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Dem Eigennamen (Vorname und Familienname) kommt - wie dem Spiegelbild - eine strukturierende Funktion für das kulturelle Leben und die Konstitution der subjektiven Realität zu. Von den Sozial- und Sprachwissenschaften ebenso wie von Geschichte, Philosophie und Psychoanalyse bisher erstaunlicherweise stiefmütterlich behandelt, finden sich in der Belletristik und in psychoanalytischen Fallberichten interessante Zeugnisse, von welch grundlegender Bedeutung der Eigenname und seine Buchstaben für jedes Subjekt sind. Peter Widmer macht dieses Material für die Psychoanalyse Freuds und Lacans fruchtbar.…mehr

Produktbeschreibung
Dem Eigennamen (Vorname und Familienname) kommt - wie dem Spiegelbild - eine strukturierende Funktion für das kulturelle Leben und die Konstitution der subjektiven Realität zu. Von den Sozial- und Sprachwissenschaften ebenso wie von Geschichte, Philosophie und Psychoanalyse bisher erstaunlicherweise stiefmütterlich behandelt, finden sich in der Belletristik und in psychoanalytischen Fallberichten interessante Zeugnisse, von welch grundlegender Bedeutung der Eigenname und seine Buchstaben für jedes Subjekt sind. Peter Widmer macht dieses Material für die Psychoanalyse Freuds und Lacans fruchtbar.
Autorenporträt
Peter Widmer (Dr. phil.) ist Psychoanalytiker in freier Praxis in Zürich. Lehraufträge und Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten (Kyoto, New York, Innsbruck, Zürich). Sein Forschungsschwerpunkt ist die Konstitution der Realität für das Subjekt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.02.2011

Sage mir, wie ich heiße, und ich sage dir, wer ich bin

Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Die Psychoanalyse hält zur Identitätsfrage bessere Antworten bereit als die Idee, das Ich sei eine Illusion: Peter Widmer zeigt, dass uns der eigene Name als Körperbild dient, in dem wir uns spiegeln.

Eigentlich keine schlechte Idee, mal zu überlegen, ob die Psychoanalyse nicht bis heute die tiefere Bedeutung des Eigennamens übersehen hat. Spielt der Name, mit dem ich als Schüler, Zeitungsleser oder Kontoinhaber, als Kraftfahrzeughalter, Arbeitnehmer oder Filmstar von Dritten identifiziert werde, vielleicht auch für mein unbewusstes Selbstbild eine größere Rolle als gemeinhin angenommen?

Der Zürcher Psychoanalytiker Peter Widmer hat sich diesen Fragen nun in einer Monographie über den Eigennamen "und seine Buchstaben" zugewendet. Wie ernst es der ausgewiesene Lacan-Kenner in diesem speziellen Fall mit der Buchstäblichkeit meint, ist nicht leicht zu durchschauen. Wir wollen zumal seiner Intuition folgen, dass Namen keine mehr oder weniger kleidsamen Accessoires der eigenen Lebensgeschichte sind, sondern vielmehr den "Kern des Psychischen" bilden.

Es sind im Wesentlichen drei Argumente, die Widmer anführt, um plausibel zu machen, dass der Name, lange bevor das Kind selbst sprechen lernt, die Verfassung der kindlichen Psyche prägt, und zwar grundsätzlicher als alle anderen Elemente der Sprache. Und obwohl Widmer viel daran gelegen sein wird, den Nachnamen mit ins Boot zu holen, beziehen sie sich zunächst einmal auf die unbewussten Effekte des Vornamens: Die Laute des eigenen Namens, mit dem das Kind tagein, tagaus angesprochen werde, fungierten als frühester Spiegel für das Selbst, durch ihre unverkennbare Modulation, aber auch als Repräsentation der pflegenden Mutter, mithin als ein erstes Standbein in der sprachlich vermittelten Wirklichkeit.

Und es scheint, nebenbei gesagt, kein Zufall, sondern ein Gebot der psychoanalytischen Theorie zu sein, dass hier die Mutter und nicht der Vater (etwa mit der Flasche) die frühesten Bedürfnisse des Babys stillt. Wir werden im Zusammenhang mit dem lacanschen "Namen-des-Vaters" noch darauf zu sprechen kommen. Widmer hält den Vornamen, den Eltern für ihr Kind aussuchen, zweitens für eine narzisstische Bürde, sei er doch ein Spiegel der Phantasien, Erwartungen und Ansprüche, die Eltern in Bezug auf ihr Kind hätten. Eine nennenswerte Grenze für die elterliche Willkür stelle allein das biologische Geschlecht des Kindes dar, womit die dritte identitätsstiftende Funktion des Vornamens benannt wäre: Er differenziert zwischen Mädchen und Jungen, zukünftigen Frauen und zukünftigen Männern.

