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Um Ciorans facettenreich geschliffenes, unruhig funkelndes Aphorismenwerk ist es still geworden. Spätestens seit dem Tod des Autors vor zehn Jahren, am 20. Juni 1995, droht die Auseinandersetzung mit den antisemitischen und hitlerfreundlichen Äußerungen des jungen Cioran die mit dem Werk zu überschatten. Patrice Bollons biographischer Essay über den"Ketzer"setzt an genau diesem Punkt ein. Statt Ciorans Jugendblindheit abzudrängen, zeigt Bollon, in welcher kulturellen und politischen Landschaft die frühen Artikel sowie jene verhängnisvolle Schrift über die"Verklärung Rumäniens"entstanden und…mehr

Produktbeschreibung
Um Ciorans facettenreich geschliffenes, unruhig funkelndes Aphorismenwerk ist es still geworden. Spätestens seit dem Tod des Autors vor zehn Jahren, am 20. Juni 1995, droht die Auseinandersetzung mit den antisemitischen und hitlerfreundlichen Äußerungen des jungen Cioran die mit dem Werk zu überschatten.
Patrice Bollons biographischer Essay über den"Ketzer"setzt an genau diesem Punkt ein. Statt Ciorans Jugendblindheit abzudrängen, zeigt Bollon, in welcher kulturellen und politischen Landschaft die frühen Artikel sowie jene verhängnisvolle Schrift über die"Verklärung Rumäniens"entstanden und wie Cioran sich in einer lebenslangen Auseinandersetzung mit ebendiesem Irrtum von den"blutigen Possen"der Utopie und von jedem Glauben zu befreien suchte - und so zu dem wurde, der er schließlich war: ein Meister der Klarheit, der Eleganz und der Gelassenheit.
Bollons fundiertes, fesselnd geschriebenes Porträt bietet die beste Einführung in Leben und Werk Ciorans, der, am 8. April 1911 im rumänischen Rasinari als Sohn eines Popen geboren, 1937 nach Paris übersiedelte. Anknüpfend an die Tradition der französischen Moralisten, verarbeitete er die eigenen überschwenglichen Anfänge und Abgründe und wurde zu einem der bedeutenden Schriftsteller und Stilisten der französischen Sprache.
Autorenporträt
Patrice Bollon, Kulturjournalist und Autor, lebt in Paris.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.10.2006

