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Vielleicht ist das überhaupt das Wesen der Arbeit: Dass sich stets - so schön diese Arbeit auch sein mag - eine zweite Person in einem regt, die nicht arbeiten will. Und fehlt dieses Nichtwollen in einem drin bei einer Tätigkeit, dann handelt es sich nicht um Arbeit. Lipa ist dreizehn, und sie ist Mitarbeiterin des Monats in einem Familienunternehmen der besonderen Art. Gemeinsam mit dem Vater und ihrem kleinen Bruder, dem einarmigen Berti, durchforstet sie die Industrieruinen der Schwarzwaldtäler nach verwertbaren Stoffen, Tantal und Wolfram etwa, denn die, sagt der Vater, «werden uns…mehr

Produktbeschreibung
Vielleicht ist das überhaupt das Wesen der Arbeit: Dass sich stets - so schön diese Arbeit auch sein mag - eine zweite Person in einem regt, die nicht arbeiten will. Und fehlt dieses Nichtwollen in einem drin bei einer Tätigkeit, dann handelt es sich nicht um Arbeit.
Lipa ist dreizehn, und sie ist Mitarbeiterin des Monats in einem Familienunternehmen der besonderen Art. Gemeinsam mit dem Vater und ihrem kleinen Bruder, dem einarmigen Berti, durchforstet sie die Industrieruinen der Schwarzwaldtäler nach verwertbaren Stoffen, Tantal und Wolfram etwa, denn die, sagt der Vater, «werden uns besonders reich machen». Er sagt: «Heute ist Spezialtag.» Und: «Schmerzen müssen wir ertragen können. Das ist das Gesetz des Unternehmertums.»
Davon, aber auch von Lipas Liebe zum langen Nasen-Timo, vom Aufbegehren und von den unvermeidlichen Verschiebungen im Familiengefüge erzählt Matthias Nawrat in kaum je gehörten Sätzen. «Unternehmer» sucht nach dem Wert und dem Wesen der Arbeit, derFamilie, der Liebe, überhaupt der Beziehungen untereinander und berichtet davon mit den Mitteln der Poesie: witzig, warmherzig und auch weise. Dass Matthias Nawrat als Erzähler die Menschen kennt, als Naturwissenschaftler aber auch die Dingwelt und ihre Gesetze, hält dieses Unternehmen mühelos am Boden der Tatsachen.
«Ein grandioser Auftakt», befanden Jury und Publikum des Bachmann-Preises über das erste Kapitel dieses abenteuerlichen Coming-of-Age-Romans, der zugleich Parabel ist auf die Welt der Werktätigen und eine dunkle Liebeserklärung an den Schwarzwald.

Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Matthias Nawrat, 1979 im polnischen Opole geboren, emigrierte als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg. Für seinen Debütroman «Wir zwei allein» (2012) erhielt er den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis; «Unternehmer» (2014), für den Deutschen Buchpreis nominiert, wurde mit dem Kelag-Preis und dem Bayern 2-Wortspiele-Preis ausgezeichnet, «Die vielen Tode unseres Opas Jurek» (2015) mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises sowie der Alfred Döblin-Medaille. «Der traurige Gast» (2019) war unter anderem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2020 erhielt Matthias Nawrat den Literaturpreis der Europäischen Union. «Reise nach Maine» (2021) ist sein fünfter Roman. Zuletzt erschien der Gedichtband «Gebete für meine Vorfahren» (2022), ausgezeichnet mit dem Fontane-Literaturpreis der Stadt Neuruppin.
Rezensionen
Es ist selbst eine raffinierte sprachmimetische Schattenwirtschaft, die Nawrat da äußerst virtuos in Schwung hält ... So bringt der Wertstoffhof des durchökonomisierten Lebens zugleich sein eigenes Gegenteil hervor: wahre Werte. Süddeutsche Zeitung
"Der herrliche Erzähler Matthias Nawrat hat uns eingewickelt, im besten dichterischen Sinn." -- Feridun Zaimoglu in seiner Laudatio zum Chamisso-Förderpreis 2013

