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Die Verfassung hat sich im 20. Jahrhundert weltweit durchgesetzt. Die Zahl der Staaten, in denen heute noch ohne Verfassung regiert wird, ist verschwindend gering. Es mehren sich aber Anzeichen, die auf eine zunehmende innere Schwäche der Verfassung hindeuten und Zweifel an ihrer unverminderten Fähigkeit zur Politikregulierung wecken. Da es der Verfassung nicht mehr gelingt, alle Träger öffentlicher Gewalt in ihr Regelungswerk einzubeziehen, muß man damit rechnen, daß sie auch nicht mehr alle Bereiche der Staatstätigkeit erfassen wird. Ob ein verändertes Verfassungsverständnis diesen…mehr

Produktbeschreibung
Die Verfassung hat sich im 20. Jahrhundert weltweit durchgesetzt. Die Zahl der Staaten, in denen heute noch ohne Verfassung regiert wird, ist verschwindend gering. Es mehren sich aber Anzeichen, die auf eine zunehmende innere Schwäche der Verfassung hindeuten und Zweifel an ihrer unverminderten Fähigkeit zur Politikregulierung wecken. Da es der Verfassung nicht mehr gelingt, alle Träger öffentlicher Gewalt in ihr Regelungswerk einzubeziehen, muß man damit rechnen, daß sie auch nicht mehr alle Bereiche der Staatstätigkeit erfassen wird. Ob ein verändertes Verfassungsverständnis diesen Geltungsschwund auffangen kann oder die Verfassung zu einer Teilordnung verkümmert, bleibt vorerst offen.
Autorenporträt
Dieter Grimm ist Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Permanent Fellow und ehemaliger Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Von 1987 bis 1999 war er Richter des Bundesverfassungsgerichts. Im Suhrkamp Verlag sind u. a. erschienen: Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866 (es 1271), Die Zukunft der Verfassung (stw 968) und Die Zukunft der Verfassung II. Auswirkungen von Europäisierung und Globalisierung (stw 2027).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.05.1999

Wir stehen an des Rechtes Stufen und sind bereit, hurra zu rufen
Sofern sich's irgend machen läßt: Warum das Grundgesetz seit fünfzig Jahren seinen Auslegern entgleitet

Eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung", lautet Artikel 16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Mehr als Grundrechte und Staatsorganisation können Verfassungen indessen nicht regeln. Eine Gesellschaft, die beides nicht kennt, hat tatsächlich keine Verfassung. Sollte die französische Nationalversammlung eine Tautologie gemeint haben? Kaum. Sie wird "Verfassung" nicht als schriftlich festgelegten, jederzeit änderbaren Gesetzestext, sondern in der damals noch gegenwärtigen, ursprünglichen Bedeutung als Zustand eines Körpers oder Geistes verstanden haben. Sinn des Satzes wäre dann: Eine Gesellschaft ohne geschriebene Verfassung befindet sich in keinem guten Zustand. 1818 hat der liberale Freiburger "politische Professor" Karl von Rotteck diesen Gedanken demokratisch verschärft: "Ein Volk, das keine Verfassung hat, ist - im edlen Sinn des Wortes - gar kein Volk; es ist eine Summe von Untertanen, nicht aber ein lebendiges Ganzes." Je mehr Verfassung oder wenigstens Verfassungsgebung, desto mehr "lebendiges Ganzes" wurde seitdem zur geheimen Losung der Politik. Noch 1990 hat Oskar Lafontaine die Beibehaltung des Artikels 146 des Grundgesetzes durchgeboxt, der das deutsche Volk auffordert, sich eine neue Verfassung zu geben, sobald es wirklich frei ist. Diese Aufforderung hat heute allerdings mehr mit der Geduld von Papier als mit der Verfassung zu tun.

Die Niederlage im Ersten Weltkrieg hat die Einheit von deutschem Volk und Verfassung gesprengt. Die Deutschen blieben zwar ein "lebendiges Ganzes". Aber sie stritten darüber, welche Verfassung ihrer Verfassung, das heißt, welcher positivrechtliche Rahmen für Politik ihrem gesellschaftlichen Zustand am besten entspräche. Heraus kam ein schon sprachlich auf Volksnähe angelegter Kompromiß, mit dem niemand zufrieden sein konnte. Erst die moralische und wirtschaftliche Not nach dem Zweiten Weltkrieg lehrte die westdeutsche Politik, daß ein Verfassungsgesetz den Zustand einer Gesellschaft nicht verbessern, nur stabilisieren kann. Das Grundgesetz organisiert die Politik so, daß sie Gesetze ändern kann, ohne die Rechtsprechung zu stören. Den einzelnen Bürger stattet es mit reellen Chancen aus, wenn er sich gegen politische Entscheidungen wehren will. Das funktioniert.