Der heilige Ketzer und die Eisernen Garden
Porträt des Autors als junger Antisemit: Patrice Bollons ebenso loyale wie kritische Biographie über Émile Cioran
1947 lebt der Rumäne E.M. Cioran das zehnte Jahr in Frankreich. Als Stipendiat des französischen Kulturinstituts von Bukarest war er nach Paris gekommen und hatte später aus dem besetzten Frankreich für rumänische Zeitungen berichtet. Jetzt erlebt er seine zweite Geburt: nach quälender Selbstprüfung entscheidet er sich nicht nur, für immer in Frankreich zu bleiben, sondern auch, die Sprache zu wechseln. Cioran ist 36 Jahre alt und sich völlig im Klaren, dass dies die entscheidende Wendung in seinem Leben bedeutet. „Wer seine Sprache verleugnet und eine andere annimmt, verändert seine Identität, ja sogar seine Enttäuschungen. Als heroischer Verräter bricht er mit seinen Erinnerungen und bis zu einem gewissen Grad mit sich selbst”, wird er 1956 in der „Tentation d‘exister” (deutsche Ausgabe unter dem Titel „Dasein als Versuchung”) urteilen.
Vom Scheitelpunkt des Jahres 1947 kann man auf die frühen Jahre und Schriften des Autors blicken und zugleich auf das, was noch kommen sollte. Vereinfacht gesagt: auf den rumänischen und den französischen Cioran. Noch mehr vereinfacht: auf den jungen Mann mit seiner schwärmerischen Sympathie für autoritäre Führergestalten, mit seinem Kult von Macht und Stärke, seiner rumänischen Erlösungssehnsucht – und auf den gereiften Autor, der mit allen Illusionen – politischen, sozialen, religiösen – rigoros aufräumt und als Aphoristiker der Bitterkeit und Prophet des Zweifels jede Gewissheit in Frage stellt. Seit den sechziger Jahren ist Cioran nach und nach weltberühmt geworden, und sein Ruhm nährte sich auch von der biografischen Legende eines weltabgewandten Ketzers, der nicht anders konnte, als alles Heilige in die ätzende Lauge seines Skeptizismus zu tauchen und festzuhalten, wie es sich unter seiner kalten Beobachtung zersetzt. Ein misanthropischer Pessimist, dem etwas Heiligenmäßiges zugesprochen wurde, weil er, stellvertretend für uns, die wir diesen Blick nicht ertragen, in die tiefsten Abgründe geschaut hat.
Als Cioran an Alzheimer erkrankte und langsam verdämmerte (er starb 1995), fiel jedoch ein Schatten auf sein Werk und Leben: der Schatten seiner rumänischen Anfänge. Dieser Schatten ist es, der den französischen Kulturpublizisten Patrice Bollon sein Buch über den von ihm verehrten Cioran verfassen ließ. Es spricht für die intellektuelle Redlichkeit von Bollon, dass er diesen Schatten nicht wegretuschieren will, sondern so minutiös wie bisher noch keiner vor ihm darlegt, was es mit ihm überhaupt auf sich hat. Die große Apologie, die er vorlegt, will Cioran retten, aber nicht, indem sie seine Verstrickung in den rumänischen Rechtsextremismus der Zwischenkriegszeit leugnet, von der die Welt mittlerweile Kenntnis erhalten hat, obwohl Cioran selbst mit keinem Wort je auf sie eingegangen ist.
Vielmehr unternimmt es Bollon, Cioran gewissermaßen aus dem Innersten der Finsternis zu begreifen und lückenlos darzulegen, zu welcher Raserei der später in Kälten Abgeklärte in seiner Jugend fähig war. Diese Aufklärung dient freilich einzig dem Zweck, das Werk Ciorans nach seiner Wende von 1947 als geglückten Versuch der Selbstheilung zu deuten, als untergründige Kritik der eigenen Verblendung und fortgesetzte Übung, „wider sich selbst zu denken”. Doch ist Bollons mit Leidenschaft formulierte Studie dort, wo sie vom problematischen, vom frühen Cioran handelt, wesentlich interessanter und origineller als dort, wo sie sich der Exegese des vermeintlich geläuterten Autors widmet, der die „Lehre vom Zerfall”, die „Syllogismen der Bitterkeit” oder die geradezu kultisch verehrte Schrift „Vom Nachteil, geboren zu sein” verfasste.
