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Im Zeitalter der Aufklärung beginnen die Philosophen von einem Sex in der Ehe zu träumen, der dem bürgerlichen Ideal der Freiheit entspricht. Nicht die triste Pflichterfüllung, wie sie im Eherecht gefordert war, sondern ein »zärtliches« Verführungsspiel sollte von jetzt an zum Liebesakt führen. Schmerzhaft genau zeichnet Johannes Kleinbecks Geschichte der Zärtlichkeit nach, von welchen Sehnsüchten und Ängsten Rousseau, Kant, Hegel und später auch Freud angesichts einer freien Aushandlung des Beischlafs heimgesucht worden sind. In ihren rastlosen Ausführungen zu der Frage, wie Frauen…mehr

Produktbeschreibung
Im Zeitalter der Aufklärung beginnen die Philosophen von einem Sex in der Ehe zu träumen, der dem bürgerlichen Ideal der Freiheit entspricht. Nicht die triste Pflichterfüllung, wie sie im Eherecht gefordert war, sondern ein »zärtliches« Verführungsspiel sollte von jetzt an zum Liebesakt führen. Schmerzhaft genau zeichnet Johannes Kleinbecks Geschichte der Zärtlichkeit nach, von welchen Sehnsüchten und Ängsten Rousseau, Kant, Hegel und später auch Freud angesichts einer freien Aushandlung des Beischlafs heimgesucht worden sind. In ihren rastlosen Ausführungen zu der Frage, wie Frauen Zärtlichkeit äußern dürfen und wie nicht, entdeckt er ein Kernstück bürgerlicher Philosophie, das sich nicht von einer spezifisch modernen Form patriarchaler Machtausübung trennen lässt. Die zunehmende Entrechtung des ehelichen Beischlafs geht mit dem Beginn einer Entwicklung einher, die uns bis heute umtreibt: Die männlichen Privilegien finden sich immer weniger ausschließlich über rohe Gewalt oder die Zwänge des Rechts, dafür aber immer mehr über ein dem Anschein nach freies Spiel von Blicken, Gesten und Worten abgesichert.
Autorenporträt
Johannes Kleinbeck, 1985 in Stuttgart geboren, ist Literaturwissenschaftler, Mitherausgeber der Reihe Neue Subjektile (Turia & Kant) und Übersetzer u. a. von Judith Butler und Jacques Derrida. Er arbeitet als wissenschaftlicher Assistent am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Dass Sex nicht nur Privatsache, sondern auch gesellschaftlich-philosophisches Diskussionsthema ist, zeigen Rezensentin Marie Schmidt zwei Neuerscheinungen von Manon Garcia und Johannes Kleinbeck. Der Literaturwissenschaftler Kleinbeck wählt einen historischen, und wie er selbst einräumt, rein männlichen Zugriff vor allem mit den Philosophen der Aufklärung: Rousseau, Kant, Hegel, Freud zeigen ihm, wie die "Geschichte der Zärtlichkeit" in all ihrer "epistemischen Ungerechtigkeit" funktioniert hat. Dafür wirft er laut Schmidt auch immer wieder anregende Blicke auf das Privatleben der Denker, etwa in Freuds Brautbriefen, um herauszuarbeiten, dass Zärtlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert vor allem all jene auszuhandelnden zwischenmenschlichen Austauschprozesse bezeichnete, die der Aushandlung des Beischlafs dienten und die Rollenverteilungen definierten. Für die Kritikerin liest es sich so, dass es immer auch um das "Nein" geht, das für lange Zeit - und vielleicht auch nach wie vor - irgendwie dazuzugehören schien. Ein Buch, das Schmidt auch die lange, tiefe Verankerung von patriarchalen Rollenvorstellungen klarmacht und betont, wie wichtig es ist, kontinuierlich im Gespräch zu bleiben, um guten Sex möglich zu machen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.07.2023

Sobald sich die Geschlechter reizen
Von bürgerlicher Ehe: Johannes Kleinbeck schreibt eine Diskursgeschichte des einvernehmlichen Sex

Rechtsgeschichtlich hat der Gedanke, dass die Einvernehmlichkeit von Sexualität konstitutive Bedingung der Ehe sei, seinen Ursprung im napoleonischen Code civil des Français. Das in Frankreich am 21. März 1804 in Kraft getretene Gesetzbuch bestimmte eheliche Sexualität erstmals nicht als Rechtspflicht der Ehepartner, sondern setzte freiwilliges Einverständnis als Bedingung des Vollzugs des Geschlechtsakts in der Ehe voraus.