Alle drei Argumente lassen sich ganz harmonisch mit einem Theorem verbinden, um das Jacques Lacan die Psychoanalyse 1936 bereicherte und aus dem die interessantesten Überlegungen Widmers zur Frage der psychischen Relevanz des Eigennamens hervorgehen: dem "Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion". In einer Art dramatischen "Urszene" der Subjektivität bricht das sechs bis achtzehn Monate alte Kind - so Lacans empirische Festlegung des im Übrigen als universale Struktur vorgesehenen Modells - beim ersten Erkennen des eigenen Spiegelbilds in großen Jubel aus. Was immer das Kleinkind nach lacanianischer Auffassung davor gewesen sein mag, dies gilt ihr als die Geburt des kindlichen Ichs, allerdings, da es sich um eine vorgespiegelte Einheit handelt, als eine Geburt aus dem Geiste der Entfremdung. Lacans Konstrukt ist ebenso suggestiv wie abgründig, weshalb es über die Jahrzehnte - und schon im Rahmen von Lacans eigener Theorieentwicklung - eine erstaunliche Flexibilität bewiesen hat, ganz unterschiedliche Inhalte zu transportieren.

Widmers fruchtbarste Leistung ist es vielleicht, die sterile Entgegensetzung der beiden lacanschen Ordnungen des Symbolischen und des Imaginären durch seinen Vorschlag zu unterlaufen. Halten viele das "Spiegelstadium" gewissermaßen für eine "vorkritische", weil noch in der Bildlichkeit des Imaginären befangene Schrift des Entdeckers der unbewussten Sprachstruktur, so stellt Widmer klar: Unbewusste Phantasien mögen symbolisch, lautlich, buchstäblich strukturiert sein, und dennoch spricht nichts dagegen, dass Namen und andere Wörter, ja ganze Sätze für das Individuum die Funktion eines Spiegels übernehmen können. In Anknüpfung an eine frühere Arbeit macht uns Widmer mit dem Gedanken vertraut, dass uns der eigene Name auch als "Körperbild" dient.

Was ist nun gemeint mit dem schönen Ausdruck des "Körperbildes"? Die Erfahrung des Spiegelstadiums liefert dem unreifen Menschenkind, das gerade erst lernt, seine Körperfunktionen unter Kontrolle zu bringen (Essen, Verdauen, Krabbeln, Sitzen, Stehen, Gehen) und sich inmitten des überwältigenden Angebots von sinnlichen und sprachlichen Eindrücken zurechtzufinden, sozusagen die Matrix einer um den eigenen Körper oder genauer gesagt: um eine Repräsentation des eigenen Körpers zentrierten Wahrnehmung. Dass dieses visuelle Erlebnis, wie auch Lacan betonte, symbolisch und intersubjektiv strukturiert ist, erläutert Widmer mit Rekurs auf den Eigennamen: Um den gewünschten Effekt zu erzielen, nämlich das Spiegelbild als Bild des eigenen Körpers wiederzuerkennen, müsse ein Dritter, sagen wir: die Mutter anwesend sein, die das Kind halte und, auf das Spiegelbild deutend, dessen Namen in der vertrauten Weise ausspreche.

Als Folgen dieser Konstellation hält Widmer fest, dass erstens der Rufname für das Kind eine "mütterliche Aura" annehme, seinerseits also, wie man sagen könnte, nicht nur das Kind, sondern auch die Mutter widerspiegelt oder quasi das Kind in mütterlicher Umarmung; und dass das Kind zweitens (im Hinblick auf das Spiegelstadium) von seinem Namen, der das Spiegelbild beschlage, so Widmer, "infiziert wird, immer schon infiziert worden ist". Das Symbolische in Form des Eigennamens "beschlägt" und "infiziert" also die Ordnung des Imaginären, während sich das imaginäre oder narzisstische Selbstbild vermittels der Mutterliebe seine Bahn in die Welt der symbolischen Ordnung, des Sprechens, Schreibens und Regelfolgens bricht. Damit gewinnt Widmer dem Spiegelstadium modernere Botschaften ab als die pseudorevolutionäre Idee, das Ich sei eine Illusion: Eine Botschaft könnte lauten, dass sich auch der sprachmächtige Erwachsene ein Leben lang in Körperbildern aller Art wiederzufinden sucht und vielleicht sogar gut daran tut.

