeit verwitterten Reliefzyklus im Sinn ihrer eigenen Biographie. So lernen diese Rentner, ehe sie zu ihrem wohlverdienten Schnitzel im Gasthaus kommen, die Geschichte von dem Mann mit den Mundwinkeln kennen, an dessen Gestalt ein stolzer, herrischer Gram jede Linie nach unten gezogen hat: Wie Petunia ihm begegnet, wie sie seine stumme Forderung stumm zurückweist, wie er sie mit Gewalt nehmen will und wie ihre schließliche Bereitschaft ins unglückliche Missverständnis mündet; wie sie am Ende seinen Leichnam auf ihrem Schoß birgt, erfüllt von Reue. Das ist so kunstvoll, schlau und rührend eingefädelt, dass es der säuerlichen Keuschheit ein Arom von Weihrauch beimischt.
Nur der mittlere der drei Binnenromane ermüdet ein wenig. Ein etwas vulgärer junger Elektriker gerät aus Versehen in den Ausflugsbus eines Pflegeheims und muss nun wohl oder übel die ihres Sinnzusammenhangs entleerten Reden seiner betagten und verwirrten Mitpassagiere erdulden. Wenn Frau Hartriegel immer noch ein Brocken von Goethe einfällt und Herr Wurz sich durch den Anblick von blühendem Raps zu dem Ausruf: „Raps, Raps, Raps!” hinreißen lässt, kann es auch einem wohlwollenden Leser auf die Dauer zu viel werden. Dass dieselben Pflegefälle dann in einem jähen Wechsel des geistigen Aggregatzustands auf einmal tiefe Altersweisheiten von sich geben, leuchtet so wenig ein, wie dass der Elektriker (sein Name ist Sven Strör) zwischen Hamburg und Fehmarn an einem einzigen Nachmittag um vier oder fünf Jahrzehnte altern soll.
Raps, Raps, Raps
Aber darauf kommt es zuletzt nicht an. Denn sogar noch der Tristesse dieser geschlossenen Ausflugsveranstaltung vermag Brigitte Kronauer das Unerwartete zu entbinden, mit einer plötzlichen Kraft, als bräche die Sonne durch eine Gewitterfront: „Ihr Insassen, ihr Guten und Armen, ihr unsere Besten: Ist der Raps, der süß duftende und allseits brummende, nicht eine Art ewige Seligkeit? Einförmiger Trichter, wenn man nur lange genug draufglotzt, goldene Matte, die schließlich die ganze Insel bedeckt oder frisst? Göttliche Konzentration durch Monotonie, die das Eigentümliche eures menschlichen Daseins, die entsetzliche Zerstreutheit, beendet? Etwas, das euch schließlich die Erlösung, nämlich eine Besessenheit schenkt, ein grell gelbes Nichts, dem ihr mit jeder Faser zustreben könnt wie irrsinnig geworden, bis es euch verschlingt und alles Leben mit euch und alles nur noch eine säuselnde Wüstenei, ein träumerischer Rohstofflieferant ist namens Raps, Raps, Raps?”
Wer hätte gedacht, dass das unspektakuläre Fehmarn eine solch todesmystische Erfahrung bereithält! Ja, dieses Buch ist ein Werk Norddeutschlands. Für die zackigen Unregelmäßigkeiten der Schweizer Alpen findet es amüsierte Worte, aber zur Hochform läuft es an der Flachheit der Küste auf und zaubert über das platte Land einen überschwänglichen Himmel.BURKHARD MÜLLER
BRIGITTE KRONAUER: Errötende Mörder. Roman. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2007. 333 Seiten, 21,50 Euro.
Ist der Raps, der süß duftende und allseits brummende, nicht eine Art ewige Seligkeit? Foto: dpa
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2007

Verdacht auf Eigenblutdoping grundlos
Selbstironisch: Brigitte Kronauers Roman "Errötende Mörder" / Von Patrick Bahners

