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»Zweifellos einer der herausragendsten spanischen Autoren der Gegenwart.« Die Zeit
In Lissabon, einer der schönsten Städte der Welt, kreuzen sich zwei Lebenswege: James Earl Ray, der als Attentäter von Martin Luther King Schlagzeilen machte, ist auf der Flucht vor der Polizei. Und der passionierte Spaziergänger Antonio Muñoz Molina, der dreißig Jahre später dort an einem seiner wichtigsten Romane arbeitet, auf der Suche nach sich selbst und seinem Schreiben. Die Stadt am Atlantik wird zum Umschlagplatz von Leben, Geschichte und Literatur.
Durchzogen von der vibrierenden Atmosphäre
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Produktbeschreibung
»Zweifellos einer der herausragendsten spanischen Autoren der Gegenwart.« Die Zeit

In Lissabon, einer der schönsten Städte der Welt, kreuzen sich zwei Lebenswege: James Earl Ray, der als Attentäter von Martin Luther King Schlagzeilen machte, ist auf der Flucht vor der Polizei. Und der passionierte Spaziergänger Antonio Muñoz Molina, der dreißig Jahre später dort an einem seiner wichtigsten Romane arbeitet, auf der Suche nach sich selbst und seinem Schreiben. Die Stadt am Atlantik wird zum Umschlagplatz von Leben, Geschichte und Literatur.

Durchzogen von der vibrierenden Atmosphäre Lissabons und klugen Reflexionen über das Schreiben, klingt »Schwindende Schatten« wie ein guter Jazzsong, wie eine Mischung aus absoluter Kontrolle und Improvisation, aus Leichtigkeit und Tiefe.
Autorenporträt
Antonio Muñoz Molina, Jahrgang 1956, Kunsthistoriker, zählt zu den wichtigsten Gegenwartsautoren Spaniens und hat mehr als ein Dutzend Romane veröffentlicht, darunter »Der polnische Reiter« (1991), »Die Augen eines Mörders« (1997) und »Die Nacht der Erinnerungen« (2011). Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, so gleich zwei Mal mit dem spanischen Staatspreis für Literatur. »Schwindende Schatten«, sein jüngster auf Deutsch vorliegender Roman, wurde u.a. 2018 für den Man Booker International Prize nominiert. Muñoz Molina lebt in Madrid.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.03.2019