Das bedeutete einen Bruch mit den vom Kanonischen Recht der römisch-katholischen Kirche abgeleiteten eherechtlichen Bestimmungen, die bis dahin das Rechtsverständnis geprägt hatten. Das Kanonische Recht begründete die als wechselseitig begriffene eheliche Beischlafpflicht mit dem ersten Korintherbrief, in dem es heißt: "Der Mann leiste der Frau die schuldige Pflicht, desgleichen die Frau dem Mann. Die Frau ist ihres Leibes nicht mächtig. Desgleichen ist der Mann seines Leibes nicht mächtig, sondern die Frau." Von Jean-Étienne-Marie Portalis, der an der Ausarbeitung des Code civil mitwirkte, ist das Diktum überliefert: "Vor allem in der Ehe muss die Freiheit ... uneingeschränkt und vollumfänglich gelten; das Herz muss sozusagen zwanglos atmen können während einer Handlung, an der es so sehr beteiligt ist: Die süßeste aller Handlungen muss deshalb auch die freieste sein."

Johannes Kleinbeck, der diese Sätze zu Beginn seiner Studie zum Begriff der Zärtlichkeit im bürgerlichen Ehediskurs zitiert, nimmt sie zum Anlass für eine Entfaltung der Doppelgesichtigkeit, die das bürgerliche Eherecht prägt, seit es sich vom Kirchenrecht emanzipierte. Nicht nur waren die Bestimmungen des Code civil selbst nur eine Episode in der französischen Rechtsgeschichte und wurden im Zuge der Restauration teilweise kassiert. Überdies enthielt der Code civil schon in der Fassung von 1804 Bestimmungen, die der Vorstellung, eheliche Sexualität sei eine Angelegenheit des Herzens, enge Grenzen setzten. So formulierte Paragraph 213: "Der Ehemann ist der Frau Schutz, die Frau ihrem Ehemann Gehorsam schuldig." Indem das Verhältnis von Schutz und Gehorsam an die Stelle der Beischlafpflicht trat, führte der Code civil in das Eherecht ein Moment geschlechtertheoretisch begründeter Ungleichheit ein, die das kirchliche Eherecht in dieser Weise nicht kannte.

Ein leitender Gedanke von Kleinbecks Studie ist, dass beginnend mit der von Rousseau im "Emile" entworfenen Ehetheorie über die eherechtlichen Bestimmungen von Kant und Hegel bis zu Freuds Reflexionen über Ehe und Sexualität der Begriff der Zärtlichkeit jenen diskursiven Ort darstellt, an dem die Widersprüche des Eherechts vermittelt werden sollen. Die Rede von der Zärtlichkeit weist auf "die Galanterie des französischen Hofs" und den Kultus der Empfindsamkeit zurück, in dem sich die Courtoisie mit frühen Formen bürgerlicher Innerlichkeit verband. Zugleich tritt mit der Zärtlichkeit die Sprache als Instanz der Vermittlung zwischen Trieb und Gesellschaft in Konkurrenz zum Recht: "Sobald sich die Geschlechter reizen und gleichzeitig zurückweisen können, entsteht ... Spielraum für ein Geschehen, in dem die Bedeutung der Mienen, Blicke, Gesten und Worte nur noch aus der singulären Begegnung selbst erschlossen werden können."

Die Individualisierung ehelicher Sexualität geht einher mit der Unterwerfung des Individuums unter innerpsychische Zwänge: "Sobald der sinnliche Genuss im Rahmen der Ehe nicht länger dem Zwang des Rechts untersteht, wird er unter dem Vorzeichen der Zärtlichkeit zu einem Gegenstand der Pädagogik ... Der entrechtete Beischlaf wird so zu einer Frage der Verhaltensführung."