In einem Reisebus, unter bröckelnden Greisen und faulenden alten Schachteln, sitzt die stolze Frau Pulsatilla, die einmal so schön gewesen ist, dass Männer dafür zahlten, mit ihr zusammenzusein. Sie trägt den Namen einer Blume, über die im "Illustrierten Heil-, Gift- und Nutzpflanzenbuch" des Dichters Adelbert von Chamisso steht: "Diese Pflanze, die ehedem officinall gewesen, besitzt eine ausnehmende Schärfe; wenn man ihren Saft auspresst, reichen dessen Ausdünstungen hin, die Augen zu entzünden und mit Tränen zu füllen." Die Wurzel der lateinischen Bezeichnung, "pulsare", "schlagen", spielt auf die Glockenform der Blüte an. Die deutsche Übersetzung ist eine poetische Verdeutlichung: Kuhschelle. Was hören wir da läuten?

An Frau Pulsatilla und ihren Reisegenossen, die nichts mehr bei sich behalten, ihre Spucke nicht und ihre Lebensgeschichten nicht, drängt sich, der Bus ist schon fast am Ziel, ein geistlicher Herr vorbei, der keinen Trost spendet, sondern für jedermann, den Orientalisten Felberich und den Neurologen Eibisch, die Toilettenfrau Bärlapp und die Fernsehansagerin Fingerhut, nur das Sätzchen übrig hat: "Tut mir leid, ich kann nicht alle Namen behalten." Ein Lauer ist dieser Glaubensverwalter, den der Bus ausspeien wird. Er liest nur selten im Buch der Natur und hat vergessen, dass dessen Autor mit seinem Schöpfer identisch ist. Denn dort sind im botanischen Teil alle Ausflugsteilnehmer verzeichnet. Gott der Herr hat sie nicht nur gezählet wie die Heizdeckenmarktforscher und Pflegebettenbedarfsberechner, er hat sie bei ihren Namen gerufen. Trespe nennt sich der Land- und Stadtstreicher wie das Süßgras, das im Mai und Juni an Wegrändern und auf Schuttplätzen in ganz Deutschland anzutreffen ist. Nah verwandt ist ihm der frühere Bürgermeister und noch frühere Karnevalsprinz Briza - wie das Zittergras. Und der Prälat selbst prunkt standesgemäß mit einem lateinischen Namen: Rumex, zu deutsch Ampfer.

Es ist ein Schnitter, heißt der Tod. Seine Gewalt hat er vom großen Gott, seine Waffen aber von der Gesellschaft, dem großen Götzen. Wer diese Kaffeefahrt gebucht hat, tat das, allem Fortschreiten der Demenz trotzend, im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass der Pott ohne Koffein, der auf der Insel Fehmarn auf jeden Businsassen wartet, der letzte sein kann. Die Ausgesonderten und Abgeschobenen rücken zusammen, an denen die Welt keinen Nutzen mehr entdecken will, wie die Medizin der Apparate nicht mehr auf den Gedanken kommt, die Kuhschelle offizinal, also als Heil- oder Giftmittel, zu gebrauchen. Dabei kann es schon heilsam sein, eine Pflanze beim Wachsen und Welken bloß zu betrachten oder einem alten Menschen einfach zuzuhören. Ruth Bärlapp, der Klofrau, deren Eltern ein großes Möbelgeschäft besaßen, löst die Chefsekretärin Hartriegel die Zunge, als sie das Lied "Weißt du, wieviel Sternlein stehen" anstimmt, das nämlich auch die Bärlapp gesungen hat, als sie die Möbel im elterlichen Geschäft saubermachte und noch keine fremden Toiletten. Dass die auf dem Teller klingelnden Münzen die Sängerin honorierten und nicht die Reinigungskraft, bildet sie sich ein, und wenigstens im Bus versetzt die Metamorphose das Publikum in gebührendes Erstaunen. "Selbst Strör bemerkt das Erblühen der Frau und starrt sie tief verwundert an."