Doch muss man den Eigennamen deshalb schon in den Rang eines unbewussten Kerns der Identität erheben? Ist er wirklich dieser ausgezeichnete Signifikant, der wie ein Scharnier die Integration von subjektiver, sozialer und objektiver Realität bewerkstelligt? Und welchen Beitrag leistet eigentlich der Nachname zu dieser Herkulesaufgabe? Man muss sagen, dass die Indizien, die Widmer zugunsten des Nachnamens zusammenträgt, wesentlich disparater ausfallen. Sie reichen von Derridas süffisanter Kritik der Signatur als Echtheitsmarker über Lesarten der berühmten Signorelli-Episode Freuds aus der "Psychopathologie des Alltagslebens" bis hin zu Lacans Psychosentheorie der fünfziger Jahre, in der alles steht und fällt mit einem völlig überdeterminierten Kunstwort, dem "Namen-des-Vaters".

Hinter der Psychosentheorie und dem Vergessen des Maler-Namens, mindestens so, wie Lacan diese freudsche Fehlleistung deutet, steht jenes vermeintliche Grundgesetz des Seelenlebens, dem Freud in Anlehnung an die griechische Mythologie den Namen "Ödipuskomplex" gegeben hat. Erst die vom Vater angedrohte Kastration bringe den Sohn dazu, seine inzestuösen Phantasien in kulturell akzeptable Bahnen zu lenken, das heißt nicht mehr die Mutter selbst, sondern eine Frau wie die Mutter außerhalb der Familie zu begehren, und den Vater nicht mehr leibhaftig ersetzen, sondern lediglich seine Männlichkeit kopieren zu wollen.

Lacan nimmt zwar einige interessante Verschiebungen an Freuds Modell vor, besonders im Begriff der Kastration aber bleibt der undurchsichtige Nexus von psychoanalytischer Entwicklungstheorie und allgemeiner Kulturtheorie erhalten, der das Verhältnis von Männern und Frauen bis heute belastet. Wie man es auch dreht und wendet, die Frau in Gestalt der Mutter repräsentiert die gesundheits- und lebensbedrohliche Macht der Natur, der Vater, und sei es auch nur in der französisch sublimierten Form seines Namens oder "Neins" - denn mit der Homophonie des "nom-non" spielt der lacansche Begriff - fungiert als Wächter der Kultur. Die von Widmer empfohlene Identifikation mit dem väterlichen Nachnamen, die Lacans Transzendentalphilosophie auf empirische Beine stellen soll, beschert dem ideologielastigen Überbau zu allem Überfluss noch eine flüchtige (namensrechtliche) Basis. An dieser Stelle wird sich die Identität wohl nicht festnageln lassen.

BETTINA ENGELS.

Peter Widmer: "Der Eigenname und seine Buchstaben". Psychoanalytische und andere Untersuchungen.

transcript Verlag, Bielefeld 2010. 288 S., br., 26,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Gar keine schlechte Idee zu versuchen, dem Eigennamen auf seine psychoanalytischen Schliche zu kommen, findet Bettina Engels. Und nimmt sich die Monografie des Psychoanalytikers Peter Widmer mit großem Erkenntnishunger vor. Mal sehen, was der Eigenname in puncto Selbstbild so hergibt. Die Buchstaben lässt Engels lieber beiseite, zu undurchsichtig bleibt der Autor hier, meint sie. Widmers Argumente für eine namensseitliche Formung der kindlichen Psyche aber schaut sie sich ganz genau an und entdeckt die theoretische Anknüpfung Widmers an Lacans spiegelbildliche Geburt des Ichs aus dem Geiste der Entfremdung. Und hier wiederum liegt für sie das Verdienst des Bandes, im Unterlaufen der Lacan'schen Begriffsopposition symbolisch/imaginär durch die Vermutung, auch der Name könne die prägende Funktion des Spiegels übernehmen. Für Engels eine moderne Interpretation von Lacans Spiegelbildtheorem, in dem das Ich als Illusion erscheint. Etwas schade findet sie nur, dass Widmers Indizien bei der psychoanalytischen Erkundung des Nachnamens "eher disparat" ausfallen.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Peter Widmer hat ein erhellendes, kluges Buch geschrieben, das wie eine Landkarte auf unser Bewusstsein wirken kann. Es vervollständigt das Denken und leitet den Leser durch konkreten Stoff, ohne ihm das Imaginäre, die Lust am Selbst zu nehmen.« Marica Bodrozic, SWR2 Manuskript, 15.06.2011 Besprochen in: www.titel-magazin.de, 10.12.2010, Martin Endres Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.02.2011, Bettina Engels Aargauer Zeitung, 18.03.2011, Silvia Schaub ORF Vorarlberg »Focus«, www.vorarlberg.orf.at, 26.05.2011 ORF/Ö1 Radio, Dimensionen - Die Welt der Wissenschaft, 15.7.2011, Franz Tomandl Namenkundliche Informationen, 99/100 (2011), Volker Kohlheim texte, 2 (2012), Sándor Ivády Jahrbuch für Literatur & Psychoanalyse, 31 (2012), Annette Vieth