Was Ciorans intellektuelle Biografie anbelangt, so weiß Bollon von den prägenden Jahren im Elternhaus – Ciorans Vater war orthodoxer Priester – auf dem rumänischen Dorf, dem Gymnasium in Hermannstadt oder der Universität von Bukarest viel Aufschlussreiches zu berichten. Es war für einen jungen Intellektuellen gewiss nicht leicht, im Rumänien jener Jahre aufzuwachsen. Erst seit 1880 gab es einen leidlich souveränen rumänischen Staat, ein kleines Königreich, das nach dem Ersten Weltkrieg und dem Friedensschluss von Trianon enormen Zuwachs an Land und Bevölkerung erhielt. Der Traum eines modernen Großrumänien kam in Wirtschaftskrisen, Korruption, in der sprichwörtlichen „rumänischen Lethargie”, die seit Jahrhunderten über dem Land lag, schmachvoll nieder. Die politischen Parteien kamen und gingen, der durch und durch korrupte König floh ins Exil und kehrte zurück, Geheimbünde überboten sich an Obskurantismus, und endlich erschien die Eiserne Garde auf der Bühne, die all das Durcheinander zu beenden versprach, eine militante Organisation, die wüsten Antisemitismus mit sozialem Populismus verband und in der sich anfangs recht unterschiedliche Leute fanden.
Erst in den letzten Jahren ist bekannt geworden, wie viele der größten Geister Rumäniens – allen voran Mircea Eliade, später ein Gelehrter von Weltruf – in ihrer Jugend die Eisernen Garden und ihren „Capitul” Codreanu für berufen wähnten, Rumänien zu erlösen; zu erlösen von sich selbst. Wie kann es gelingen, Rumänien aus der Geschichtslosigkeit herauszureißen, fragt sich auch der Student Cioran und gibt sich zur Antwort, dass „die kleinen Nationen anders als mit Hilfe einer Diktatur” nicht jenen „Sprung machen können”, der sie Anschluss an die große Welt finden ließe.
1933/1934 geht Cioran nach Deutschland. In einem seiner Artikel für die rumänische Zeitschrift „Vremea”, die Bollon gesichtet hat, bekennt er begeistert: „Es gibt in der heutigen Welt keinen Politiker, der mir sympathischer ist als Hitler.” Aus einem Land, das mobil zu machen scheint, nach Bukarest zurückgekehrt, findet er die verhasste Apathie vor, die wie ein Fluch auf seinem Land zu lasten scheint. Da schreibt er 1936 „Die Verklärung Rumäniens”, eine Erweckungsschrift, die bis heute nur auf Rumänisch zu lesen ist, weil Cioran später so tat, als gebe es sie gar nicht, bis er sie 1990 in Rumänien neuerlich auflegte – und kommentarlos alle verfänglichen Stellen strich. Und Verfängliches gibt es wahrlich genug darin, vom persönlichen Bekenntnis, „wenn ich Jude wäre, würde ich auf der Stelle Selbstmord verüben”, bis zur politischen Theologie der Macht, die dem Verbrechen huldigt: „Damit ein Volk sich den Weg in der Welt bahnt, sind alle Mittel gerechtfertigt. Terror, Mord, Bestialität und Heimtücke sind nur im Niedergang kleinlich und unmoralisch, wenn durch sie eine Inhaltsleere verteidigt wird; wenn sie jedoch den Aufstieg eines Volkes fördern, sind es Tugenden. Alle Triumphe sind moralisch.”
Gewiss, Cioran war erst 25 Jahre, als er dies schrieb, und der verehrte Führer der Eisernen Garden, der selbst höchst widersprüchliche Corneliu Codreanu, saß damals im Kerker. Aber Cioran schwärmte noch von ihnen, als die Eisernen Garden 1940 an der Regierung des Marschalls Antonescu beteiligt wurden, auf den Straßen von Bukarest Jagd auf Juden machten und im Blutrausch ihre politischen Gegner massakrierten. All das verschweigt Bollon nicht, nein, es ist sein Verdienst, dem „Verdacht”, der in letzter Zeit häufig gegen Cioran erhoben wurde, die Beweise nachgeliefert zu haben. Doch geht es ihm nicht um die Anklage, sondern die Verteidigung und Rechtfertigung Ciorans, den er trotz allem für „eine moralische Autorität” hält.
Als Cioran 1947 die Sprache wechselt, bedeutet das für ihn, der bis dahin sechs Bücher in seiner Muttersprache veröffentlicht hat, dass er zu seiner Literatursprache künftig ein distanziertes, kühles Verhältnis unterhalten wird. Er wird zwar einer der brillantesten Stilisten der neueren französischen Literatur werden – und ausgerechnet in der subtilen Gattung des Aphorismus, des Epigramms, der Maximen und Reflexionen sein Bestes geben –, aber das Französische bleibt ihm doch die erworbene Sprache, in der er niemals jene natürliche Sicherheit haben wird wie im Rumänischen.