Der Attentäter und ich
Antonio Muñoz Molina bringt in seinem Roman „Schwindende Schatten“ die Geschichte seines
Alter Ego mit der des Mörders von Martin Luther King in Verbindung
VON FRAUKE MEYER-GOSAU
Lesen – und dabei sacht verschwinden. Abtauchen für Stunden oder Tage in den Lebensgeschichten anderer, anderen Zeiten, Orten, und dies bei hellwachem Verstand. Wann hat man zuletzt so gelesen? Als Kind auf jeden Fall. Bei Erwachsenen kommen Leseglückserlebnisse dieser Art seltener vor. Schlägt man Antonio Muñoz Molinas jüngsten Roman „Schwindende Schatten“ auf, stellt es sich aber mit den ersten Sätzen wieder ein. Sie erzählen, was geschieht, wenn ein Mensch zu intensiv liest: „Die Angst hat mich im Innern des Bewusstseins eines anderen aufgeweckt; die Angst und die Vergiftungen der Lektüre und der Suche. Es ist, als hätte ich die Augen in einem Zimmer aufgeschlagen, welches nicht dasselbe ist wie das, in dem ich eingeschlafen bin. Noch beim Aufwachen hielt die Panik des Traums an. Ich hatte eine Straftat begangen oder wurde zumindest verfolgt und war verurteilt worden, obwohl ich unschuldig war.“
Um Verbrechen wird es im Folgenden gehen, um Schuld, und die Identifikation eines Menschen mit einem anderen, von dem er nur gelesen hat. Das erzählende „Ich“ ist ein spanischer Schriftsteller, der über sich selbst in zwei entscheidenden Phasen seines Erwachsenseins nachdenkt. Aus den Daten ist zu erschließen, dass es sich um Antonio Muñoz Molinas literarisches Alter Ego handelt. Über lange Passagen verklammert er seine Autorenexistenz mit der eines anderen Mannes: James Earl Ray, in desolateste Verhältnisse hineingeboren am 10. März 1928 in einem kleinen Kaff in Illinois, erschoss vierzig Jahre später in Memphis, Tennessee, den schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King. Nach Wochen auf der Flucht wurde Ray auf dem Flughafen Heathrow gefasst, gestand die Tat, widerrief sein Geständnis kurz darauf, versuchte zu fliehen und starb schließlich 30 Jahre später im Gefängnis in Nashville, Tennessee, an Nierenversagen.
Diesem Kriminellen in seinen tragischen und, dies vor allem, bizarren Zügen forscht Molinas Schriftstellerfigur nach. Er tut es – außer in Archiven und Büchern – überwiegend in Lissabon, der Stadt, in der Ray sich nach dem Attentat zehn Tage lang versteckt hielt, mit der vagen Absicht, sich nach Rhodesien, Biafra oder dem Kongo einzuschiffen, um für die vermeintlichen Besitzrechte weißer Männer auf dem afrikanischen Kontinent zu kämpfen.
Lissabon ist aber auch für den Erzähler ein zentraler Ort: Hierher reiste er zuerst 1987, mit Anfang dreißig, um sich für seinen zweiten Roman inspirieren zu lassen, der dann seinen Durchbruch bedeutete. 2013 kehrt er als preisgekrönter Schriftsteller zurück, um über James Earl Reys Lissabon-Aufenthalt im Jahr 1968 zu recherchieren. Er wird ihm bis nach Memphis folgen, an den Tatort, und kurz die Geschichte des Mordopfers erzählen und von dessen Geliebter: „Sie ging auf den Parkplatz hinaus, auf dem kein einziges Auto mehr stand und der nur vom blinkenden Neonlicht der Motelreklame erhellt war, rot und gelb, rot und blau. Oben an der Eisentreppe, auf dem Balkon vor Zimmer 306, arbeiteten still ein paar Männer, rieben mit Schwämmen und Lappen die Wand und die Tür ab, gossen einen Eimer Wasser darüber, kratzten den Zement ab, um die Blutspuren zu verwischen.“ So endet der Roman.
Und so ist Molinas Ton, immer ruhig, nie forciert, mal poetisch, mal mit einem Hauch Ironie versehen und stets gewiss, die diametral unterschiedlichen Biografien von Autor und Verbrecher mit der Anmut eines Jongleurs balancieren zu können. Sein Blick erfasst den Schriftsteller mit seiner zweiten Frau, Sohn und Schwiegertochter in Lissabon, und in seiner Vorgeschichte als ambitiösen jungen Mann, der in Granada eine öde Beamtentätigkeit ausübt, ein auf sich selbst bezogener Familienvater ist und sich als enthusiastischer Jazz- und Kino-Fan mit ausgiebigem Nachtleben entpuppt. Dazwischen eingelassen sind Episoden aus dem Leben des späteren Attentäters, die zumeist in den Südstaaten der USA spielen, am Ende des Zweiten Weltkriegs, aber auch während zweier Jahre, die er als US-Soldat in Bremerhaven verbringt, später dann in Mexiko und Kanada. Auf der Flucht besteigt Ray 1968 zum ersten Mal in seinem Leben, bebend vor Angst, ein Flugzeug und fliegt erst nach London, dann nach Lissabon.
Für Bewegung in und zwischen diesen drei zentralen Erzählkomplexen ist gesorgt, Abwechslung ist das formgebende Prinzip des Romans: zwischen autobiografischer Erinnerung und der Rekonstruktion einer Verbrecherbiografie, zwischen Reflexion, Recherche und Reportage, zwischen Belegbarem und Vorgestelltem.