In vier Kapiteln skizziert Kleinbeck die Abschließung erotischer Verkehrsformen durch die Pädagogisierung und Psychologisierung eherechtlicher Bestimmungen. Anhand von Rousseaus "Emile", Kants "Metaphysik der Sitten", Hegels Rechtsphilosophie sowie Freuds Schriften zur Sexualtheorie veranschaulicht er die Ambivalenz der vom bürgerlichen Ehebegriff vollzogenen Psychologisierung rechtstheoretischer Bestimmungen. Versucht Rousseau noch, die mit der Säkularisierung des Eherechts entstandene Unabwägbarkeit ehelicher Sexualität durch ein an Montesquieus "Lettres persanes" geschultes Ideal "orientalischer" Polygamie zu kompensieren, weisen Kant und Hegel jede promiskuitive Lockerung der Ehebande zurück und begreifen die aus der innerpsychisch wirksamen Treuepflicht entspringende Nötigung zur Versagung als Movens bürgerlicher Vergesellschaftung.

Bei Kant figurieren die zur "Zärtlichkeit" moderierten Triebimpulse dennoch als mögliche Formen von "Ansteckung", und "Erschöpfung" sowie als kannibalische Neigung, den anderen Menschen aufzuessen. Durch die Nötigung zur beiderseitigen Anerkennung der Tatsache, dass in jeder ehelichen Bindung mit dieser Gefahr zu rechnen ist, wird die säkularisierte Ehe in der "Metaphysik der Sitten" zu der intimen Institution aufgeklärter Bürgerlichkeit. Hegel konzipiert das "Verschwinden der Leidenschaft" aus der ehelichen Beziehung als Voraussetzung bürgerlichen Menschen- und Warenverkehrs, der durch die sexuellen Impulse, die durch die bürgerliche Ehe zu "absorbieren" seien, gestört würde. Freuds Sexualtheorie suchte der Tatsache Rechnung zu tragen, dass das Ethos von Verzicht und Aufschub, das Kant und Hegel der Sexualität verordneten, triebdynamische Konflikte entband, die innerhalb der Ehe kaum aufzulösen waren.

Gerade weil Kleinbeck dem als Versagungskompensation verstandenen Begriff der Zärtlichkeit die Rechnung aufmacht, ist es bemerkenswert, wie wenig er zu gegenwärtigen Konsenstheorien von Sexualität zu sagen hat, die doch selbst ein Spätprodukt des Strebens nach Einvernehmlichkeit sind. So wie er den Begriff des Patriarchalismus auf die Eherechtstheorie Kants anwendet, die mit den Theoremen der Zärtlichkeit und Einvernehmlichkeit doch die Auflösung patriarchaler Formen beförderte, spricht er mit Blick auf Freuds Forderung nach versprachlichender Bearbeitung von Triebkonflikten von "Aushandlung", fasst also die Konzepte sexueller Einvernehmlichkeit in Begriffe der Postmoderne. Dadurch gerät die Rigidität heutiger sexueller Verhandlungsmoral aus dem Blick, selbst wenn sie sich in Kleinbecks Terminologie niederschlägt. MAGNUS KLAUE

Johannes Kleinbeck: "Geschichte der Zärtlichkeit". Die Erfindung des einvernehmlichen Sex und ihr zwiespältiges Erbe bei Rousseau, Kant, Hegel und Freud. Matthes & Seitz, Berlin 2023. 334 S., Abb., geb., 28,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.10.2023

