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Eine Literaturgeschichte, die einzigartig ist, weil sie dem tragischen Urgrund aller Dichtung nachspürt und die Frage beantwortet: Was macht einen Menschen zum Künstler? Anhand von Beispielen aus der gesamten Weltliteratur entsteht eine Galerie großer Geister und ihrer Werke auf dem Hintergrund ihrer persönlichen Tragödien.

Produktbeschreibung
Eine Literaturgeschichte, die einzigartig ist, weil sie dem tragischen Urgrund aller Dichtung nachspürt und die Frage beantwortet: Was macht einen Menschen zum Künstler? Anhand von Beispielen aus der gesamten Weltliteratur entsteht eine Galerie großer Geister und ihrer Werke auf dem Hintergrund ihrer persönlichen Tragödien.
Autorenporträt
Walter Muschg, 1898 in Zürich-Witikon geboren, studierte in Zürich und Berlin Germanistik und war ab 1936 Professor für Deutsche Literaturgeschichte in Basel. Seine Studenten, darunter Max Frisch und Urs Widmer, verehrten ihn als einen begeisterten und begeisternden Lehrer, als Literaturwissenschaftler stach er durch seine unkonventionellen Perspektiven und seine provokativen, oft auch polemischen Stellungnahmen hervor. So war er einer der ersten, die die damals noch anrüchige Lehre Freuds für die Literaturwissenschaft entdeckten, er verhalf Jeremias Gotthelf und seinem Werk zu neuer Anerkennung und machte sich nach 1945 für damals vergessene Autoren wie Alfred Döblin oder Hans Henny Jahnn stark. Walter Muschg war auch ein engagierter Zeitgenosse: Als Mitglied des schweizerischen Nationalrats setzte er sich unter anderem während des Zweiten Weltkriegs immer wieder gegen die restriktive Schweizer Asylpolitik ein. Daneben verfasste er auch einige literarische Werke. Walter Muschg st

arb 1965 in Basel.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2006

Ich. Ich. Ich. Und ein Kakadu

Diese Bücher werden Sie sicher durch den Winter bringen. Die können Sie sich schön auf dem Schreibtisch aufbauen, eins neben dem anderen, und es wird sein, als wenn Sie ganze Bibliotheken vor sich hätten. Sie können irgendwo anfangen, auf irgendeiner der insgesamt 4500 Seiten, und Sie werden sich hineinlesen in die unendliche Welt der Literatur. So wie es sein soll, ein Versinken, ein Suchen, ein Finden, ein neues Erahnen und altes Bewahren, ein Immer-immer-weiter-Lesen. So wie es sein soll bei Literaturgeschichten, bei Büchern, die das Schönste aufheben und neu erfahrbar machen und das Schlechte mit schönem Schwung verwerfen.

Sie schaffen das alle, die vier Literaturgeschichten, um die es hier gehen soll, alle auf ihre Weise. Der ungarische Großschriftsteller Péter Esterházy schreibt eine "Einführung in die schöne Literatur", die schon vor zwanzig Jahren in Ungarn erschienen ist und erst jetzt, als Riesenwerk, den Weg zu uns gefunden hat und ein wunderliches Rätselwerk ist. Walter Muschgs "Tragische Literaturgeschichte" ist noch viel älter, vor beinahe sechzig Jahren zum ersten Mal erschienen, in der Zwischenzeit fast vergessen und jetzt bei Diogenes ganz neu herausgekommen, eine sagenhaft gebildete, buchkundige, stilvolle, streitbare Schrift über alles. Der Göttinger Germanist Wilfried Barner hat, gemeinsam mit seinem Germanistenteam, seine große, längst zum Standardwerk avancierte "Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart" auf den allerneuesten Stand gebracht und den Forschungsgegenstand so weit in die Gegenwart hinein verlängert, wie man es von Germanisten fast überhaupt noch nie gelesen hat. Und der "Focus"-Redakteur Rainer Schmitz hat in jahrelanger Sammelwut ein Literaturlexikon zusammengestellt, das die unsinnigsten, überraschendsten, neuesten und ältesten Wahrheiten aus der Bücherwelt enthält, die man sich vorstellen kann.