Aber viele wollen es nicht glauben. Man fragt, ist eine Gesellschaft gut verfaßt, in der sich das Verfassungsgesetz mit der Entgegensetzung von Politik und Volk begnügt? Wo bleibt das Gute, Wahre und Schöne? Wo bleibt der Mensch? Oder, anders gewendet, ist die Entgegensetzung von Volk und Politik nicht viel zu simpel für eine Gesellschaft, die immer komplexer wird, in der das Gute, Wahre und Schöne mehr polarisiert als orientiert? Wie die Menschenrechtserklärung von 1789 unterscheiden beide Fragen zwischen verfaßter Politik und Gesellschaft. Sie glauben aber nicht, daß die Organisation der Politik den Zustand der Gesellschaft, sondern daß der Zustand der Gesellschaft die Organisation der Politik bestimmt. Aber mit welchem Ziel? Die französische Nationalversammlung wußte, was sie wollte: den Feudalismus durch Demokratie ersetzen. Und was soll die Anknüpfung an die Verfassung der Gesellschaft in einem demokratischen Rechtsstaat?

Zugegeben, der Zusammenbruch des Sowjetimperiums hat eine Schwäche aufgedeckt. Demokratie und Rechtsstaat scheinen an den euro-amerikanischen Kulturkreis gebunden zu sein, hängen wahrscheinlich von der westlichen Gesellschaftsstruktur ab. Die kann freilich nur eine Gesellschaftstheorie angemessen beschreiben. Der Blickwinkel der Verfassung ist viel zu eng. Jenseitsglaube, Produktivität, Geschlechtsverhalten und Erfindungskraft liegen außerhalb seines Beobachtungsfeldes, obwohl sie die Gesellschaft weit nachhaltiger prägen als die Politik. Das kann jeder selbst feststellen, wenn er sich fragt, was ihm wichtiger ist, sein Gehaltskonto oder die Anzüge des Bundeskanzlers, die Entwicklung seiner Kinder oder die ökologische Steuerreform. Warum also der Rückgriff auf den Zustand der Gesellschaft?

Der erste Band der gesammelten Schriften von Ernst Fraenkel gewährt einen Einblick in die Weimarer Verfassungsdiskussion. Fraenkel ist nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer Pluralismustheorie bekannt geworden. In der Weimarer Zeit hat er sich für die Arbeiterbewegung und seit 1931 für die Erhaltung des demokratischen Rechtsstaates engagiert. Wie die rechten Parlamentarismuskritiker hält auch er die liberale, bürgerliche Demokratie für überholt. Der Zustand der Gesellschaft werde von Klassengegensätzen bestimmt. Das gleiche Wahlrecht für alle habe im Proletariat die Vorstellung geweckt, es sei ein Mittel, seine Lage zu bessern. Also sei "das Parlament zum Schauplatz des Aufeinandertreffens der Klassengegensätze" geworden. Eine wirkliche parlamentarische Debatte finde nicht mehr statt. Klasseninteressen konkretisierten sich nicht in Individuen, sondern in Organisationen. Deshalb müsse verfassungsrechtlich anerkannt werden, was längst soziale Wirklichkeit sei. Die Organisationen müßten unmittelbar an der politischen Willensbildung beteiligt werden. Fraenkel nennt das "kollektive Demokratie", die die individuelle Demokratie ergänze.

Fraenkel war repräsentativ für die republiktreue Sozialdemokratie, und an seiner Redlichkeit ist nicht zu zweifeln. Aber was heißt in diesem Zusammenhang republiktreu? Fraenkel hatte ein taktisches Verhältnis zum Verfassungsgesetz. Ihre offene Instrumentalisierung für den Klassenkampf mußte die Verfassung letztlich ruinieren. Daß Fraenkel ehrlich glaubte, sie zivilisiere die Auseinandersetzungen, indem sie eine Art Gleichgewicht der Kräfte schaffe, ändert daran nichts. Bei einer solchen Verteidigung der Republik kann man sich über deren Ende nicht wundern.