Ach, komm
Wie funktioniert guter Sex, und was heißt Einvernehmlichkeit
eigentlich genau? Zwei Philosophiebücher klären auf
Wenn Stars und Idolen sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden, gibt es in der öffentlichen Diskussion dazu inzwischen stehende Routinen. Sechs Jahre nach Beginn der „Me Too“-Bewegung erkennt man sie schnell wieder. Eine besonders merkwürdige ist die von Fans und Rechthabern auf sozialen Plattformen erhobene Forderung, über eine Angelegenheit zu schweigen, bis juristisch entschieden sei, ob überhaupt „ein Fall“ vorliege.
Abgesehen von den inneren Widersprüchen einer Wortmeldung, die sagen will, dass es nichts zu melden gebe, zeigt sich darin das Bedürfnis, zu vereinfachen, immer verständlich, immer vergeblich. Man wünscht sich, die mühevolle Beschäftigung mit Zweifeln, Beweislagen, Motiven, Karriereschäden für mutmaßliche Täter aber eben auch Opfer überspringen und direkt zum gerichtsfesten Urteil übergehen zu können. Und offenbar wäre man bereit, dafür richtig viel aufzugeben. Denn dieses Argument bedeutet, wie zwei neue Philosophiebücher zeigen, einen beherzten Rückschritt hinter eine zentrale Errungenschaft der bürgerlichen Aufklärung: private, intime Beziehungen möglichst unabhängig von den Regelungen des Gesetzes führen zu können, die zuvor zum Beispiel „eheliche Pflichten“ einklagbar machten.
Wo es eine klare Unterscheidung gab – Sex in der Ehe ist immer richtig, außerhalb der Ehe reden wir nicht drüber – ist nicht erst neulich, sondern im 18. Jahrhundert ein Freiraum geschaffen worden, in dem sich seitdem das Gewirr aus Gefühlserwartungen, Umgangsformen, moralischen Vorstellungen und Begehren befindet, von dem wir reden, wenn wir von Sex reden. Manchmal auch von Liebe. Dass es schwierig sein kann, sich in dem Durcheinander zurechtzufinden, ist Alltagserfahrung, Thema herzzerreißender Geschichten und kritischer Literatur. In den letzten Jahren etwa der Bücher der israelischen Soziologin Eva Illouz.
Die „Me Too“-Bewegung hat gezeigt, dass es in Liebe und Sex zu allem Überfluss nicht nur um persönliche Dramen und Konflikte der Selbstverwirklichung geht, sondern um ernste soziale Kämpfe, um Macht. Deren Vorgeschichte und Erkenntnisse zu sortieren helfen in erstrebenswerter akademischer Ausgeruhtheit die neuen Bücher des Literaturwissenschaftlers Johannes Kleinbeck und der französischen Philosophin Manon Garcia. Wobei Letztere ein klares Ziel ihrer Untersuchung formuliert: Sex soll für alle besser werden.
Die zentrale Frage auch hinter „Me Too“ ist eben nicht nur, was legitimen Sex ausmacht. Sie ist grundsätzlicher und komplizierter. Das erschreckt die Vereinfacher. Zumal Garcia darauf hinweist, dass es zwischen gutem und schlechtem oder gutem und falschem Sex keine Hop-oder-Top-Entscheidung gibt. Dazwischen liegt das ganze Spektrum der sexuellen Begegnungen, in denen zum Beispiel eines von zwei Subjekten mittendrin die Lust verliert, aber sich nicht mehr traut, es zu sagen. Oder in denen man dem Sex zustimmt, weil sonst endlose Diskussionen bevorstehen, man aber saumüde ist und schlafen will. Oder glaubt, das Gegenüber irgendwie trösten zu müssen. Oder eine oder beide Seiten sind so betrunken, dass nicht mehr richtig zu entscheiden ist, wer was will. Oder jemand tauscht den Zugang zu Arbeit, Ruhm,Geld gegen Sex. Oder Gewalt wird nur angedeutet, und gegen die Angst vor einer Vergewaltigung scheint Zustimmung die bessere Option zu sein. In diesen Fällen hätte sich niemand strafbar gemacht, aber als völlig freiwilligen oder gar lustvollen Sex würde man sie nicht werten.