In der Naturheilkunde werden mit Bärlapp schlecht heilende Wunden behandelt. Die wundersame Spätblüte der unter dem Wappen dieses Krautes reisenden Frau und ihrer Gefährten schildert die Mitteltafel des Novellentriptychons, als welches sich der jüngste Roman von Brigitte Kronauer darstellt. Die Figuren der durch eine Rahmenhandlung verbundenen Geschichten sind mit Wunden geschlagen, die die Zeit nicht heilen kann. Linderung verschafft in solchen Fällen eine Arznei, die zunächst wie ein Gift wirkt, die das Leiden sublimiert, indem sie die Qual verlängert: das Erzählen.

Jener Strör, der zunächst gar nichts hat bemerken wollen und sich später um so tiefer verwundert, weil er nur zufällig in den Reisebus gestiegen ist, den er mit einem Linienbus verwechselte, ein nicht mehr junger, bei Abfahrt aber auch noch nicht alter Mann, lernt das Erzählen im Laufe der Fahrt. Als die Hartriegel einen Schrei ausstößt, weil der ewige Wechsel von Piercing-Studio, Autosalon und House of Hair am Bundesstraßenrand plötzlich von einem riesigen Schrottplatz unterbrochen wird, da ist es Strör, der, aus eigenem Berufserleben schöpfend, "ihr erzählt, sie solle sich nicht grausen, das dort sei gar nicht schlimm". Und Strör, der zuletzt Fahrstühle in Schuss gehalten hat, also ein Fachmann für die Bewegung auf der Stelle ist, macht die Erfahrung der Perspektivumkehr, die sich einstellt, wenn man sich auf den Weg des Erzählens gemacht hat. "Allerdings kam es dir kurz nach deiner Erklärung so vor, als würdest du nicht mehr Tattoo, Tankstelle, Gasthof draußen entgegenfahren, sondern laufend von ihnen weg, dich immerzu von Baumarkt und Bauernhof, die dir doch entgegenstürzten, entfernen, ihnen nachblicken, sobald sie sichtbar wurden."

Die Stimme, die Strör duzt, weiß, wovon sie spricht. Sie gehört einem olympischen Erzähler - im Wortsinn. Einmal stellt die Bärlapp die Frage in den fahrenden Raum: "Was halten Sie von Olympia?" Da folgt die Anweisung: "Achtung, jetzt redet sie von uns, bitte alle die Ohren gespitzt!" Die Geschichte von "Errötende Mörder", der zentralen Novelle, die dem ganzen Roman den Titel gibt, wird einer Gesellschaft von Göttern erzählt, die sich am Nichtwissen der Menschen delektieren. Am Ende wissen sie doch nicht alles. Der Tod im Rapsfeld ist den Buspassagieren zugedacht, in letzter Entgrenzung und völliger Haltlosigkeit sollen die uralt gewordenen Blumenkinder aufgehen unter Artverwandten, der Kreis von Werden und Vergehen soll sich schließen. Strör aber erblickt ein Schiff und beginnt ein neues Leben, von dem die Götter nach eigener Aussage keine Ahnung haben. So ist ihr Weltüberblick nur die metaphysische Verschleierung des phantasielosen Zynismus jener Gesellschaft, die mit den Alten nichts mehr anfangen kann.