Nach welchem Bild Fraenkel die Gesellschaftsverfassung beschreibt, ist leicht zu sagen, nach dem marxistischen. Für das Verhältnis zwischen Verfassungsgesetz und Gesellschaftsverfassung interessiert weniger, ob sich dieses Bild mit den wahrnehmbaren historischen Tatsachen deckt. Wichtiger ist, daß Marx es auch im Namen der Gerechtigkeit entworfen hat, daß seine Beschreibung der Wirklichkeit ununterscheidbar mit Gerechtigkeitsvorstellungen verwoben ist. Um diese Gerechtigkeit ging es offenkundig auch Fraenkel. Sein Beispiel zwingt deshalb zu der Frage, ob mit der Beschreibung einer Gesellschaftsverfassung Realität mitgeteilt, normative Forderungen erhoben oder Visionen vom guten Leben ausgebreitet werden.

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg spielte das Verhältnis zwischen Verfassungsgesetz und Gesellschaftsverfassung praktisch nur für Marxisten und in der Diskussion um die Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik eine Rolle. Der Zustand der deutschen Gesellschaft war in jeder Hinsicht so weit hinter die Standards der westlichen Kultur zurückgefallen, daß die deutsche Politik 1949 keine andere Wahl hatte, als zu versuchen, aufzuschließen. Die Eindeutigkeit der Lage bot keinen Ansatz für die Diskussion von Alternativen. Die technische Perfektion und die strenge Rechtsförmigkeit des Grundgesetzes sowie eine verblüffend erfolgreiche Politik warfen aber bald die Frage nach den Gründen auf. Diese Frage verschärfte sich dadurch, daß die Unmöglichkeit, das positive Verfassungsrecht religiös oder traditional zu rechtfertigen, inzwischen weitgehend anerkannt war. Ein modernes Recht stabilisiert sich mit vielerlei Unterscheidungen selbst. Eine der grundsätzlichsten ist die Rangordnung der Rechtssätze vom Rechtsakt oder Vertrag über Verordnung und Gesetz bis zum Verfassungsgesetz. Diese Konstruktion funktioniert gut, hat aber den Nachteil, daß ausgerechnet die Normen höchsten Ranges, die Verfassungsnormen, rechtstheoretisch in der Luft hängen, obwohl auch sie als gesetztes, jederzeit änderbares Recht gerechtfertigt werden müssen. Wenn die Verfassungsnormen nicht in einem speziellen Text zusammengefaßt sind wie in Großbritannien, kann man sie auf die Traditionen des sogenannten einfachen Rechtes stützen. Werden sie aber so scharf gegen das rangniedere Recht abgesetzt wie im Grundgesetz, scheint nur der Rückgriff auf den Zustand der Gesellschaft zu bleiben, aus dem schließlich alles wächst, auch das Verfassungsgesetz.

Ernst-Wolfgang Böckenförde hat schon in den siebziger Jahren betont, die Rechtsförmigkeit des Grundgesetzes und der Ausbau der Verfassungsgerichtsbarkeit verlangten nach einer zuverlässigen Methode der Verfassungsauslegung, und Zuverlässigkeit sei nur mit einer verfassungsgemäßen Verfassungstheorie zu erreichen. "Verfassungstheorie in diesem Sinne bedeutet nicht irgendeinen Vor-Begriff von Verfassung, sondern eine systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Verfassung als solcher und ihrer Teile." Hier ist mit Verfassung allein das Verfassungsgesetz gemeint. Das Verfassungsgesetz muß seine normative Kraft aus sich selbst gewinnen. Die Verfassungstheorie soll ihm dabei helfen, indem sie die Normen in ein System bringt, historische Verwurzelungen offenlegt und energiespendende Anschlüsse an die übrige Rechtsordnung und die anderen Ordnungen der Gesellschaft herstellt. Von einer Gesellschaftsverfassung ist nicht nur mit keinem Wort die Rede, letztlich weist Böckenförde den Gedanken zurück, indem er ihn historisch relativiert.