„Die moralische Frage, was guter Sex sei“, schreibt Garcia, „ist keine Frage von geringerer Bedeutung, als die Frage, was schlechter Sex ist, der verboten werden sollte.“ Dass manchem das Reden über „guten“ Sex bedrohlicher erscheinen mag als das über „strafbaren“ Sex, hat mit Leistungsgedanken zu tun. Die prägen im „sexuellen Skript“ unserer immer noch patriarchal geprägten Kultur vor allem maskuline Rollen: einen gewissen Performancedruck. Für die meisten Männer ist das nicht schön. Und Frauen kennen das daraus erwachsende latente Gewaltrisiko. Dagegen müssen wir Liebeshungrigen, weiblich, männlich, dritte, Manon Garcia zufolge zusammen überlegen: „Wie kann man harmonische und möglichst entpolitisierte intime Beziehungen konzipieren, die von den Mechanismen der sozialen Herrschaft, die sie durchziehen, befreit sind – insbesondere in der Heterosexualität?“
Wie die subtilen Codes von Geschlechterunterschieden und Machtgefällen sofort in die Sprache der Liebe eingeflossen sind, als intime Beziehungen aus dem Bereich des Rechts ins bürgerliche Privatleben übergingen, zeigt Johannes Kleinbeck in seiner „Geschichte der Zärtlichkeit“. Er liest dazu die Aufklärer und Diskursbegründer Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant, Georg Friedrich Wilhelm Hegel und Sigmund Freud. Eine männliche Reihe, Kleinbeck entschuldigt sich zu Beginn dafür. Wobei er daran eben auch sichtbar macht, was Manon Garcia mit der Philosophin Miranda Fricker „epistemische Ungerechtigkeit“ nennt. Dass nämlich der historisch ungleiche Zugang zu Bildung, Ausdrucksmöglichkeiten und Zeit, sich Gedanken zu machen, dazu führte, dass erst mal Männer festlegten, was in den neuen Freiräumen passieren sollte.
Charmante Seitenblicke auf die Lebenssituation, in der die großen Denker Einschlägiges schrieben, zeigen sie dabei als verunsicherte Männer: Kant, der „beschließt, Junggeselle zu bleiben“, Hegel, der nach Linderung seines Hangs zur „hypochondrischen Pedanterie“ sucht und seiner Verlobten Marie von Tucher zuerkennt, sie sei „die Versöhnerin meines wahren Innern mit der Art und Weise, wie ich gegen das Wirkliche und für das Wirkliche – zu häufig – bin“. Heute würde er sagen: „Du tust mir so gut“. Da kann sich die Erwählte schön bedanken, aber auf dem Heiratsmarkt ihrer Zeit wird sie kaum Möglichkeiten gehabt haben, sich gegen den Job zu entscheiden. Was sie an Vorstellungen äußert, schreibt Hegel ihrem „weiblichen Wesen“ zu und „zementiert“ damit die Differenz der Geschlechterrollen, wie Kleinbeck schreibt. Ähnlich geht Sigmund Freud in den Brautbriefen an Martha Bernays vor.
Das Wort „Zärtlichkeit“ steht in dieser Geistesgeschichte des Privaten nach Kleinbecks Beobachtung für „das Ensemble all jener Umgangsformen der ‚Beredtheit in Sprache und Mienen‘, mit denen der Beischlaf von jetzt an ausgehandelt, das heißt angebahnt, aufgeschoben und abgelehnt werden soll“. Der Begriff scheint aber, in semantischem Zusammenspiel mit der „Zartheit“, auch einen Modus zu bezeichnen, in dem Frauen das Begehren ihrer Männer in Beziehungen kanalisieren und durch Entzug und Gewähren stabilisieren sollen.
Die Rollenverteilung zwischen dem wirr begehrenden Mann und der sich rar und interessant machenden Frau ist heute zum Geschlechterbild hartnäckig populärer Beziehungsratgeber und Frauenzeitschriften abgesunken. Sie führte jahrhundertelang dazu, dass das „Nein“ in der Liebe irgendwie zum Vorspiel zu gehören schien. Dagegen sanktioniert tatsächlich die unter der Parole „Nein heißt Nein“ bekannt gewordene Änderung des deutschen Sexualstrafrechts seit 2016 Handlungen „gegen den erkennbaren Willen“ einer Person. Dass die alte Rollenvorstellung in unserem Denken, die CSU würde sagen in unserer „Leitkultur“, grundsätzlicher verankert bleibt, als uns bewusst sein mag, macht Kleinbecks Lektüre großer Aufklärer deutlich.