Die Alge Grass

Fangen wir mit dem mal an. Das ist ein echtes Tarzanbuch, in dem man sich von Begriff zu Begriff hangeln kann, von Buchstabe zu Buchstabe springen, von Geschichte zu Geschichte, und vieles hat man wirklich noch nie gehört, vieles auch zu Recht, weil es sich dabei um schrecklich unsinniges Wissen handelt. Die Häuser welcher amerikanischer Schriftsteller sind abgebrannt? (Morrison, Huxley, Ambler, Lowry.) Welche späteren Bestseller wurden zunächst von Verlagshäusern abgelehnt? ("Potter", "Parfum", "Pipi Langstrumpf".) Welche Alge wurde nach einem Schriftsteller benannt? (Fragilaria guenter-grassii, die 1992 in der Danziger Bucht entdeckt wurde.) Was ist eigentlich ein Buch? ("Nichtperiodische Publikation mit einem Umfang von 49 Seiten und mehr", definiert, bislang fast unbekannt, die Unesco und Jean Paul, sehr bekannt, etwas knapper: "Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde".)

Und so geht es weiter durch das Leben der Bücher. Von Unsinn zu Sinn, zu Lesebeginn und Leseende. Süchtig nach Gummibärchen waren übrigens Erich Kästner und Albert Einstein. Und Dürrenmatts Kakadu hieß Lulu, und als ihr Dürrenmatts zweite Frau im Alter von sechzig Jahren das Fliegen beibringen wollte, stürzte der Kakadu aus sechs Metern zu Tode. Aha, Sie fragen: warum sollte ich über das tragische Schicksal Lulus Bescheid wissen, wenn ich in Wahrheit doch nur Dürrenmatts Bücher lesen will? Berechtigte Frage, aber wenn Sie auf dieser Seite einfach weiterlesen, beim Kalevala-Eintrag unverwandt in die Tiefen der finnischen Volkssagenwelt hineingeraten, in die Sie sich wirklich nicht träumten hineinzugeraten, dann sind Sie auch mit Lulu und der Alge guenter-grassii schnell wieder versöhnt. Sie werden sehen.

Eine Einführung in die Welt der Literatur ist das Lexikon aber natürlich nicht. Eher eine unendliche Erstaunlichkeitssammlung für Menschen, die mit Büchern leben und die anderen Einwohner dieser Bücherwelt gerne etwas genauer kennenlernen wollen. Aber was führt schon hinein in die Welt der Literatur - die "Einführung in die schöne Literatur" vielleicht, dieses Riesenwerk von Péter Esterházy, dem wunderbaren, ungarischen Großromancier? Aber nein, aber nein. Lassen Sie sich vom Titel dieses Buchklotzes nicht verwirren. Dieses Buch ist eine Hinausführung, ist ein monolithischer Block, der Sie von der ersten Seite an erst mal abschrecken will: Lies mich nicht, Leser, hier verstehst du ohnehin kein Wort. Dieses Buch hat der Autor nur für sich geschrieben und zusammengeklebt.

Auf Seite eins sieht uns ein nackter Damenrücken an, der Rücken liest ein Buch, und oben rechts ist ein Motto hineingedruckt, ins Bild, das womöglich auch das Motto des ganzen Buches ist. Zunächst: "Ich. Ich. Ich. Ich (Gombrowicz)". Dann "Ich - das sind die anderen (nach Sartre)", und dann heißt das erste Kapitel "Flucht der Prosa", und sie flieht erst mal in Eigennamen dahin, die Prosa, und es kann natürlich sein, sie bedeuten alle etwas, diese Namen, "Amme aus Abaliget, Allerliebst aus Acsád, Analyse aus Adács" und so weiter, aber man hat ja nicht sofort Lust, diese rätselhaftesten Rätsel sofort zu entschlüsseln, wenn man gar nicht weiß, wo man nach einem Schlüssel suchen könnte. Hm, das Kapitel beginnt jedenfalls mit dem 16. Juni, dem Bloomsday also, und so heißt es am Anfang sehr schön: "Am 16. Juni, einem Werktagvormittag, zogen der Reihe und dem Namen nach folgende Wörter ein (Auweia, Goldstück, das ist aber ein häßlicher Dampfer!):" - und dann marschiert er los, der Text, mit den Eigennamen und den Wörtern, schön nach Alphabet geordnet, wir schauen mal bei Schmitz unter Bloomsday nach, da heißt es gegen Ende: "Heute nehmen die Fans in Dublin am Bloomsday Nierchen zum Frühstück, kaufen Zitronenseife und genehmigen sich zum Lunch ein Glas Burgunder und ein Gorgonzola-Sandwich." So, und wenn wir jetzt unter ,G' wie Gorgonzola in Esterházys Wortkaskaden nachsehen, dann steht da: ". . . grüßt aus Györ, Genosse aus Gemenc, gut aus Gyöngya, Geige aus Gádoros, Gott aus Gyon (was für eine Frömmelei)" und - nein, da sollen Sie jetzt natürlich nicht für immer das Lesen dieses Buches beenden. Sondern ihm sich anvertrauen, dem Führer durch die Welt seiner geliebten Dichter, seiner geliebten Bücher, langsam, Wort für Wort aus dem Unverständlichen heraus, in ein Verstehen hinein. Das meiste bleibt übrigens trotzdem unverständlich, klingt dann aber immerhin gut. Es geht insgesamt um: "Der ROMAN, der eher gut als wahrhaftig geworden ist, ist eine ungemütliche Mischung aus der Beschreibung eines Romans (das wäre der Roman selbst) und einem Roman (der sozusagen seine eigene Beschreibung enthielte). Ich erzähle, dieses Ich ist aber keine fingierte Person . . . Es war einmal ein Mann", und dann wird der Dichter Esterházy geboren, am 14. April 1950, und das Buch schildert die Geburt dieses Dichters aus dem Geist der Bücher und des Lebens. Zunächst nur für sich. Der Leser kann folgen - wenn er kämpft.