Für einen Charakter, der von seinen Stimmungen stets mitgerissen zu werden droht, ist der Wechsel der Sprache auch ein Akt der Selbstdisziplinierung: nichts wird ihm je wieder leicht von der Feder gehen. Nur so, dies die These von Patrice Bollon, konnte es Cioran gelingen, in seinen französischen Büchern das rumänisches Jugendwerk vollständig zurückzunehmen und sich schreibend lebenslang selbst den Prozess zu machen. Der französische Autor Cioran sei auf diesem Wege nicht nur literarisch weit über das hinausgelangt, was der rumänische Autor Cioran zustande brachte, sondern: er habe diesen in sich überwunden. So weit, so gut, würde man gerne beipflichten. Es stimmt schon, Cioran hat später kein antisemitisches Wort mehr fallen lassen, Mord und Terror nicht mehr gerechtfertigt. Aber er hat vieles nur umgedreht: aus dem Antisemiten wird ein Philosemit, aus dem Aktivisten, der mit einer faschistischen Garde Geschichte schreiben wollte, schlüpft ein Pessimist, der autoritär erklärt, dass die Geschichte „nie etwas anderes sein wird als die Geschichte des Bösen”. Hat er es einst selbst mit Horden gehalten, die auf Pogrome aus waren, so postuliert er nun, die Geschichte könne gar nichts anderes sein als „Raserei der Horden”.
Für Patrice Bollon hat Cioran damit seine eigenen Irrtümer gedanklich ausgelotet, ohne Mitleid mit sich selber bis ins Letzte durchdacht und aufgehoben. Mehr noch, die Fehlbarkeit, die Erkenntnis der Fehlbarkeit hält er für die Voraussetzung dafür, dass Cioran die „moralische Entwicklung zum Höheren” erst bestehen konnte. Ist das richtig? Natürlich mutet der Philosemit weniger anrüchig an als der Antisemit, natürlich ist der radikale Geschichtspessimismus eine intellektuell apartere Haltung als der geifernde Fanatismus, der glaubt, die Geschichte in eine bestimmte Richtung zwingen zu können. Aber das Gegenteil einer Lüge ist ja nicht die Wahrheit, sondern nur eine andere Lüge! Wer sich einmal für falsche Ideale begeistert hat und daraus die Lehre zieht, dass jedes, wirklich jedes Ideal den Missbrauch provoziert und man sich folglich von allen Idealen fern zu halten habe, der hat weniger aus seinen Irrtümern gelernt, als dass er sich aus seiner persönlichen Schuld in eine fragwürdige allgemeine Lehre flüchtet.
Was am späten Cioran fasziniert, ist nicht die Lehre, die er predigt, die düstere Wahrheit, die er mit der Attitüde des priesterlichen Erzketzers verkündet, sondern die Sprache, der Stil, die rhetorische Brillanz. Stil ist ihm alles. Wo Erkenntnis aufblitzt, verdankt sie sich bei Cioran nicht der Vorarbeit des Denkens oder Substanz des Gedachten, sondern dem Stil, der Gegensätze zuspitzt, Paradoxien geradezu ausspreizt. Das erklärt auch, warum Cioran, der zum Vorbild zahlloser Schwätzer wurde, die sich von ihm den elitären Gestus abschauten, keine beachtenswerte Schule begründete: seine Adepten orientierten sich an dem, was sie für seine Lehre hielten, an seiner Sprache, die ihnen abging, konnten sie sich nicht orientieren.
Sehr viel mehr, als Bollon lieb ist, steckt vom frühen im späten Cioran. Den Verdacht, dass sich im aristokratischen Verächter der Massen ein enttäuschter Aktivist verbirgt, im Feind der Utopien ein herabgestürzter Himmelsstürmer, ja, im Ketzer ein Dogmatiker, konnte man schon hegen, ohne von Ciorans frühen Verstrickungen etwas zu wissen. Dass der Mensch durch den „heroischen Verrat” an der Muttersprache sich selber entfliehen und eine neue Identität erschaffen kann, war eine wohlfeile Hoffnung Ciorans und zugleich seine einzige verdeckte Selbstkritik. Obwohl er Cioran darin folgen wollte, zeigt Patrice Bollon in seinem lauteren und anregenden Buch, dass es so einfach nicht war.
KARL-MARKUS GAUSS
PATRICE BOLLON: Cioran. Der Ketzer. Aus dem Französischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 360 Seiten, 24,80 Euro.
„Kleine Nationen können nicht anders als durch eine Diktatur einen Sprung machen.”
„Damit ein Volk sich den Weg in der Welt bahnt, sind alle Mittel gerechtfertigt.”
„Geschichte wird nie etwas anderes sein als die Geschichte des Bösen.”
In Chisinau (russisch: Kischinjow), der Hauptstadt Bessarabiens, werden jüdische Famlien von rumänischen Truppen zusammengetrieben, die seit dem Juni 1941 an der Seite der 11. deutschen Armee gegen die Sowjetunion kämpften.
Foto: Scherl
Nah am Abgrund, aber ein Geländer stets griffbereit: Émile Cioran (1911-1995) im Februar 1977 in Paris.
Foto: Sophie Bassouls/Corbis
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2006