In einem Aufsatz "Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung" hat er 1983 das marxistische Verfassungsverständnis mit spitzen Fingern referiert, nicht kritisiert. Böckenförde hält die Weimarer Verfassung und die österreichische Verfassung von 1920 sogar tatsächlich für Klassenkompromisse. Aber das sind vergangene Zeiten. Heute wird das Grundgesetz zur "Verfassung als rechtliche Lebensordnung und Wertgrundlage des politischen Gemeinwesens" stilisiert, was für Böckenförde bedeutet, daß es den jeweiligen Zeitströmungen ausgeliefert wird, weil Wertgrundlagen juristisch nicht faßbar sind. Für gläubige Marxisten ist freilich das Grundgesetz ebenso ein Klassenkompromiß, wie es die Weimarer Verfassung war. Die Klassengegensätze bestehen ja fort. Aber für Böckenförde entscheidet eben nicht die Gesellschaftsverfassung, sondern das Verfassungsgesetz und seine Interpretation. Für ihn ist die theoretische Bekräftigung des Verfassungsgesetzes das sicherste Mittel, die Gesellschaft zu stabilisieren. Eine vollkommene Verfassungstheorie bedeutete vollkommene Stabilität, gleichsam das Ende der Geschichte.

Auf einen solchen Gedanken kann nicht kommen, wer mit Dieter Grimm nach der Zukunft der Verfassung fragt. Wieder ist das Verfassungsgesetz gemeint, vor allem das Grundgesetz, aber auch alle Regelungen gleichen Typs. Die Einzahl verwendet Grimm, um den Typ zu kennzeichnen. Diese Art von Verfassungen ist um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert entstanden und kann wieder verschwinden. Ob sie wieder verschwindet, hängt davon ab, ob die wesentlichen Bedingungen ihrer Entstehung noch bestehen. Die erste Bedingung war der Verfall der Fürstenherrschaft. Das Bürgertum ersetzte sie durch die Herrschaft des Rechtes. Man nahm an, "die Gesellschaft sei aus sich heraus in der Lage, zu Wohlstand und Gerechtigkeit zu gelangen, wenn sie sich nur frei von externer Bestimmung entfalten dürfe".

Die Verwirklichung dieses "bürgerlichen Sozialmodells" setzte als zweite Bedingung eine Trennung von Staat und Gesellschaft in dem Sinne voraus, daß der Staat nur die äußere und innere Sicherheit gewährleisten durfte, während alle sozialen, ökonomischen und kulturellen Zwecksetzungen in den Bereich der Gesellschaft fielen. Diese zweite Bedingung ist nach Ansicht Grimms entfallen. Der Markt, also das Spielfeld der Gesellschaft, habe versagt. An seiner Stelle müsse der Staat soziale Sicherheit und Gerechtigkeit herstellen. Dafür bediene er sich neuer Instrumente, die in der Verfassung nicht vorgesehen seien.

Da das Verfassungsgesetz jederzeit nach allen Richtungen geändert werden kann, kann der Zustand einer Gesellschaft die Frage nach den Änderungsgrenzen oder -notwendigkeiten nur beantworten, wenn und soweit er ursächlich für das Gesetz ist. Nur dann läßt sich auch klären, ob auffällige Änderungen im Verhalten oder in den Einstellungen der Menschen die Gesellschaftsverfassung überhaupt berühren und Änderungen des Verfassungstextes induzieren. An Grimms Darstellung der tatsächlichen Bedingungen von Verfassungen fällt aber auf, daß er die Trennung von Staat und Gesellschaft nicht mit historischen Fakten belegt. Statistiken fehlen ebenso wie eine Auseinandersetzung mit der preußischen Industrialisierungspolitik und der Bismarckschen Sozialpolitik, Sozialgestaltungen, für die man im zwanzigsten Jahrhundert erst Vergleichbares finden muß. Aber die Lücke ist kein Zufall. Grimm schreibt: "Das ,Modell' und nicht die Realität der bürgerlichen Gesellschaft steht hier im Vordergrund, weil auf dieses hin Verfassungen entworfen werden."