Die Biene Kracht

Einen Kampf ganz anderer Art erfordert dieses 1300seitige Großwerk, Wilfried Barners "Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart", das germanistische Standardwerk zum Thema. Auf den ersten 900 Seiten hat sich im Vergleich zur ersten Auflage, die 1994 erschien, nicht viel geändert. Aber dann kommen die Neunziger. Und da kann man schon staunen, wie dicht die Germanisten sich jetzt schon an die Gegenwart herantrauen. Wo Barner selber schreibt, ist das Buch auch ungeheuer lebendig, schnell, klug und, jenseits aller Germanistenklischees, fast schon journalistisch geschrieben. Ein Buch, das ganz offenbar wirklich den Ehrgeiz hat, Studenten zu erreichen und nicht auf den Zwang des Lehrplans zu hoffen. Leider schreibt Barner nur das Kapitel über das "Literarische Leben der neunziger Jahre". Die Wertungen, also das Kapitel, in dem diese Geschichte ihre Urteile in den Marmor klopft, überläßt er anderen. Die Erzählprosa zum Beispiel dem Kollegen aus Paderborn, Manfred Durzak. Und der ist in seinem Kapitel vor allem mit Abwehrkämpfen beschäftigt. Fegt mühsam mit grobem Besen aus der Gegenwart hinaus, was ihm die Feuilletons so hineingefegt haben in den Bezirk der beachteten Gegenwartsliteratur. Und da ist es mit der Zeit schon recht lustig zu sehen, wie hilflos die Germanistik dann doch ist, wenn sie die Gegenwart beurteilen will. Die Begriffe, mit denen Durzak Ralf Rothmann hineinmeißelt in die Geschichte und Matthias Politycki wieder wegmeißelt, mit denen er Judith Hermann hineinklopfen und Christian Kracht hinausschlagen will, die sind vom Feuilleton geborgt und wirken durch die Gesetzesattitüde des Germanisten unangemessen, traurig bemüht und manchmal sogar komisch. Wenn er über Krachts Sprache schreibt, daß sie "mehr als einmal die Stilblüte streift", dann würde man mit Herrn Durzak zwar gerne einmal das Bienchen Kracht beobachten, wie es das macht, wiegend im Wind, die Stilblütchen streifen, aber in Wirklichkeit muß man dem Herrn Germanisten hier einmal deutlich sagen: Wer andere beim Stilblütenpflücken ertappen will, sollte die eigene Sprache doch ganz besonders fest im Griff haben.

So wie Walter Muschg. Seine tragische Literaturgeschichte ist die reichste, kunstvollste, gelehrteste und originellste ihrer Art. Wie der Titel andeutet, ist diese Geschichte eine Unheilsgeschichte. Während des Weltzusammenbruchs Ende der dreißiger, Anfang der vierziger Jahre in der Schweiz geschrieben, läuft die Geschichte der Literatur auf das letzte Unheil hinaus. Das mit Novalis, Heine und dem Einbruch des Journalismus in die Literatur begonnen hat. Wie hier Grillparzer, der frühe Mörike und immer wieder Goethe verehrt und das Werk Thomas Manns mit Verve, Wut und letzter Überzeugung in den Boden gestampft werden, das ist königlich, ungerecht und möglicherweise wahr: "In der deutschen Literatur verkörpert Thomas Mann den geistigen Bankrott des Bürgertums unübertrefflich."