Das Festival der schlechten Laune
Lachen nach dem letzten Zweifel: Ein neues Buch erklärt den großen Weltverneiner E. M. Cioran

Hier eine kurze Lebensbeschreibung des Dichters und Philosophen E. M. Cioran: "Was tun Sie vom Morgen bis zum Abend? Ich erleide mich." Das ist alles? Das ist alles. Er hat das wohl dunkelste Werk des letzten Jahrhunderts geschrieben. Die Verzweiflung, die Weltverdammnis auf immer höhere Gipfel getrieben. Wer hat sich selbst, sein Leben in größeren Worten verdammt als dieser Mann, der schrieb: "Auf ewig sei der Stern verflucht, unter dem ich geboren wurde, möge keinerlei Himmel ihn schützen, möge er im Raum zerbröckeln und zerstieben! Und jener heimtückische Augenblick, der mich mitten unter die Geschöpfe stieß, möge auch er für immer ausgelöscht sein aus den Verzeichnissen der Zeit!"

Jetzt ist ein neues Buch über den Aphoristiker der größten Dunkelheit erschienen, über Cioran, der 1911 als Sohn eines Priesters im rumänischen Rasinari geboren wurde und 1995 in Paris als großer Gott- und Weltverneiner starb. Ciorans Bücher zu lesen ist noch heute ein großartiges Festival der schlechten Laune, der Klarsicht und der Illusionslosigkeit. Und immer wieder denkt man sich: Wie interessant wäre es, etwas mehr über sein Leben zu erfahren, über dieses Leben in der Dunkelheit der Gedanken, dieses Leben-trotz-alledem. Ihn selbst hat das bei den großen Philosophen am meisten interessiert: ihr Leben, das ist die wahre Philosophie. Als er den Journalisten Patrice Bollon traf, machte er ihm immer klar, daß das Leben die wahre Lehre sei, das Leben der Denker. Bollon schreibt: "Selbst wenn er über Literatur oder Philosophie sprach, es war stets etwas anderes, etwas Persönlicheres, aber auch Umfassenderes, allgemein Menschliches, was ihn fesselte. Der ,Fall' Nietzsches beschäftigte ihn unendlich viel mehr als dessen Untersuchungen über die Wahrheit und die Werte. Nietzsches gescheiterte Leidenschaft zu Lou Andreas-Salomé schien ihm in philosophischer Hinsicht fast ebenso wichtig wie ,Menschliches, Allzumenschliches'. Aus allem suchte er nicht die Moral herauszulesen, sondern eine Lehre, die in die Richtung dessen wies, was für ihn das höchste, letzte Ziel des Denkens darstellte: zu leben wissen, lernen zu existieren." Und als ihm Bollon von Wittgensteins Arbeit als Volksschullehrer berichtete, war er begeistert, bezeichnete sein Leben als "Meisterwerk" und forderte den Journalisten auf: "Statt Ihre Zeit mit dem Schreiben von Artikeln zu vergeuden, täten Sie besser daran, sich an eine Lebensbeschreibung Wittgensteins zu machen, so, wie man früher ,Heiligenviten' verfaßte: Das wäre unterhaltender und sehr viel philosophischer obendrein."

Bollon ignorierte den Ratschlag. Er hat lieber das Werk und Leben Ciorans aufgeschrieben, nicht als Heiligenlegende, aber im Geiste einer tiefen Liebe und Bewunderung für dieses klarsichtige Werk eines Mannes, der der Welt auf den Grund gesehen hatte, nichts fand und doch weiterlebte, weiterschrieb, gegen den Selbstmord, gegen das Nichts, gegen die Verzweiflung. Bollon beschreibt, was Cioran am Anfang seines Schreibens in Rumänien und in seinen deutschen Jahren 1934 und 1935 in die Hände der Nazis trieb, was ihn Hitler bewundern ließ und die Juden hassen. Passagen, die bei anderen Cioran-Bewunderern gerne als unerhebliche Jugendsünden abgetan werden, stellt Bollon ins Zentrum, beschreibt, wie aus dem unbedingten Vitalismus, der Lebensbegeisterung, der Verehrung des Irrationalen die Bewunderung für Hitler entstehen konnte.

Cioran selbst hatte damals geschrieben: "Wenn mir etwas bei den Anhängern Hitlers gefällt, so ist es der Kult des Irrationalen, die Verherrlichung der Lebenskraft als solcher, das mannhafte Ausgreifen der Kräfte, ohne kritischen Geist, ohne Vorbehalte und ohne Beherrschung." Und wie er sich aus diesen Verfehlungen befreite, der Lebensemphase, der Leidenschaft in allem Schreiben immer treu blieb, aber bei alldem der absolut unabhängigste, alleinstehende, immer zweifelnde, alles bezweifelnde Geist Frankreichs wurde, des Landes, in das er Ende der dreißiger Jahre übergesiedelt war.

Die Lebensemphase blieb und das Unglück, aus dem es keinen Ausweg gab, auch nicht in der Politik, erst recht nicht in der Politik. Die Schwäche war interessanter als die Stärke. Seine Abwendung von den Weisheiten der Philosophie hat er einmal so begründet: "Meine Abkehr von der Philosophie geschah in dem Augenblick, da ich die Unmöglichkeit erkannte, bei Kant auch nur die geringste menschliche Schwäche, auch nur den leisesten Hauch wahrer Trauer zu entdecken. Weder bei Kant noch bei irgendeinem anderen Philosophen entdeckte ich sie. Das Leben fast aller Philosophen ist gut ausgegangen: darin liegt das stärkste Argument gegen die Philosophie."