Im Moment wird ja viel darüber diskutiert, dass die Aufklärung historisch gesehen dazu neigte, alte Unfreiheiten in neuen Ungerechtigkeiten aufzulösen. Eine wichtige Spannung entsteht nun zwischen Kleinbecks historischer und Manon Garcias systematischer Darstellung. Denn ihrem emphatischen Begriff von gutem, einvernehmlichem Sex liegt als moralisches Prinzip doch wieder der Leitstern der Aufklärung zugrunde: Kants kategorischer Imperativ. Der ist viel anspruchsvoller als etwa eine liberale Ethik, der es einfach darum geht, das Begehren eines Subjekts so um die Bedürfnisse der Anderen herum zu organisieren, dass man sich nicht stört. Garcia analysiert Möglichkeiten und Grenzen solcher liberaler Konzepte am Beispiel der Vertragslogik der BDSM-Bewegung, nebst der popularisierten, genderkonformen Schrumpfversion davon, den „Fifty Shades of Grey“-Romanen.
Der Anspruch einer kantianisch substanziellen Moral wäre dagegen: Mit dem Anderen (und sich selbst) in jedem Augenblick so umzugehen, dass sein Wille, seine Würde als Mensch, ja die Integrität der Menschheit gewahrt ist. Das mag sich wie eine überwältigende Aufgabe anhören – zumal in einer Welt, in der nicht mal gewöhnliche Arbeitsverträge solchen Standards genügen. Aber irgendwo müssen wir anfangen, und das ernsthaft zu wollen war der revolutionäre Impuls von Emanzipationsbewegungen wie „Me Too“ und dem sexpositiven Feminismus der letzten Jahre. Manon Garcia stellt die geistesgeschichtlich fundierte Theorie zur Verfügung. Und legt uns ein Begehren nahe, das sich vom gegenderten Skript „starker Mann, nachgebende Frau“ losmacht und sich in dem ausdrückt, womöglich sogar erst entsteht, was auf Englisch „consent“, auf Französisch „consentement“ heißt. Im Deutschen gibt es bezeichnenderweise kein vergleichbar geläufiges Schlagwort.
Manon Garcias Buch heißt im Original „La conversation des sexes. Philosophie du consentement“, die Übersetzung: „Das Gespräch der Geschlechter. Eine Philosophie der Zustimmung“. Das ist nicht die ideale Wortwahl, weil die entscheidende Bedeutungsdimension verloren geht: die Idee der Reziprozität, des gegenseitigen Einverstandenseins. Wobei ja das aus dem juristischen Kontext bekannte Wort „Einvernehmlichkeit“ schön genug wäre, weil darin mitklingt, dass man einander „vernehmen“ also hören, wahrnehmen kann und daraus eine Einigkeit herstellen darüber, was „im Bett“ passieren soll.
Dabei, das wird bei Kleinbeck so klar wie bei Garcia, kann es keine Vereinfachung geben durch ein für allemal getroffene Entscheidungen, Verträge oder sozialen Druck à la „Sie hätte ja wissen müssen, was passiert, wenn sie mit ihm ins Hinterzimmer geht“. Sex, erinnert Manon Garcia, ist ein sozialer Vorgang, es entsteht dabei immer eine Beziehung, selbst wenn sie nur Minuten hält. Wir sollen ihn uns als Gespräch vorstellen, das schon auch non-verbal und vor allem in Körpersprache geführt wird. Es kommt darauf an, dass man dabei bleibt, sendet und empfängt, so etwa zu gleichen Teilen und damit nicht aufhört. Dann, sagt die Philosophie, ist Sex richtig und gut.
MARIE SCHMIDT
Das „Nein“ in der
Liebe gehörte zu lange
zum Vorspiel
Einvernehmlichkeit vertraglich geregelt: Szene aus „Fifty Shades of Grey“.
Foto: imago images/ZUMA Wire
Manon Garcia:
Das Gespräch der
Geschlechter.
Eine Philosophie der Zustimmung.
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Suhrkamp, Berlin 2023. 332 Seiten, 30 Euro.
Johannes Kleinbeck: Geschichte der
Zärtlichkeit. Die
Erfindung des
einvernehmlichen Sex und ihr zwiespältiges Erbe bei Rousseau, Kant, Hegel und Freud.
Matthes & Seitz, Berlin 2023. 334 S., 28 Euro.
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