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

In Matthias Nawrats Roman "Unternehmer" heißt es an einer Stelle "die Familie ist eine Kapitalgesellschaft", zitiert Rezensentin Alexandra von Arx, und gerade darin besteht die Grundidee dieses Buches, erklärt sie: eine Familie wird durchdrungen von der Sprache und den Denkmustern der Wirtschaft, auch als Familienmitglied ist der Mensch Homo Ökonomikus, so von Arx. Nawrats Geschichte sei damit im Kern sicherlich kapitalismuskritisch, durch die Überspitzung wirke sie aber auch fremd und ein wenig fantastisch. So wird das Empfinden moralischer Ambitionen auf angenehme Weise relativiert, ohne es gleich ganz fallen zu lassen, lobt die Rezensentin.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2014

Wir nennen es Arbeit
Matthias Nawrats Roman „Unternehmer“ erzählt virtuos vom Zusammenhang zwischen Warenwerten und wahren Werten
Während die Öffentlichkeit über Dinge wie Work-Life-Balance, Burnout oder Email-Sperre nach Feierabend diskutiert, also über die Selbstausbeutung der Eliten, dreht der Erzähler Matthias Nawrat die Perspektive um: Sein zweiter Roman handelt von einer Unternehmerfamilie am unteren Ende der sozialen Leiter, die sich ebenfalls überidentifiziert mit der Konkurrenzwirtschaft. Mitarbeiterin des Monats ist regelmäßig die dreizehnjährige Ich-Erzählerin Lipa, mit Fleiß gemobbt von ihrem Bruder Berti, der in der Firmen-Hierarchie gerne aufsteigen würde zum Assistenten des Vaters. Im Mercedes klappern die drei die Industriebrachen der Gegend ab, um den Elektroschrott auszuschlachten, den Globalisierung und Finanzkrise hervorgebracht haben. Die wertvollen Stoffe wie Wolfram und Tantal werden im heimischen Kellerlabor herausgekocht und im sogenannten Paradies, beim Schrotthändler mit den „Öllappenhänden“, gegen „Klimpergeld“ eingetauscht.
  Aus den Dingen, die andere Leute wegwerfen, wieder das Beste herauszuholen, ist ihr parasitäres Geschäftsmodell. Denn man spart auf die Auswanderung nach Neuseeland, dem wahren Paradies. Der Schwarzwald ist nur eine Transitstation für die Familie mit nicht benanntem Migrationshintergrund. „Unternehmensfreie Zeit“ wird daher nicht gewährt, schon gar nicht an „Spezialtagen“, „Müdigkeit ist was für Arbeitslose“, und „in der Schule lernt man nichts, was man fürs Leben braucht“. „Entweder man ist Unternehmer oder nicht“, sagt der Vater. Das deutsche Arbeitsethos, es ist bis zur Selbstaufopferung verinnerlicht. Dass ihm ein Arm fehlt, erklärt Berti zum unternehmerischen Kollateralschaden. Miteinander spricht die Familie wie bei einer Führungskräftetagung, es geht um Highperformance unter den Bedingungen des Prekariats.
  Allerdings schläft auch auf dem zweiten Arbeitsmarkt die Konkurrenz nicht, das Geschäft wird schwieriger. Und außerdem regen sich bei Lipa mittlerweile andere Triebe jenseits des Erwerbs, seit ihr Blut „da unten“ rausläuft. „Daran merkst du, dass du ein verletzliches Herz hast“, sagt sie. Lipa fühlt sich hingezogen zu dem langen Nasen-Timo, der bei einer „Raucherin“ aufwächst. Vom vielen Gift selbst ganz giftig geworden, probiert sie das Lampenkabel an ihm aus. Striemige Landkarten zieren seinen Rücken. Man schmiedet gemeinsame Fluchtpläne, in ein sagenhaftes Land irgendwo hinter der Autobahn soll es gehen. Doch nach einem besonders riskanten Beutezug muss Lipa lernen, unternehmerische Verantwortung zu übernehmen, und das ist in diesem Fall die denkbar beste Definition von Familiensinn.