Nur die Pessimisten kann Cioran ertragen. Je mehr er sie lese, um so mehr liebe er das Leben. "Nachdem ich Schopenhauer gelesen habe, führe ich mich wie ein frisch Verlobter auf", schreibt er; der einzige, aber entscheidende Denkfehler Schopenhauers sei gewesen, aus seiner Grundüberzeugung, das Leben sei nur Traum und Schein, nicht die Folgerung zu ziehen, diese Illusion zu fördern, sondern sie immer entlarven zu wollen und die Leser glauben zu machen, es gebe etwas anderes als sie. Es gibt nichts anderes, und es geht darum, Nein zu sagen zum Leben und es doch zu leben bis zum Schluß, die Verzweiflung auszuhalten und immer wieder das große Lachen zu finden im tiefsten Unglück und immer wieder an allem zu zweifeln: "Der Schriftsteller Henri Thomas sagte mir einmal: ,Sie sind gegen alles, was seit 1920 passiert ist', und ich antwortete: ,Nein, seit Adam!'"

Ein Leben gegen alles, ein Schreiben gegen alles, in dem scheinbare Widersprüche problemlos eingeebnet werden durch die Kraft der Sprache und den Überwältigungswillen, der noch im kleinsten Aphorismus lebt. Cioran hat den Akt des Schreibens einmal so beschrieben: "Gewöhnlich beginnt das folgendermaßen: ein leichtes Zittern, das immer heftiger wird, wie nach einer Beleidigung, die man eingesteckt hat, ohne sie zu erwidern. Formulieren heißt verspätete Gegenrede oder eben aufgeschobene Aggression; ich schreibe, um nicht zur Tat zu schreiten."

Für Bollon ist Cioran der "Ketzer", der Denker, der nichts so sehr verachtete und verhöhnte wie die Religionen, denen er trotzdem etwa ein Drittel seines Werkes widmete, der jede politische, philosophische, lebensweise Überzeugung mit Spott und Lachen überzog. "Er ist ein Gegengift", schreibt Bollon. "Es dürfte schwerfallen, eine Denkart zu finden, die dermaßen frei ist von dem geringsten Zugeständnis an die Mächte und Konformismen der Zeit, die im Gegensatz zu ihnen steht, unzeitgemäß."

Und das schönste beim Lesen all der Bücher Ciorans, all der verzweifelten, alles durchschauenden Aphorismen, ist noch heute das Lachen überall, das Lachen nach dem letzten Zweifel: "Es kommt die Stunde", hat er einmal geschrieben, "da der Skeptiker, nachdem er alles in Frage gestellt hat, nichts mehr findet, woran er zweifeln könnte; dann erst hebt er sein Urteil allen Ernstes auf. Was bleibt ihm noch übrig? Sich zu vergnügen oder dumpf zu werden." Cioran hat sich immer für das Vergnügen entschieden.

VOLKER WEIDERMANN

Patrice Bollon: "Cioran - Der Ketzer". Aus dem Französischen von Ferdinand Leopold. Suhrkamp 2006. 362 Seiten, 24,80 Euro.

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Eine Verteidigungsschrift sei diese Biografie, aber zugleich eine, die die inkriminierte Zeit des frühen Emile Cioran umfänglich aufklärt, lobt Rezensent Karl-Markus Gauss. Patrice Bollon schließe sich weitgehend der Autointerpretation Ciorans an, der sein französisch geschriebenes Werk ab 1947 als eine lebenslange "Selbstheilung" verstanden wissen wollte. Der interessantere Teil der Biografie ist für den Rezensenten gleichwohl derjenige, der sich mit der Zeit vor der vermeintlichen Läuterung befasst. Beispielsweise habe Cioran vier Jahre nach seiner legendären Hetzschrift "Die Verklärung Rumäniens" immer noch die gleichen inhumanen Anschauungen vertreten, als sie 1940 auf den Straßen von Bukarest schon längst blutig umgesetzt wurden. Der Heilungstheorie von Patrice Bollons Biografie gegenüber gibt sich der Rezensent skeptisch, eher sieht er in der Wandlung von einem fanatischen Hetzer zu einem fanatischen Ketzer eine schlecht kaschierte Lebenslüge. "Faszinierend" am späten Cioran sei ohnehin nicht der Inhalt seiner Schriften, sondern deren Stil. Und dort, wo spannende Gedanken auftauchten, so der Rezensent, würden sie weniger durch Denken als durch die rhetorischen Stilmittel wie Paradoxien generiert.

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