Aber woher stammt das Modell? Gelegentlich wird Hegel die Urheberschaft zugeschrieben. Aber Hegel kommt bei Grimm zu Recht nicht vor. Hegels Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft verkehrt die Begriffe. Er überträgt die Sorge für Sicherheit und Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und reserviert für den Staat das, was man heute Zivilgesellschaft nennt. Richtig ist natürlich, daß Verfassungen auf Modelle hin entworfen werden, heute noch. Nur ist der Realitätsbezug der Modelle zu analysieren, bevor man sie der derzeitigen Wirklichkeit entgegenhält. Sollte der Realitätsbezug der Trennung von Staat und Gesellschaft darin bestanden haben, soziale Probleme zu verschleiern oder der Politik zu erlauben, Schwierigkeiten auf die Individuen abzuwälzen, dann ist das Modell heute so aktuell wie im neunzehnten Jahrhundert. Unter Berufung auf die Trennung von Staat und Gesellschaft könnte die Politik etwa alle Runden Tische in die Rumpelkammer stellen, allen innerstaatlichen Bündnissen den Rücken kehren, selbst prüfen, was der Wirtschaft, den Arbeitnehmern oder den Rentnern zuzumuten ist, und dann einfach mehrheitlich entscheiden. Daß sie heute nicht entscheidet, sondern bis zum Delirium delibriert, hängt nicht mit dem bürgerlichen Sozialmodell, sondern mit dem Wiederwahlwunsch der Parteien zusammen. Solange der ernst genommen wird, brauchen wir uns um die Zukunft der Verfassung eigentlich nicht zu sorgen, eher um die Wirtschaft.

Wechselt man von der Aufsatzsammlung Grimms zu der seines Kollegen Paul Kirchhof, so wechselt man von einem halbleeren zu einem halbvollen Glas. Kirchhof argumentiert mit der Freiheit so, wie Grimm es kaum mehr für möglich hält. Er begreift Grundrechte und demokratische Mitwirkung als Angebot und Chance, die jeder einzelne kraft eigener Anstrengung wahrnehmen muß. Tut er das nicht, entfällt eine Voraussetzung des Verfassungsstaates. Denn Verfassungen entstehen "aus einem real gewachsenen, durch die Kulturtradition geprägten politischen Willen, der eine im Staatsvolk und in den gesellschaftlichen Gruppen maßgebliche Ordnungsidee normativ verfestigt und weitergibt". Verfassungsgebung ist Verfassungsweitergabe. Deshalb setzt "das Entstehen einer Verfassungsurkunde bereits eine Verfaßtheit voraus: die Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit eines Staatsvolkes, den Willen zur Rechtsbindung, ein - mehrheitliches - Entscheidungsverfahren, eine Sprache, in der Recht gedacht und ausgedrückt werden kann". Wenn man nicht glaubt, Verfassungen fielen vom Himmel, kann man das nicht bestreiten.

Aber die Verfaßtheit im Sinne Kirchhofs ist nicht eine vom Verfassungsgesetz abgehobene Gesellschaftsverfassung, sondern eine unablösbare tatsächliche Voraussetzung der Geltung eines Verfassungsgesetzes, so wie das elterliche Erziehungsrecht tatsächlich die Entwicklung des Menschen vom Baby zum Greis voraussetzt. Diese Zusammenschau von Normen und Tatsachen bedeutet, daß die deutsche Wiedervereinigung für Kirchhof im Grunde kein Verfassungs-, sondern ein praktisch-politisches Problem ist. Es gibt eine gemeindeutsche Kultur. Schwierigkeiten bereitet ihm natürlich der Lafontaine-Artikel 146, weil er den Geltungsanspruch des Grundgesetzes berührt. Aber dieses Zeugnis der parteipolitischen Instrumentalisierung des Verfassungstextes ordnet er bewundernswert elegant in die Vorschriften über die Verfassungsänderung ein. Ein Verfassungsproblem ersten Ranges ist ihm aber die europäische Einigung. Angesichts der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Europäischen Union leugnet Kirchhof natürlich nicht, daß es eine gemeineuropäische Rechtskultur gibt. Er behauptet jedoch, zu dieser Kultur gehöre der herkömmliche Nationalstaat, und schließt daraus, die Bundesrepublik Deutschland dürfe ihre Staatlichkeit nicht zugunsten eines europäischen Bundesstaates aufgeben. Ähnliches meint inzwischen auch das Bundesverfassungsgericht.

