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Produktdetails
  • Verlag: IGEL
  • Seitenzahl: 378
  • Deutsch
  • Abmessung: 222mm x 165mm x 33mm
  • Gewicht: 668g
  • ISBN-13: 9783896211279
  • ISBN-10: 3896211277
  • Artikelnr.: 09402990
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.09.2001

Reiterlieder wollen wir nicht!
Levin L. Schücking und Börries von Münchhausen wechseln Briefe

Der Titel, den die Herausgeberin für diesen Briefwechsel gewählt hat, könnte auch über den Briefen eines Dichters an seine Muse oder einer Lyrikerin an ihren Geliebten stehen. Liebe, Respekt, aber auch bis ins Schonungslose gehende Kritik kennzeichnen diese Freundschaft von Ungleichen über ein halbes Jahrhundert hinweg.

Auf der einen Seite steht der Adlige aus dem niedersächsischen Geschlecht der Münchhausen: der Gutsherr von Schloß Windischleuba bei Altenburg, der Jugendbewegten wie Weltkriegssoldaten noch als Balladendichter bekannt ist. 740 000 Exemplare seiner Lieder und Balladen wurden zu Lebzeiten verkauft, und die Hitlerjugend zog mit ihnen durch die Gaue. Er meisterte nicht nur historisch-romantische Stoffe, sondern befleißigte sich auch einer Komik, die auf Althergebrachtes pochte wie seine "Lederhosen-Saga". Verse wie "Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm" schrieb er an der Moderne vorbei und sprach einer konservativ-patriotischen bis nationalsozialistischen Ideologie das Wort.

Auf der anderen Seite der Sprößling aus der westfälischen Beamten- und Gelehrtenfamilie Schücking, der Enkel des Dichters und Vertrauten der Annette von Droste-Hülshoff, ein Linksliberaler und bekennender Pazifist, ein Professor der Anglistik, der sich wie kaum ein zweiter der Zunft als Shakespeare-Forscher auch international einen Namen machte. Mit seiner "Soziologie der literarischen Geschmacksbildung" (1923) bereitete er den Weg nicht nur für die Rezeptionstheorie, sondern auch für eine kulturwissenschaftlich geprägte Literaturanalyse. Doch gerade weil hier von so unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Einstellungen her kommuniziert wird, zwischen Adelssitz und Gelehrtenstube, bietet dieser Briefwechsel faszinierende Einblicke in deutsche Mentalitäten in schwierigen Zeiten. Vor allem lädt er zu Differenzierungen und zum Erkennen von Widersprüchlichkeiten ein.

Als die beiden sich um 1897 im Umfeld des Göttinger Musen-Almanachs kennenlernten, sah Schücking für sich noch eine Zukunft als Dichter. Bald jedoch, mit Berufungen nach Jena, Breslau und schließlich Leipzig, wurde die Literaturwissenschaft sein Metier. Vom Dichten hat er jedoch nie ganz gelassen, was ihm zu einem inneren Verständnis des literarischen Textes verhalf und ihn daran hinderte, ein staubtrockener Philologe zu werden. So erblickt denn Münchhausen in ihm auch den kompetentesten Kritiker seiner Werke und kann dies durch eine genaue Lektüre der literaturwissenschaftlichen Arbeiten des Freundes erwidern. Beachtlich sind etwa Münchhausens Verständnis der Debatte um die Datierung des "Beowulf", mit dem sich Schücking zeitlebens beschäftigte, wie auch seine treffenden Bemerkungen zum Droste-Buch Schückings im Jahre 1942.