Das Erröten der Mörder wird als Eigenart der Schurken Dashiell Hammetts ins Spiel gebracht. Diese geniale Erfindung oder Beobachtung des Romanschriftstellers, der als Inbegriff des kaltblütigen Erzählers gilt, wirft ein moralpsychologisches Rätsel auf, das sich auch auf die Haltung des Autors erstreckt. "Kann man absichtlich rot werden, um Ermittler oder Leser in die Irre zu führen?" Oder ist es ein Fehlschluss vom Schreiben auf das Leben, wenn der fehlerfrei kalkulierende Verfasser seinen Personen in jedem Moment Absichtlichkeit unterstellt? Brigitte Kronauers Kunstfiguren sind perfekt konstruiert und geben bisweilen ihre Abkunft von den Automaten und Puppen der Romantik zu erkennen. Aber jederzeit kann ihnen Blut ins Gesicht schießen, das nicht in Ampullen Freiburger Hexendoktoren zwischengelagert werden musste. Tarnung ist verräterisch: Dieser ursprüngliche Einfall erzählerischer Ironie sprengt bei Brigitte Kronauer sein Gehäuse, die aufgeklärte Psychologie der Entlarvung. Denn mit schönster Regelmäßigkeit widerfährt es dem Leser, dass er vom Wiedererkennen übermannt wird. Er hat es zwar von der ersten Seite an auf Identifikation angelegt. Doch es ist ein Schock, in dem Lust und Peinlichkeit nicht zu trennen sind, wenn er sich gestehen muss: Von dir erzählt die Fabel.

Das Gerücht, Brigitte Kronauer übertreibe es mit der Selbstreferenz, sollte dieser hochkomische Roman aus der Welt schaffen. Seine Episoden sind nicht brav aus dem Leben gegriffen, sondern haschen frech nach dem Leben, nach Erinnerungsfetzen und Zeitgenossenschaftsflocken, so dass auch dem "Fußballer, den sie Effe nennen", die Ehre der Verewigung zuteil wird - weil das Leben selbst ein solches Haschen ist, in dieser so grotesken wie rührenden Bewegung erst hervorgebracht wird. Wer in der Reflexion nicht die der menschlichen Gattung eigene Vitalität zu erkennen gestimmt ist, der scheint für Brigitte Kronauers Bücher allerdings verloren. Selbstbezüglichkeit vollendet und läutert sich in der Selbstironie. Auch die erste und die letzte der drei Novellen widmen sich der Kritik der Erzählinstanz. "Der böse Wolfsen oder Das Ende der Demokratie" ist das Protokoll eines besessenen Sammlers, der sich wie Brigitte Kronauer in ihrer Büchnerpreisrede der Rettung des Individuellen verschrieben hat, kulturkritische Tiraden schwingt und seine Umwelt in eine mathematische Ordnung zwingt wie die Autorin die Welt ihrer ersten Romane. "Der Mann mit den Mundwinkeln" parodiert das Verfahren der Legendenbildung im großen Liebesroman "Teufelsbrück".

Die drei Kleinromane im neuen Roman liest vor uns der Held der Rahmenerzählung, ein Schreibwarenhändler, der die einfachsten literarischen Anspielungen nicht erkennt. Obacht, lieber Mitleser: Auch auf diesem unbeschriebenen Blatt findest du deine Geschichte.

Brigitte Kronauer: "Errötende Mörder". Roman. Klett-Cotta, Stuttgart 2007. 344 S., geb., 21,50 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Selbst wenn Brigitte Kronauers Sprache keine Berge versetzen sollte, löst sie immerhin die Sehnsucht danach aus, konstatiert Rezensentin Kristina Maidt-Zinke und sieht damit die Autorin hoch über dem "Hügelrevier der Mehrheit zeitgenössischer Erzähler" schweben. In ihrem neuen Roman verschachtelt sie drei Binnenerzählungen, in der Rahmenhandlung geht es um einen Mann in einer veritablen Lebenskrise, der zur Besinnung in einer Schweizer Chalet fahren will und dort drei Geschichten Korrektur lesen soll - unter anderem die titelgebende "Errötende Mörder". Der Rezensentin begegnen in dem Buch nicht nur die typischen ambivalenten Kronauer-Figuren, sondern auch wunderbare Formulierungen wie die "maulaufreißende Hässlichkeit der Welt" oder ihre "Generalscheußlichkeit". Für Maidt-Zinke einfach "ein Kunstwerk".

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