  Denn die Uneigentlichkeit des Bewusstseins, das sich in der Sprache des Romans abbildet, dient ihm als Hohlform humaner Emphase. Und aus seiner Leugnung leuchtet das Menschliche um so reiner hervor. Nawrat hat für seine Lipa eine Privatsprache erfunden, in der das magische Denken der Kindheit ebenso kurios wie furios amalgamiert wird mit einem rührend unbeholfenen amtsdeutschen Nominalstil, dessen sich die integrationswilligen Einwanderer befleißigen. In dieser Kunstsprache heißen Zigaretten beispielsweise „Giftige“, und die Komplimente, die der Vater der Mutter macht, werden durchweg als „Köstlichkeitsbescheide“ bezeichnet.
  Vor allem für die technische Dingwelt findet der studierte Naturwissenschaftler Nawrat eine poetisierende Motivik, die deutsche Schwarzwald- und Märchenromantik zugleich dystopisch konterkariert und fortschreibt. Da wird aus einem Handy „ein Kästchen aus schwärzestem Tantal-Molybdän“, und chemische Elemente haben ihren personifizierten Auftritt: „Tantal und Wolfram, sagt der Vater, werden uns reich machen“, als seien das zwei wohlhabende Verwandte aus Übersee. Es gibt den „Robusten in Anthrazit“ und „Magnetspulenherzen“, die auf Blackblechen ausgelegt werden wie Lebkuchenherzen. „In der Schwefelsäure schwitzen die Kupferspulen und Platinen Panzer aus Luftbläschen aus,“ und am Ende hat man eine „ganze Tüte mit besten Platinchen“ gewonnen, „eine Tüte mit insektenhaften Spulen, eine Tüte mit Rotörchen, schicken, zittrigen, rattrigen, summenden“.
  Während Nawrat, der 1979 im polnischen Opole geboren wurde und mit seiner Familie als Zehnjähriger nach Deutschland kam, die Welt der unbelebten Dinge humanisiert, ja geradezu beseelt, aus dem Anorganischen eine ins Phantastische überhöhte Fauna fragiler Fabeltiere, eine Menagerie mythologischer Zwitterwesen macht, wie das ganz ähnlich schon Thomas Mann im „Doktor Faustus“ getan hat, verdinglicht er die menschlichen Beziehungen. Aus dieser Umkehrung zieht sein Roman nicht nur formalen Reiz, sondern sie verstärkt, was sie zu unterlaufen scheint. Es sind hier die Dinge, die stellvertretend für die sprachlosen Menschen sprechen. Nawrat literarisiert hier Überlegungen von Denkern wie Boris Groys oder Giorgio Agamben: dass nämlich in einer Überflussgesellschaft der Müll, das schlechthin Profane und Nicht-Signifikante, zum Heiligen wird. Wenn es heißt: „Quarzglas kann in eurem Körper jahrelang wandern, aber euer Herz findet es irgendwann doch“, so ist freilich immer das Gift der sozialen Kälte mitgemeint.
  Es ist selbst eine raffinierte sprachmimetische Schattenwirtschaft, die Nawrat da äußerst virtuos in Schwung hält. Denn er erweist sich als geschmeidig genug, seine an Werner Schwabs defekter Kunstsprache geschulte Rollenprosa so zu dosieren, dass der Leser nicht zum Code-Knacker werden muss. Sein Buch „Unternehmer“ ist Heimat- und Coming-of-Age-Roman, vor allem aber eine kluge Betrachtung der Arbeitswelt. Über diese sagt Lipa einmal: „Vielleicht, so denke ich weiter, ist das überhaupt das Wesen der Arbeit: dass sich stets – so schön diese Arbeit auch sein mag – eine zweite Person in einem regt, die nicht arbeiten will. Und fehlt dieses Nichtwollen in einem drin bei einer Tätigkeit, dann handelt es sich nicht um Arbeit. (. . . ) Ohne Arbeit wüsste ich gar nicht, dass es diese zweite Person in mir gibt.“ So bringt der Wertstoffhof des durchökonomisierten Lebens zugleich sein eigenes Gegenteil hervor: wahre Werte.
CHRISTOPHER SCHMIDT
         