Der real gewachsenen Ordnungsidee der Eltern des Grundgesetzes dürfte diese Art bundesrepublikanischer Selbstbehauptung allerdings kaum entsprechen. Wahrscheinlich wäre es den meisten Deutschen 1949 ganz lieb gewesen, wenn die Bundesrepublik Deutschland in der gleichen Weise ein Land in einem europäischen Bundesstaat hätte werden können, wie der Freistaat Bayern ein Land der Bundesrepublik wurde. Aber die anderen europäischen Staaten hatten etwas dagegen, begreiflicherweise. Gegen solche Hinweise beruft sich Kirchhof auf Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes, der Verfassungsänderungen verbietet, die die Verpflichtung eines Staates auf Menschenwürde und Grundrechte, Rechtsstaat und Demokratie sowie die Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung berühren. In diese "Ewigkeitsklausel" liest er den Satz hinein: "Die Bundesrepublik ist ein Staat", zu ergänzen: ein souveräner Staat. 1949 konnte die Klausel die Staatlichkeit der Bundesrepublik aber schon deshalb nicht meinen, weil höchst zweifelhaft war, ob die Bundesrepublik ein Staat war. Eigentlich wurde sie es erst im Mai 1955 mit der Aufhebung des Besatzungsstatuts. Die Klausel meinte vielmehr: Nie wieder Diktatur! Eine Diktatur soll ein europäischer Bundesstaat aber wohl nicht werden.

Diese Überlegungen wollen zeigen, daß "Kultur" zu hoch aggregiert ist und nur aus diesem Grund den Unterschied zwischen Verfassungsgesetz und Gesellschaftsverfassung zum Verschwinden bringen kann. Wie man mit der Berufung auf die europäische Rechtskultur zu anderen Ergebnissen kommt, zeigt die Aufsatzsammlung des griechischen, in Griechenland und Deutschland lehrenden sowie in vielerlei politischen Funktionen bewährten Staatsrechtlers Dimitris Th. Tsatsos. 1987 hat Tsatsos unter dem Titel "Von der Würde des Staates zur Glaubwürdigkeit der Politik" Legitimation als Systemvertrauen beschrieben, das die Politik gerade bei denen erwerben müsse, die von politischen Entscheidungen benachteiligt würden. Das ist ein wichtiger Gedanke. Nur taucht er in einem Aufsatz von 1997 über die Funktionen der Verfassung auf europäischer Ebene nicht mehr auf. Dort sind es europäische Verfassungsnormen, die die "identitätsstiftende Funktion nationalen Rechtes" wahren müssen. Die Europäische Union integriert die Unionsbürger bereits dadurch, daß sie um ein Verfassungsgesetz ringt. Wie konkret das gemeint ist, zeigt Tsatsos' deutliche Stellungnahme für eine "Neukonstituierung" aus Anlaß der Wiedervereinigung. Denn "Verfassungen gelten nicht primär, weil sie gut sind, sondern vor allem, weil sie Ausdruck der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes sind". Volk sind die jeweils hier und heute lebenden Staatsbürger. Ihr Wille ist Gesetz. Eine Differenzierung zwischen Verfassungsgesetz und Gesellschaftsverfassung kennt daher auch Tsatsos nicht. Mit Paul Kirchhof muß sich sein Volksdezisionismus allerdings fragen lassen: Und was geschieht, wenn sich die verfassungsgebende Gewalt des Volkes ausgedrückt hat? Geht sie dann schlafen, oder drückt sie sich morgen in einer wieder anderen Verfassung aus?

