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Freiheitsmütze als Dornenkrone: Markus Orths gewährt in seinem Roman "Die Tarnkappe" einem Spießer die Gabe der Unsichtbarkeit. Eine düstere Fabel über Machtgier und Korruption.
Bei der Tötung von Usama Bin Laden sollen Tarnkappenhubschrauber gute Dienste geleistet haben; aber in der Weltliteratur wird der alte Menschheitstraum von der Unsichtbarkeit eher skeptisch betrachtet. Auf Siegfrieds Einsatz als Tarnkappenbomber gegen Brünhild lag letztlich kein Segen; der "Invisible Man" von H. G. Wells endete als größenwahnsinniger Mörder, und im "Star Trek"-Universum kämpfen nur hinterhältige Klingonen und Romulaner nicht mit offenem Visier. Heute ist die Tarnkappentechnik keine Sciencefiction mehr. Physiker arbeiten seit einiger Zeit an Metamaterialien mit negativem Brechungsindex, die das Licht um Hohlkörper herum lenken. Markus Orths erwähnt die Experimente in seinem Roman, aber sie spielen ungefähr dieselbe Rolle wie seine Ausflüge ins Reich der Dan-Brown-Mythologie: "Erklärungen sind die lächerlichsten Zwerge des Geistes." Sein Roman "Die Tarnkappe" ist weder Fantasy-Literatur noch pubertäre Phantasie, sondern eine Kafkasche "Verwandlung" unter der Tarnkappe eines Schauermärchens.
Die abgewetzte Lederkappe, die dem Mittvierziger Simon Bloch in einer Aldi-Tüte zugespielt wird, ist jedenfalls kein futuristisches Metamaterial. Allerdings hat auch das Auslaufmodell die bekannten Nebenwirkungen: Tarnkappentragen verändert Körpergefühl und Selbstbewusstsein und wirkt auf die Dauer tödlich. Dass die Kopfbedeckung wie ein Parasit mit ihrem Träger verwächst und nur unter Schmerzen und Realitätsverlust noch abzulösen ist, ist nur der physische Ausdruck psychischer Abhängigkeit. Wer nicht gesehen wird, existiert nicht mehr. Am Ende ist Blochs Freiheitsmütze eine Dornenkrone, das Fell, das ihm über die Ohren gezogen wird.
Dabei begann alles ganz harmlos realistisch. Nach dem Tod seiner Frau und dem Scheitern seiner Ambitionen als Filmmusikkomponist hat sich der Junggeselle in einem Käfig von Routinen und erkalteter Lebenswut versteckt. In seiner Büroexistenz beantwortet Bloch Beschwerdebriefe von Wutbürgern, in seinem Privatleben ist er ein unscheinbarer Zwangsneurotiker.
Das Wiedersehen mit Gregor wirft Bloch aus der Bahn. Der schrecklich zugerichtete Penner raunt etwas von dunklen Mächten, die hinter ihm her sind, und hinterlässt seinem Jugendfreund sein Danaergeschenk, die mit Blutresten verklebte Tarnkappe. Endlich kann der ohnmächtige Blitzableiter frustrierter Zeitgenossen die Menschen in ihren intimen Momenten erleben, wie ein Gott rächend und wohltätig in ihr Leben eingreifen, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die beglückende Erfahrung von Macht und Freiheit wird für Bloch bald zur Obsession, die Flucht aus der "öden Mittelmäßigkeit" zur Sucht.
Der Einbruch des Grotesken in die Angestelltengesellschaft ist immer eine literarische Gratwanderung. Nicht jeder Gregor ist ein Ungeziefer von kafkaesker Größe, nicht jeder Mann ohne Schatten ein Peter Schlemihl. Orths' Roman ist nicht frei von schiefen Sprachbildern und verunglückten Metaphern. Die einmontierte Geschichte von den drei Jugendfreunden, deren Mutprobe auf dem Friedhof schrecklich aus dem Ruder lief, bietet nur konventionellen Zombie-Grusel, und mit der "Zerstäubung" Blochs am Ende löst sich auch der Roman im Nirwana auf. Sehr viel besser gelungen ist die verstörende Neuinterpretation des alten Unsichtbarkeitstopos: "Die Tarnkappe" ist vor allem ein metaphysischer Thriller über Identitätsdiebstahl und gescheiterte Ausbrüche aus der "Lebensvollzugsanstalt".
Schon in Orths' letztem Roman "Das Zimmermädchen" drang eine quasi unsichtbare Hotelangestellte ins Leben der anderen ein: Die Dienstbotin durchwühlte die Koffer der Gäste, probierte ihre Kleider an und ihre Identitäten aus. In "Die Tarnkappe" spielt der Autor das Motiv jetzt bis zum bitteren Ende durch. Die Unsichtbarkeit macht Bloch zum Herrn über Leben und Tod, aber die "absolute Einseitigkeit" der Begegnungen löst alle moralischen Hemmungen auf und macht ihn schließlich zum leeren, nackten Subjekt, "vollständig bekleckert von nichts". Es ist ja nicht er, der spioniert und lauscht, im Vollgefühl seiner Allmacht belohnt und bestraft: Es ist die Tarnkappe, die ihn von innen und außen her auffrisst. Orths schildert die Eskalation mit viel psychologischem Feingefühl und existentialphilosophischem Ernst und nimmt die großen Fragen doch fast beiläufig auf die Tarnkappe eines spannend und dicht erzählten Abenteuerromans.
Als Kind träumte Orths davon, selbst unsichtbar zu werden; später wollte er wie Bloch Filmkomponist werden. Gute Filmmusik muss unterhalb der Bewusstseinsschwelle bleiben, Stimmungsträger und doch quasi unhörbar im Hintergrund. In diesem Sinne benutzt auch Orths das alte Motiv der Unsichtbarkeit als Begleitmusik für seine Beschreibung von Medien und Mächten, die passive, unbeteiligte Zuschauer zu Tätern machen. Der Spion, der sich unter dem Schutz seiner Tarnkappe kleine Freiheiten und Frechheiten in fremden Wohnungen und öffentlichen Parks herausnimmt, ist kein unschuldiger Beobachter, sondern das verkappte Böse.
MARTIN HALTER
Markus Orths: "Die Tarnkappe". Roman.
Schöffling & Co., Frankfurt 2011. 223 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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