Da schwirrt dem glücklichen Leser schon mal der Kopf von all den Personen, Orten, Farben, Bildern und Stimmen, mit denen er es zu tun bekommt. Obwohl Molina seiner autobiografischen Erzählung die größere Aufmerksamkeit widmet, bleibt das Schritt für Schritt klarer hervortretende Porträt des James Earl Ray der interessantere Part: Das eigentümlich berührende Zickzack zwischen einem womöglich doch noch gelingenden und dann wie zwangsläufig ins Kriminelle driftenden Leben, voller Phantasmen eines umtriebigen jungen Mannes ohne familiären Rückhalt, Ausbildung und Geld, voller seltsamer, intensiv verfolgter Interessen und bedenkenlos verübter krimineller Taten.
Ray, ältestes von neun Kindern eines kleinkriminellen, gewalttätigen Säuferpaars, erscheint als ein von Lektüren beherrschtes Wesen. Zeitungen studiert er von der ersten bis zur letzten Seite. Nach dem Attentat dann vor allem, um herauszufinden, ob er sein Ziel, auf Platz eins der zehn meistgesuchten Verbrecher zu stehen, erreicht hat. Besonders die Kleinanzeigen haben es ihm angetan, er nutzt sie zur Bestellung von Spionageromanen, Pornos, einer Filmkamera, einer Reiseschreibmaschine, einer Polaroidkamera und eines Projektors, aber auch von Lehrbüchern über Hypnose und „Psychokinese“ – Ray möchte Macht über andere gewinnen.
Nach einem Raubüberfall leistet er sich einen maßgeschneiderten Anzug und Krokodillederschuhe, kauft einen weißen Ford Mustang (und macht den Führerschein danach), plant eine Karriere als Pornoproduzent, lernt Barkeeper, bucht einen Fernkurs in Schlosserei und absolviert, hoffnungslos unbegabt, einen Tanzkurs. Er firmiert unter zahlreichen Pseudonymen und sieht sich in der Rolle eines James Bond. In Hollywood lässt er sich Nase und Kinn verschönern. Menschen, denen er begegnet – gut gekleidet, ein bisschen zerstreut und schüchtern –, halten ihn für einen Professor, Versicherungsvertreter oder Leichenbestatter. Dass er ein guter Schütze ist, weiß er seit seiner Armeezeit.
Keineswegs wirkt dieser James Earl Ray bei Molina wie ein besessener Rassist, mit seiner ausgeprägten Abneigung gegen Schwarze erscheint er eher wie der durchschnittliche weiße Südstaatler der Fünfziger- und Sechzigerjahre.
Auch von präzisen Planungen des Attentats ist keine Rede: Ray kauft sich ein Gewehr (und tauscht es um, weil es ihm zu wenig Durchschlagskraft zu haben scheint), ein Zielfernrohr und ein Fernglas. Er mietet sich in Memphis ein Zimmer in einem billigen Motel. Er weiß aus der Zeitung, dass Martin Luther King nicht weit davon im „Lorraine Motel“ wohnt, betritt gegen Abend ein heruntergekommenes Gästehaus, aus dessen Badfenster er einen freien Blick auf das gegenüberliegende Apartment mit der Nummer 306 hat. Als der Bürgerrechtler auf die Galerie davor tritt, legt Ray an, zielt, trifft. Und macht sich davon, hinterlässt seinen Koffer mit dem Gewehr. In seinem Ford Mustang verlässt er unbehelligt die Stadt.
Auf jeden Fall hätte diese Geschichte auch für sich allein einen Roman ausmachen können. Doch folgt man Antonio Muñoz Molina, eben weil er ein so fabelhafter Autor ist, bereitwillig auch in seine Autobiografie mit ihren Reminiszenzen, Lektürevorlieben und Begegnungen mit berühmten Autoren; nur kurzzeitig blitzt im Leser die Frage auf, ob er sich für den Schriftsteller so brennend interessiert wie dieser für sich selbst. Und dann, nach zwei Dritteln des Buches, geschieht das bis dahin Unausdenkbare: Ausführlich beginnt der Erzähler über die Schwierigkeiten von Romanschlüssen zu räsonieren, zieht sich in seine Privatgeschichten zurück – und aller Zauber verfliegt. Erst wenn das Ich mitsamt Gattin in Memphis eintrifft, um den Ort des Attentats zu besichtigen und die Geschichte Martin Luther Kings nachzutragen, nimmt der Roman, noch leicht schlingernd, wieder Fahrt auf und findet zu einem nicht-egozentrischen Ende.
Kann man jemandem raten, einen Roman nur bis etwa Seite 330 zu lesen und dann 80 Seiten zu überspringen, um am Schluss doch wieder einigermaßen einverstanden zu sein? Im Falle von „Schwindende Schatten“ wäre es das Vernünftigste. Denn abgesehen vom Ausbruch des Knausgård-Syndroms zwischendurch, ist dies ein wirklich hinreißendes Buch.
Antonio Muñoz Molina: Schwindende Schatten. Roman. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Penguin, München 2019. 512 Seiten, 26 Euro.
„An der Eisentreppe, auf dem
Balkon vor Zimmer 306,
arbeiteten still ein paar Männer.“
Kann man jemandem
raten, einen Roman nur bis
Seite 330 zu lesen?
Spielplatz der Zeitgeschichte, den der Autor Antonio Muñoz Molina in seine Fiktion einarbeitet: Nachdem Martin Luther King auf einem Balkon des Lorraine Motel in Memphis, Tennessee, erschossen worden ist, besichtigen Mitarbeiter der Southern Christian Leadership Conference am 1. Mai 1968 den Tatort.
Foto: AP / Jack Thornell
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2019