Muschg sucht die Wahrheit und die wahre Kunst. Seine Empörung gegen alle, die das Handwerk an die Stelle der reinen, wahren Kunst setzen, kennt keine Grenzen. Nur das tragische Werk ist ein wahres Werk, nur der tragische Dichter ein wahrer Dichter. Und "tragisch will auch als menschlich verstanden werden", schreibt er gleich zu Beginn und damit die Wahrheit über alle wahre Beschäftigung mit Literatur heute und immer: "Nach so vielen Leitbegriffen, denen die Literaturgeschichte von außen her unterworfen wurde und deren Unzulänglichkeit zutage liegt, ist das Menschliche der einzige Gedanke, an den wir die Dichtung ehrlicherweise noch anknüpfen können. Sie menschlich verstehen heißt: sie in ihren nächstliegenden, sicher immer vorhandenen und doch wohl tiefsten Ursachen begreifen und ernst nehmen, also nicht nur historisch oder philosophisch oder soziologisch, sondern als Ausdruck des persönlichen Lebensgefühls, das in den großen Dichtern vor uns steht."

VOLKER WEIDERMANN

Wilfried Barner (Hrsg.): "Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart". C. H. Beck, 1295 S., 49,90 Euro

Péter Esterházy: "Einführung in die schöne Literatur". Berlin-Verlag, 890 S., 60 Euro

Walter Muschg: "Tragische Literaturgeschichte". Diogenes, 751 S., 29,90 Euro

Rainer Schmitz: "Was geschah mit Schillers Schädel?" Eichborn, 1828 S., 39,90 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.07.2009