Matthias Nawrat: Unternehmer. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014. 144 Seiten, 16,95 Euro, E-Book 14,99 Euro.
Wenn das Gift der sozialen Kälte
durch den Körper wandert
Raffinierte literarische Schattenwirtschaft: Matthias Nawrat .
Foto: Yves Noir
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.2014

Ein Unternehmer kennt keinen Schmerz
Kinderarbeit am Familienmythos: Matthias Nawrats Roman erzählt vom Überleben nach der großen Katastrophe

Dass Sprache Wirklichkeit erschaffen kann, ist die Bedingung von Poesie. Zugleich aber ist dieses Vermögen, wenn nicht der Grund allen Unglücks, so doch zumindest mitverantwortlich dafür, wenn wir diesem nicht entrinnen können. Die Art und Weise, in der Matthias Nawrat in seinem zweiten Roman "Unternehmer" diese beiden Pole der Sprache miteinander amalgamiert, lässt den mit noch nicht einmal 150 Seiten äußerst schmalen Band zu einem ebenso beunruhigenden wie in seiner sprachlichen Suggestivkraft fesselnden Stück Literatur werden. Für ein erstes Kapitel aus diesem Roman ist Nawrat, der 1979 im polnischen Opole geboren wurde und als Zehnjähriger mit seiner Familie nach Bamberg umsiedelte, bereits vor zwei Jahren beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet worden.

Klaustrophobisch ist die Welt, die Nawrat erschafft, obwohl er sie doch im vermeintlich beschaulichen Schwarzwald ansiedelt. Hier spielte auch schon sein Debütroman "Wir zwei allein", in dem er indes eine weniger sinistre Perspektive entfaltete. Und befremdlich ist diese Welt, obgleich Nawrat zunächst einmal mit den klassischen Versatzstücken der Dystopie arbeitet.

Wann genau Nawrats Geschichte einsetzt, ist nicht von Bedeutung. Klar ist nur: Es ist die Zeit nach der Katastrophe. Offen bleibt, ob es sich um eine schleichende Katastrophe gehandelt hat, um einen sukzessiven Umschlag der Zivilisation in ein Elend, das die Städte in Slums verwandelt hat, in denen die Menschen nun apathisch, Schlafsack an Schlafsack, auf den Straßen und Plätzen liegen, während die verbliebenen Landbewohner sich noch mühsam das zum Überleben Notwendigste organisieren können.

Möglich ist auch, dass ein wie auch immer gearteter GAU die Gesellschaft ereilt hat. Die verschiedenen Detektoren, die immerzu zum Einsatz kommen, die brachliegenden Industrieanlagen mit ihren in unbehaglichen Farben schillernden Wasseransammlungen ließen darauf ebenso schließen wie die Rede von den "Gebiets-Veränderten". Ein wenig mag diese Welt - deren Grenzen man nicht kennt, womöglich sieht das Leben ein paar hundert Kilometer weiter schon anders aus - an die aus der Zivilisation herausgefallene Zone aus Tarkowskis Film "Stalker" erinnern. Mit dem Unterschied allerdings, dass der Schwarzwald, wie Nawrat ihn zeichnet, kein zerstörter und dabei zugleich magischer Ort ist wie jener Tarkowskis. Im Gegenteil: In dem Leben, wie Nawrat es schildert, ist für Phantasie genauso wenig Platz wie für Kunst. Und selbst die basalsten menschlichen Regungen scheinen hier abhandengekommen zu sein - oder doch zumindest sehr tief verschüttet.