Daß Verfassungsgesetze als ranghöchste Normen des positiven Rechtes legitimatorisch in der Luft hängen, verlangt nach ihrer Rechtfertigung und schließt sie gleichzeitig aus. Alle Kritik an Rechtfertigungsversuchen ist deshalb wohlfeil. Aber schon der Gedanke, daß Verfassungsgesetze zu rechtfertigen sind, zwingt dazu, sie von dem zu unterscheiden, aus dem die Rechtfertigungskriterien gewonnen werden sollen. In diesem Sinne schließt die Positivität des Verfassungsgesetzes die Unterscheidung zwischen Verfassungsgesetz und Gesellschaftsverfassung ein. Die Differenz liegt auch allen Reflexionen über Verfassungen zugrunde. Was ein Verfassungsgesetz ist, steht seit mehr als zweihundert Jahren ziemlich fest: ein Korpus von Rechtstexten, den die Rechtsordnung in den höchsten Rang erhoben hat. Wie die Gesellschaftsverfassung zu beschreiben ist, ist dagegen offen. Für Fraenkel und Grimm ist sie eine Art soziologische Realität, für Böckenförde Geschichte, für Kirchhof Kultur und für Tsatsos der Wille des Volkes, also jeweils unendlich komplexe Verhältnisse. Man erkennt aber auch, wie alle Autoren die Verhältnisse vereinfachen: mit der Perspektive des Verfassungsgesetzes. Gesellschaftsverfassung ist, was für das Verfassungsgesetz erheblich ist. So zieht sich das Verfassungsgesetz am eigenen Schopf aus dem Sumpf seiner Rechtfertigungsbedürftigkeit und läßt das Paradox seiner Positivität zurück.

Die Einheit von Verfassungsgesetz und Gesellschaftsverfassung läßt sich nur für die Vergangenheit, nicht für die Zukunft voraussagen. Der Text des Verfassungsgesetzes ist die Realität politischer Hoffnungen. Daß es den Text des Grundgesetzes seit fünfzig Jahren gibt, ist mehr als ein runder Geburtstag: ein Zeichen der Wirklichkeit für etwas, das zunächst unmöglich schien. Das Grundgesetz verdankt sich einem Druck der Besatzungsmächte, der etwas schwierig mit der "verfassungsgebenden Gewalt des Deutschen Volkes" zu harmonisieren ist, von der die Präambel spricht. Aber es war immer ein verläßlicher Text mit geringen Identifikationsansprüchen. So konnte es seine innere Klugheit entfalten und zu einer Selbstverständlichkeit werden, die Lob als bloße Verstärkung und alle Kritik als zu risikolos und deshalb unglaubwürdig erscheinen ließ.

Weil die Geltung des Grundgesetzes in besonderer Weise auf seinem Text beruht, haben Angela Bauer und Matthias Jestaedt mit ihrem "Grundgesetz im Wortlaut" den würdigsten Beitrag zum fünfzigjährigen Bestehen publiziert. Akribisch haben sie alle Änderungen des Grundgesetzes seit 1949 aufgelistet, die Urfassung der derzeit geltenden Fassung gegenübergestellt und jeden einzelnen Artikel in den Wortlauten aufgeführt, die er im Laufe der Zeit gehabt hat. So ist eine Geschichte des Grundgesetzes entstanden, die ihre merkwürdige Authentizität daraus gewinnt, daß sie nicht historisch, sondern juristisch sein will. Für die Begründung juristischer Entscheidungen müssen die Normtexte so zuverlässig stimmen wie bei einem elektronischen Rechner die Prozesse, auch für die Vergangenheit. "Textstufen" haben Bauer und Jestaedt die Wortlaute der Artikel genannt und sind etwas traurig, weil die Stufen nicht immer hinauf-, sondern gelegentlich hinabgeführt haben. Bei Verfassungsgesetzen stört das in der Tat besonders. Aus triftigem Grund wagt niemand zu sagen, wie abwegige Verfassungstexte wieder auf den rechten Weg zu bringen sind. Als ranghöchste Normen müssen sich Verfassungsgesetze selbst legitimieren und werden zu Ikonen. Die Verfassung ist "als das Göttliche und Beharrende und als über der Sphäre dessen, was gemacht ist, zu betrachten", hat Hegel treffend beobachtet.

Auch das Grundgesetz hat sich diesem Sog nicht entziehen können. 1949 galt seine Abfassung mehr als rechtstechnisches Problem. Damals richteten sich die Hoffnungen auf den Staat, nicht auf den Text. Deshalb wurde das Grundgesetz ganz auf Funktionalität und Stabilität getrimmt, "um dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben", wie es in der Präambel hieß. Inzwischen ist es mit allerlei Staatszielen behängt, mit politischen Tricks belastet und "über die Sphäre dessen, was gemacht ist", entrückt worden. Das Grundgesetz hält das aus. Aber es tut ihm gut, sich seines Anfangs zu erinnern, als es nur darum ging, daß die Politik entscheiden und das Volk sich wehren konnte. GERD ROELLECKE

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