Der Hochstapler schoss vom Badewannenrand
Mit seinem Roman "Schwindende Schatten" spürt Antonio Muñoz Molina den Mörder von Martin Luther King auf

Es war einer der spektakulärsten, bis heute von Verschwörungstheorien umsponnenen Mordfälle der sechziger Jahre. Er führte zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen, mit Tausenden Verletzten und 39 Toten; über 20 000 Menschen wurden verhaftet. Am 4. April 1968 wurde der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King auf dem Balkon des Lorraine Motel in Memphis erschossen. Der Attentäter James Earl Ray ist die obsessiv umkreiste Hauptfigur im neuen Roman von Antonio Muñoz Molina. Mit dem Buch war der dreiundsechzigjährige spanische Schriftsteller im vergangenen Jahr für den Man Booker International Prize nominiert.

Wie in Zeitlupe beschreibt Molina die Minuten vor und nach dem Schuss aus dem Badezimmerfenster einer gegenüber dem Motel liegenden Absteige. Er schildert die anfangs unbehelligte, wenn auch panische Flucht des Mörders und später die weltweite Fahndung. Und er rekonstruiert das Leben Rays, der als neuntes Kind eines kleinkriminellen Säuferpaars ein geborener Verlierer war. Früh beging er Betrügereien und bewaffnete Raubüberfälle, bis er 1960 wegen notorischer Rückfälligkeit zu zwanzig Jahren Haft im Bundesgefängnis von Missouri verurteilt wurde. 1967 gelang ihm die Flucht. Fortan wechselte er die falschen Namen so oft wie seine Aufenthaltsorte, nannte sich Eric Starvo Galt, Harvey Lowmeyer oder Ramon Sneyd, lebte mal in Kanada, mal am Golf von Mexiko, übte Gelegenheitsjobs aus, besuchte eine Barkeeper-Schule, nahm Tanzstunden, verbrachte Zeit mit Prostituierten und Geliebten und plante eine Karriere als Pornoregisseur. Keineswegs uneitel, unterzog er sich einer Schönheitsoperation, trug einen Maßanzug und Krokodillederschuhe. Neben Kriminalromanen las er bevorzugt Bücher über Parapsychologie und Hypnosetechniken. Er gab sich als Schiffsbauingenieur oder Schriftsteller aus; von manchen wurde der Eigenbrötler für einen Professor gehalten. Andere fanden ihn so unscheinbar, dass er "förmlich mit der Tapete verschmolzen" sei.

Molina sammelt viele Aussagen von Menschen, die Ray vor und nach der Tat begegneten, als Teile eines riesigen Puzzles, aus dem sich aber kein einheitliches Bild ergibt. Es sind Zeugnisse eines chamäleonhaften Wesens, eines Phantoms, das überall auf der Welt von übereifrigen Zeugen gesehen worden sein will. Ray selbst stellte sich gern vor, er sei eine Figur aus einem James-Bond-Roman oder aus einem Lied von Johnny Cash. Sein unbefriedigter Ehrgeiz richtete sich schließlich darauf, einer der meistgesuchten Verbrecher der Welt zu sein. Der Rassen-Konflikt wurde zur Bühne seines Geltungsdrangs. Gierig durchforschte er die Zeitungen nach Meldungen über sich selbst.

Dass diese schimärische Existenz auf einen Schriftsteller große Faszination ausübt, liegt auf der Hand. Ray verkörpert das, was Autoren als Kunst betreiben: Er erfindet und erprobt ständig neue Identitäten, lebt im Modus des Fiktiven. Kaum erstaunlich also, dass sich Molinas akribische Verfolgung der Lebensspuren des Attentäters so liest, als wäre er von dessen Verwandlungen und Verstellungspraktiken kollegial in den Bann gezogen. Es ergibt sich so eine irritierende Nähe, die literarisch einen positiven Effekt hat. Sie verhindert, dass die Darstellung zum politisierenden Lehrstück aus allzu sicherer Distanz wird, mit Ray als Musterbeispiel des White Trash: ein abgehängter, perspektivloser Mann, der seine Frustration transformiert in tödlichen Rassenhass. Ray entspricht dem Gespenst, das derzeit in fortschrittlichen Kreisen umgeht: der provinzielle Kerl, an dem jede zivilgesellschaftliche Ambition und jede universalistische Pädagogik verloren ist.