Lipa, die dreizehnjährige Ich-Erzählerin, und ihr jüngerer Bruder verstehen sich als Unternehmer. Ein Unternehmer, so bestätigen sie sich gegenseitig immer wieder, ist froh, Unternehmer zu sein. Ein Unternehmer wird nicht müde, und ein Unternehmer braucht keine Freizeit. Und ein Unternehmer darf, wie in den alten Kindersprüchen einst der Indianer, noch nicht einmal Schmerz kennen. Die Sprache, die hier benutzt wird, ist in Formeln gegossen, hinter denen jedoch keine politische oder religiöse Macht steht, sondern der eigene Vater.

In seinem alten Mercedes bricht er mit seinen Kindern Tag für Tag auf, um alte Maschinen auszuschlachten. Solange man noch nicht ganz begriffen hat, was der Vater da treibt, könnte man dieses Unternehmertum fast mit einem Kinderspiel verwechseln, das nebenbei dem Broterwerb dient. Lipa ist "Assistentin" und muss die Inventurliste führen. Ihr Bruder Berti ist mal ein "Spezial", mal ein "Offizieller". Umso erschreckender, wenn sich das wahre Antlitz dieser vermeintlichen Spiele zeigt: "Mein Arm fehlt, weil ein Unternehmen seine Opfer fordert", sagt der Berti einmal. Was er nicht sagt: Er hat seinen Arm verloren, weil sein Vater anordnete, dass der Junge auf verwaisten Fabrikgeländen in Maschinen kriechen musste, um dort Drähte oder andere noch nützliche Teile und Materialien herauszureißen. Einmal ist Berti bei einem solchen Unternehmen in den "rostigen Koloss-Innereien" stecken geblieben. Der Arm war nicht mehr zu retten.

Spätabends trifft Lipa ihre Mutter weinend am Küchentisch an, und diese versichert ihr, sie sei ganz einfach nur froh, dass Berti nicht mehr eingebüßt habe als seinen Arm. Lipa lässt sich nur allzu gern - fast begierig - mit dieser Antwort abspeisen. An jeden Sprachstrohhalm wird sich hier geklammert, um die Umstände, vor allem auch das Handeln des Vaters, zu rechtfertigen.

Aber je mehr Nawrat die beiden Kinder über ihr Leben erzählen lässt, in Sätzen, die mal märchenhaft verklausuliert sind, mal aufgesagt erscheinen und auswendig gelernt, um ja nicht zu dem vorzudringen, was wirklich an Schmerz und Not in ihnen haust, je mehr er sie behaupten und gegen die Wahrheit anreden lässt, desto trauriger und unheimlicher wird dieses Buch. Und zugleich desto poetischer.

Schon als das erste Mal die Rede von Neuseeland ist, wo die Familie spätestens im nächsten Frühling sein will, um ein neues und besseres Leben zu beginnen, ahnt man, dass es sich um Wunschdenken handelt, dass die Familie nie dorthin kommen wird. Und weil bei Nawrat die Geschichte nur wie ein böses Märchen klingt, aber keines ist, gesteht er Lipa auch keine märchenhafte Erlösung zu. Nur kurz hat es den Anschein, als könne sie mit dem "lange Nasen-Timo", mit dem sie immerhin eine gute "Kussbilanz" verbindet, aus diesen hoffnungslosen Umständen fliehen. Das Korsett der Familie ist stärker als die erwachende Sexualität.

Man muss Nawrats Roman gar nicht als Entwurf eines düsteren Zukunftsszenarios verstehen. Vielmehr ist es ein Roman über Verstümmelungen, die so und ähnlich auch heute schon stattfinden: von Körpern, der Seele und des Empfindens. Man kann Nawrats "Unternehmer" als Gesellschaftskritik lesen. Vor allem aber ist er ein poetisch dichter, auf den Leib rückender Roman über Menschen, die sich dagegen stemmen, dass ihnen die Herzen entrissen werden.

WIEBKE POROMBKA

Matthias Nawrat:

"Unternehmer". Roman.

Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2014. 144 S., geb., 16,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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