In dieser kritikfähigen Beziehung bewährt sich eine Freundschaft, die ein-, zweimal in schweres Fahrwasser gerät. Aus heutiger Sicht bleibt erstaunlich, daß die politischen Unterschiede nicht stärker zu Buche schlagen. Die Herausgeberin Beate E. Schücking, die Tochter des Anglisten, hat jedoch richtig gehandelt, wenn sie diese Unterschiede nicht einebnet, sondern auch die abscheulichen antijüdischen Äußerungen des Adligen dokumentiert. Nichts kann hier beschönigt werden. Lange vor dem Nationalsozialismus frönte Münchhausen einer Judenfeindschaft, sieht "das Jüdische" immer wieder als kulturzersetzendes Element oder beklagt die "Verjudung" Deutschlands. Dabei wird er nicht müde zu betonen, daß er ja eigentlich kein Antisemit sei. Iring Fetscher hat einmal auf diesen Widerspruch hingewiesen, als er Münchhausens Gedicht "Die Hesped-Klage" von 1904 bis 1905 - eine elegische Reaktion auf das Judenpogrom von Kischinew - interpretierte (F.A.Z. vom 24. Juni 1989). Auch Schücking ist nicht ganz gefeit gegen die damals herrschende antijüdische Grundstimmung. Nur so erklärt sich, daß er sich gegenüber Münchhausens Anschimpfungen so auffallend zurückhält.

Im Gegensatz zu Münchhausen verfällt er zu Beginn des Ersten Weltkriegs nicht in Euphorie, hält aber immerhin einen Vortrag über die "Gemeinheit der Engländer", wie er möglicherweise selbstironisch anmerkt. Denn so richtig Böses will ihm zum englischen Charakter einfach nicht einfallen. Schon während des Krieges ruft er in mehreren Artikeln zu Besonnenheit auf, etwa als man versucht, den Fremdsprachenunterricht in den Schulen zu reduzieren. Nach 1918, in seiner Breslauer und Leipziger Zeit, wird er zu einem linksliberalen Kriegsgegner und muß während der Nazizeit zahlreiche Repressalien und Bespitzelungen erdulden.

In schwierigen Zeiten erwies sich Münchhausen als loyaler Freund, der seine Beziehungen zu den Machthabern für ihn nutzte. Die Nazis hofierten den Balladendichter, doch war er ihnen auch nicht ganz geheuer. Eines seiner Reiterlieder wurde verboten, "weil es angeblich eine schwule Thematik enthielt", wie die Herausgeberin in ihrem Vorwort schreibt. Die Spannungen mit dem Regime hinderten Münchhausen nicht daran, 1937 in einem Brief an Thomas Mann dasselbe zu verteidigen. Auch den Glauben an einen "Endsieg" wollte er nicht aufgeben, als sein ganzes Schloß schon voller Flüchtlinge aus dem Osten war. Noch vor Kriegsende aber nahm Münchhausen sich das Leben, vermutlich aus Angst vor der russischen Invasion. Schücking verbrachte seine letzten Jahre in Oberbayern, wo er 1964 starb.

Diese Freundschaft hielt auch deshalb, weil die Familien mit all ihren Problemen einbezogen waren. Aufschlußreich sind daher die eingefügten Briefe der Frauen beider sowie einige von Lulu von Strauss und Torney, die nicht nur ebenfalls Balladen dichtete, sondern auch für Unruhe sorgte. Sie werfen ein weiteres Licht auf die beiden Männer, insbesondere auf Münchhausen als narzißtischen Künstler und schwierige Person. Dadurch wird dieser Briefwechsel zu einem mehrdimensionalen Gebilde, das beinahe Ansätze zu einem Roman aufweist.          ELMAR SCHENKEL.

Levin Ludwig Schücking, Börries von Münchhausen: "Deine Augen über jedem Verse, den ich schrieb". Briefwechsel 1897-1945. Igel Verlag, Oldenburg 2001. 378 S., geb., 48,- DM.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Bei dem Briefwechsel handle es sich um die Kommunikation von "Adelssitz und Gelehrtenstube", wie der Rezensent Elmar Schenkel schreibt: Auf der einen Seite steht der Gutsherr Münchhausen, der auch Sprachrohr für die Nationalsozialisten war und an den Endsieg glaubte, auf der anderen Seite der linksliberale Pazifist und Anglistikprofessor Schücking. Schenkel lobt die Herausgeberin dafür, dass sie diese Unterschiede nicht einebnet, "sondern auch die abscheulichen antijüdischen Äußerungen des Adligen dokumentiert". Durch das zusätzliche Einfügen der Briefe der Frauen beider Autoren würde der Briefwechsel "zu einem mehrdimensionalen Gebilde, das beinahe Ansätze zu einem Roman aufweist", schließt der Rezensent.

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