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Unter den Essstörungen nimmt die Bulimie eine Sonderstellung ein, da an ihr Erkrankte im Unterschied zur Anorexie und Adipositas vom Leibesumfang her unauffällig bleiben. Insofern handelt es sich um eine »heimliche« Essstörung, die Ausdruck einer Beziehungsphobie ist. Diese lässt sich nachweisen, wenn man den Verlauf des Symptoms, ausgehend vom Planen eines Essanfalls bis hin zum Befinden der Patienten nach dem Erbrechen, untersucht. Entstehung und defensive Funktion des Hungers sind ebenso Gegenstand der Analyse wie die sich im Verlauf des Anfalls ändernde Bedeutung der Nahrung. Die Anamnese…mehr

Produktbeschreibung
Unter den Essstörungen nimmt die Bulimie eine Sonderstellung ein, da an ihr Erkrankte im Unterschied zur Anorexie und Adipositas vom Leibesumfang her unauffällig bleiben. Insofern handelt es sich um eine »heimliche« Essstörung, die Ausdruck einer Beziehungsphobie ist. Diese lässt sich nachweisen, wenn man den Verlauf des Symptoms, ausgehend vom Planen eines Essanfalls bis hin zum Befinden der Patienten nach dem Erbrechen, untersucht. Entstehung und defensive Funktion des Hungers sind ebenso Gegenstand der Analyse wie die sich im Verlauf des Anfalls ändernde Bedeutung der Nahrung. Die Anamnese zeigt, dass es sich bei der Bulimie nicht ausschließlich um eine Erkrankung der Pubertät handelt, dass sie vielmehr bereits in der Kindheit angelegt wird und dort in beträchtlichen Symptomen ihre Vorgeschichte hat, denen sich später das Esssymptom anfügt, sodass es gerechtfertigt ist, vom »bulimischen Syndrom« zu sprechen. Die Funktion der Kranken in der Familie, die pathogene Bedeutung der Mutter- und Vaterimagines und die damit verbundenen Komplikationen in der späteren Objektwahl und der Sexualität stehen bei der Untersuchung der Ätiologie im Vordergrund.
Autorenporträt
Thomas Ettl, Jg. 1942, Dr. phil., Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker, Mitbegründer des Frankfurter Arbeitskreises für Psychoanalytische Pädagogik, mehrere Jahre Mitherausgeber der "Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis", arbeitet in eigener Praxis in Frankfurt a.M.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.01.2002

Erst das Fressen, dann die Qual
Dürre Spekulationen: Thomas Ettl über die Mutter aller Bulimie

Mit Beginn der achtziger Jahre verbreitete sich in den westlichen Industrieländern ein neuartiges Krankheitsbild, hauptsächlich bei Mädchen in der Spätpubertät und Adoleszenz, das von der Psychosomatik als Bulimie nervosa bezeichnet wird. Bald erschienen die ersten Ratgeberbücher, und das Thema drang epidemisch in die Gazetten und Talkshows ein. Die Sensation des großen Fressens und Saufens hat seit Menschengedenken Tradition. Sie rührt an das Urbedürfnis nach Gestilltwerden und Sättigung. In der Bulimie ist es zum unkontrollierbaren und suchtartigen Extrem gesteigert. Bei ihr liegt die Besonderheit aber nicht in der Umpanzerung mit schützenden Massen wie bei der Fettleibigkeit (Adipositas), sondern in dem konsekutiven Erbrechen zur Erhaltung eines zeittypischen Schlankheitsideals. Eine Zeitkrankheit also, die soziologisch im blinden Konsumrausch und in der schnellen Abfallgesellschaft ihre Entsprechung findet. Haben statt Sein.

Der promovierte, in Frankfurt tätige Psychoanalytiker Thomas Ettl verzichtet in seiner Studie auf jeden interdisziplinären Ansatz, der zum Verständnis, vor allem aber zur Therapie dieser quälenden Erkrankung notwendig ist und der dem Buch mehr Kontur gegeben hätte. So gerät seine Beschreibung zu einer kühnen, ausschließlich psychoanalytisch begeisterten Suada, für die der Autor Unmengen an Literatur verschlungen hat, bevor er diese - ausgiebig zitierend und durchmischt mit eigenen Erfahrungen, assoziativen Verknüpfungen und widersprüchlichen Thesen - auf mehr als vierhundert engbedruckten Seiten dem Leser als reichlich unstrukturierte Masse zum Augenschmaus vorsetzt. Der voluminöse Charakter des Produktes ist dem Autor nicht allein anzulasten, sondern verdankt sich einem grundlegenden Schwachpunkt psychoanalytischer Theorie und Praxis. Je mehr die Psychoanalyse ihre Seziermethoden bei der Freilegung immer neuer Seelenschichten bis zu den ersten Eihäuten verfeinert hat, um so artifizieller, beliebiger und unüberprüfbarer wurden ihr Vokabular, ihre Behandlungstechnik und deren Ergebnisse. Diesen Preis teilt sie mit den Fortschritten in der Genetik, in der das Geheimnis Mensch um so rätselhafter zu werden scheint, je mehr man es zu decodieren versucht.