Gegen alle Widerstände
Längst klassisch: Neue Editionen der Essays des großen Philologen Walter Muschg
„Die sinnliche Liebe zum Wort trägt in entscheidender Weise an Freuds Werkgebäude mit.” Sinnliche Liebe zum Wort leitet auch den Verfasser der ersten Studie über „Freud als Schriftsteller” (1930): Er ist Philologe von Profession, beherrscht aber einen so anschaulichen und eleganten Stil, dass dieser Vorzug in seiner Disziplin Befremden auslöst. Walter Muschg (1898 – 1965), Professor für Germanistik an der Universität Basel, war eine Ausnahme in seinem Fach. Zur Literatur unterhielt er ein leidenschaftliches Verhältnis, das er jedoch seinem poetischen, moralischen und politischen Urteilsvermögen unterstellte. (Während des Zweiten Weltkriegs kämpfte er als Abgeordneter im Schweizer Parlament gegen jegliche Anpassung an das Dritte Reich.) Er scheute sich nicht, seine Zu- und Abneigung gegenüber bestimmten Autoren der Vergangenheit mit solcher Entschiedenheit zu bekunden, als wären ihre Werke eben jetzt erschienen.
Muschg wollte wissen, welche Antriebe, und seien es auch magische Überzeugungen und dämonische Fähigkeiten, einen Dichter zu seinem Werk führen. Um zu einer Antwort zu gelangen, benötigte er keine spezifisch akademischen Theorien, Methoden, Terminologien; er verließ sich auf Belesenheit, Scharfsinn und eine ebenso vehemente wie präzise Sprache, die heute noch die Person des Autors als energisches Zentrum der Sätze spüren lässt und seinen Büchern eine größere Anhängerschaft unter Schriftstellern und Gebildeten verschaffte als unter Kollegen. Deshalb fanden nach Muschgs Tod Neuauflagen seiner beiden Hauptwerke, „Tragische Literaturgeschichte” (zuerst 1948) und „Die Zerstörung der deutschen Literatur” (zuerst 1956), neue Leser. Die neuesten Ausgaben, um einige Essays vermehrt und mit Nachworten von Urs Widmer und Julian Schütt versehen, befestigen mit Recht den Rang des Klassischen, der diesen Schriften gebührt.
Die beiden Bücher stehen zueinander in einem komplementären Verhältnis. Das erste geht auf den Ursprung der Dichtung zurück, aus dem sie selbst noch in der Moderne lebt; das zweite wagt und begründet die These, dass die deutsche Literatur in der Mitte des 20. Jahrhunderts an poetischer Substanz verloren habe. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gab es an der Basler Universität eine geistesgeschichtliche Tradition, die dem damals in Deutschland gängigen Idealismus des Schönen, Guten, Wahren widersprach und die Leistungen der Kultur aus einer tragischen Erfahrung herleitete: aus dem dauerhaften Unglück der menschlichen Existenz und dem temporären Vergessen dieses Unglücks in rauschhafter Ekstase, die sich wiederum im geformten Kunstwerk vergegenständlicht und ernüchtert.
Dieser von Johann Jakob Bachofen, Jacob Burckhardt und Friedrich Nietzsche getragenen Gegenströmung zum versöhnungsbereiten Optimismus des 19. Jahrhunderts schließt sich Walter Muschgs „Tragische Literaturgeschichte” an. Sie beginnt mit dem Mythos von Orpheus, dessen Gesang Tiere und Pflanzen verzaubert, sogar das Totenreich öffnet; doch am Ende wird er wie ein Opfertier von Frauen zerrissen; nur sein Kopf treibt singend im Meer. In Orpheus’ Magie, Scheitern, Untergang und Fortleben sieht Muschg das Inbild des „Tragischen”, die dämonische Grundlage, auf der das poetische Vermögen des Dichters auch in nachmythischer Zeit beruhe. Muschg lässt es im Ungewissen, ob das „Dämonische” eine dichterische Fabel, eine besondere psychische Energie des Künstlers oder ein geheimnisvolles Zwischenreich am Rand der aufgeklärten Welt ist. Trotz solcher Unentschiedenheit überrascht und überzeugt das Resultat, wenn Muschg auf der Suche nach Magiern, Sehern, Sängern, Gauklern, Priestern die bedeutenden Autoren der europäischen Literatur durchmustert.
In den Werken Shakespeares, Grimmelshausens, Goethes, der Romantiker spürt er das Nachleben schamanistischer Magie auf. Den Keim von Goethes Werther-Roman erkennt er nicht in einem autobiographisch motivierten Gefühlsausdruck, sondern in dem Zauberakt, einen Doppelgänger herzustellen und sterben zu lassen: „Die sprengende Kraft von ‚Werthers Leiden‘ rührt daher, daß ihr Held – wie Egmont und Weislingen – wirklich beschworen war. Dieses Buch rettete Goethe das Leben. Bis in den krassen Realismus seines Schlusses hinein, wo der Selbstmörder als porträtgerechtes Ebenbild des Dichters auf dem Boden ausgestreckt liegt, ist hier alles durch die rituelle Absicht bedingt, den Doppelgänger als Stellvertreter zu opfern.”
Die andere nachhaltige Schrift Walter Muschgs, „Die Zerstörung der deutschen Literatur”, wirkte in den fünfziger Jahren verstörend. Damals war die Wiederherstellung des „christlichen Abendlandes” politisches und literarisches Programm, weshalb Schriftsteller wie Carossa, Bergengruen, Wiechert und Reinhold Schneider die Bücherregale und Klassenzimmer beherrschten. Für die Anhänger und Nachahmer dieser erbaulichen Literatur hat Muschg nur Spott übrig: „Daß Religion und Gesinnung jetzt zeitgemäß sind, haben ja auch die Literaten bereits gewittert. Es gibt dafür schon eine Konjunktur, eine Mode des Fromm- und Schrecklichtuns, und es fehlt nicht an gewiegten Alleskönnern, die sich mit dem schwarzen Nimbus der Gefährlichkeit in Respekt zu setzen wissen.”
Dagegen erinnert er an die große, damals verschollene Literatur der deutschen Moderne: „Franz Kafka, Georg Trakl, Oskar Loerke, Alfred Döblin, Ernst Barlach, Karl Kraus, Alfred Mombert, Theodor Däubler, Else Lasker-Schüler, Hans Henny Jahnn – alle diese Namen bedeuten dem heutigen Publikum so gut wie nichts.” Heute bedeuten sie dem Publikum etwas, das über der routinehaften Verehrung schon wieder vergessen hat, gegen welche Widerstände dieser Kanon der Moderne erstritten werden musste und welches Verdienst dabei Walter Muschg zukommt.HEINZ SCHLAFFER
WALTER MUSCHG: Die Zerstörung der deutschen Literatur und andere Essays. Herausgegeben von Julian Schütt und Winfried Stephan. Diogenes Verlag, Zürich 2009. 956 Seiten. 32,90 Euro.
WALTER MUSCHG: Tragische Literaturgeschichte. Mit einem Nachwort von Urs Widmer. Diogenes Verlag, Zürich 2006. 751 Seiten, 29,90 Euro.
„Daß Religion jetzt zeitgemäß ist, haben auch die Literaten gewittert”
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Als "sperrig-ethische Feier des literarischen Außenseitertums" und Kampfansage an die diplomierte Produktion und Zertifizierung literarischer Mittelmäßigkeit hat Hans-Peter Kunisch diese Literaturgeschichte des Baseler Germanisten genossen, der er deutlich mehr Beachtung wünscht. Das Buch sei zuerst bereits 1948 erschienen und schon vor drei Jahren neu aufgelegt worden. Doch sein analytischer Biss sowie der souveräne Geschmack ihres Autors machen die Texte des Buches für den Rezensenten auch heute noch zum Ereignis.

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