Ettl stützt seine Entzifferung der Bulimie auf dreizehn selbstbehandelte Patientinnen, zehn Supervisionsfälle und auf publizierte Therapieberichte. Im Vorwort definiert er die Krankheit "als eine Störung in der Erlebnisverarbeitung und als Vermeidung der Objektbeziehung", eine Definition, die auf nahezu jede psychische und psychosomatische Störung zutrifft. Die größten Teile des Buches sind der Beschreibung und Deutung des "Eßanfalls" und des "Erbrechens" gewidmet. Die den Eßanfall auslösenden und begleitenden Gefühle wie Wut, Trotz, Selbsthaß, Neid, innere Leere, unerträgliche Spannung, Einsamkeit, Verlassenheitsängste, Schuld und Scham decken ebenfalls das gesamte Gefühlsspektrum bei den meisten psychopathologischen Störungen ab.

Die Nahrung selbst wird vom Autor nach allen Regeln der Symbolbedeutung dekliniert: Sie ist Milch mal aus der "guten", mal aus der "bösen" Brust, sie repräsentiert Teilobjekte der Mutter, die auf diese Weise introjiziert, aber wieder ausgebrochen wird, weil der "Kontakt zum Primärobjekt" frühe Symbiosewünsche und Trennungsängste aktiviert und narzißtische Kränkungswut auslöst. Die Nahrung kann aber auch als "Verschiebeersatz" für den Penis des Vaters dienen. Schließlich treiben der "Kriminalist" Ettl und seine "Untersuchungskommission" die Metaphorik der Bulimie zum "Diebstahl" und schließlich zum "Mord", und zwar zum "Raubmord", hoch. Mit dem Verschlingen der Nahrung vertilgt die Patientin "Leichenteile" oder Eigenschaften des anderen und will mit diesem Besitz eigene Defizite im Selbst und in den Ich-Funktionen ausgleichen. Ähnlich mehrdeutig und symbolträchtig fallen die Interpretationen des Erbrechens aus. Da wundert es nicht, daß Erbrechen dem Defäzieren gleichkommt, der anal-sadistischen Entleerung von destruktiven Fremd- und Selbstanteilen.

Nach dieser für gläubige Jünger und Uneingeweihte sicher recht phantasievollen Einführung in die psychoanalytische Grammatik begleitet der Autor den Leser zurück an die Ursprünge des "Verbrechens". Der Eingeweihte weiß bereits, wo sie zu suchen sind - bei der "Bulimie-Mutter". Nachdem das unselige Konzept der "schizophrenogenen Mutter" seit Jahrzehnten aufgegeben werden mußte, fordert es psychoanalytische Abenteurer offenbar heraus, neue Muttertypen zu erfinden, um sie mit dem Stigma der Schuld zu belegen. Der Fachmann weiß auch, wie solche Mütter aussehen. Bei jeder Krankheit gleichen sie sich in ihrer Verschiedenartigkeit: Mal werden sie als dominant, überkontrollierend und feindselig beschrieben, mal als ambivalent, ängstlich, gefühlsunfähig, mal als Double-bind-Persönlichkeiten und mal als Mütter, die ihre Kinder als "container" ihrer eigenen narzißtischen Bedürftigkeit und Probleme benutzen.

Die von Ettl konstruierte "Bulimie-Mutter" vereinigt alle diese Eigenschaften in sich, mal etwas weniger, mal etwas mehr. Nicht, daß es solche Mütter (und Väter) nicht gäbe; aber es fehlt bisher jeder Beweis für spezifische Zusammenhänge zwischen der Struktur einer Mutter und einer bestimmten Erkrankung. Ettls Buch ist ein Lehrstück psychoanalytischer Akrobatik und als Einführung in diese Kunst empfehlenswert. Wer mehr Bodenhaftung braucht, den wird der Schwindel in der Höhe von der Lektüre eher abhalten.

HORST PETRI.

Thomas Ettl: "Das bulimische Syndrom". Psychodynamik und Genese. edition discord, Tübingen 2001. 448 S., geb., 30,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Kein Buch für interessierte Laien, sondern ein klarer Fall für den Spezialisten, behauptet Horst Petri. Denn Ettl, in Frankfurt ansässiger Psychoanalytiker, verzichte auf jeden interdisziplinären Ansatz, was für Petri mehr zum Verständnis aber auch zu Fragen nach Therapiemöglichkeiten der Bulimie beigetragen hätte. Statt dessen serviere Ettl den Lesern eine voluminöse Studie, die sich auf selbstbehandelte Fälle und anderer Leute Therapieberichte stütze sowie auf eine Unmenge Fachlektüre, die für Petri reichlich unstrukturiert verarbeitet worden ist. Typisch für die Psychoanalyse und darin der Gentechnik ähnlich, spottet der Rezensent: je mehr man versuche das Geheimnis Mensch zu entziffern, desto rätselhafter werde es. Ettls Definition der Erkrankung ist Petri zu allgemein und ihre Rückführung auf die typische "Bulimie-Mutter" findet er mehr als zweifelhaft, da sie nur der Stigmatisierung und Schuldzuweisung diene. Insgesamt, so Petri: ein "Lehrstück psychoanalytischer Akrobatik". Das ist nicht als Kompliment gemeint.

© Perlentaucher Medien GmbH