All dies sind Aspekte, durch die der detailversessen erzählte Roman eine beklemmende Aktualität gewinnt. Ungewöhnlich ist seine Konstruktion. Molina beschreibt, wie er vor einigen Jahren nach Lissabon reiste, um die zehn Tage zu rekonstruieren, die Ray dort verbrachte, bevor er in London verhaftet wurde. Seine Wanderungen durch die Stadt förderten aber auch Erinnerungen an seinen eigenen ersten Aufenthalt dort herauf, als er Mitte der achtziger Jahre seinen zweiten Roman "Der Winter in Lissabon" schrieb und die Stadt, die er bis dahin noch nicht kannte, auf der Suche nach Schauplätzen und atmosphärischen Details durchstreifte.

Die autobiographische Selbstvergewisserung läuft als zweiter Handlungsstrang nebenher und dient Molina dazu, gründlich über die Literatur und das Schreiben zu reflektieren. Die beiden Handlungsstränge haben, abgesehen vom Schauplatz Lissabon, zwar auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun; dennoch ergeben sich motivische Querverbindungen, etwa wenn Molina schildert, wie er selbst damals zwischen den "Identitäten" wechselte: der Beamte, der die Büroarbeit als Last empfand; der junge Vater, der seine Frau oft mit den Familienaufgaben allein ließ; der trinkfreudige Nachtschwärmer auf seinen Streifzügen durch Literaten-Bars und Jazzclubs; der Schriftsteller, der an den ersten Werken laborierte.

Molina erzählt nicht chronologisch, sondern kreisend; zentrale Szenen kehren in Variationen und neuen Kontexten wieder. Das erzeugt eine Wirkung des Monomanischen. Immer wieder befinden wir uns in jenem schaurig-schäbigen Badezimmer, aus dem Ray, in einer Badewanne stehend, auf Martin Luther King schoss. Immer wieder durchleben wir die ritualisierten Alltage des Mannes, der von Tausenden FBI-Beamten und ebenso vielen Zwangsideen verfolgt wird. In jeder Stadt führt ihn sein Instinkt in die Hafenviertel, zu den Kaschemmen und Bordellen. Sehr atmosphärisch vermittelt Molina die anrüchigen Gegenden mit ihren "Versprechen von Spaß und Zerstreuung". Fabelhaft sind seine Beschreibungen Lissabons.

Es ist staunenswert, wie er es schafft, mit seinem entspannten, in eleganten Satzperioden ausschwingenden Parlando-Stil diese Intensität der Wahrnehmung und des Gefühls zu erzeugen. Molina liebt den Jazz; die Musik gibt ihm sein künstlerisches Ideal vor mit "ihrer Mischung aus Disziplin und Hingabe, aus virtuosem technischem Können und Improvisation, Leichtigkeit und Tiefe, Tempo und Verzögerung. So sollte das klingen, was ich schrieb, manchmal gradlinig und andere Male auf Umwegen, auf denen ich mich zu verlaufen drohte." Genau so liest sich dieser Roman. An der Hingabe und dem Können besteht kein Zweifel, aber auch nicht an der Gefahr, sich zu verlaufen. Zwischenzeitlich wird weniger ergiebig herumgedudelt, und manche Motive werden zu oft wiederholt.

Nach dem etwas verplapperten Mittelteil packt Molina die Leser aber wieder mit seiner Erzählkunst. Endlich kommt die überfällige Gegenperspektive ins Spiel. In einem Bewusstseinsstrom erleben wir die letzten Minuten des nicht nur mit den gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch mit der Resignation kämpfenden Martin Luther King, bevor die Kugel sein Kinn und Rückgrat durchschlägt. Auch wenn immer wieder Kriminalfälle die Handlung von Molinas Romanen bestimmen - Spannung entsteht in ihnen nicht aus Gewaltausbrüchen und ungeklärten Täterfragen, sondern aus der außerordentlichen Fähigkeit dieses Schriftstellers, seinen Figuren unter die Haut zu kriechen. Die fünfzig Seiten über den Bürgerrechtler sind ein Musterbeispiel dafür. Man könnte einwenden, dass ein solches Lebensresümee in den letzten Lebensaugenblicken sehr belletristisch anmute; Kritiker auf der Höhe des Rassismusdiskurses könnten diese Introspektion zudem als anmaßend oder als inneres "Blackfacing" empfinden.

Aber solche Einwände zerfallen angesichts der Meisterschaft, mit der uns der Schriftsteller in die geplagte Seele eines Menschen führt, der in seiner Erschöpfung bereits Todesgedanken hegt. Gute Literatur kann das; Antonio Muñoz Molina kann das.

WOLFGANG SCHNEIDER

Antonio Muñoz Molina: "Schwindende Schatten". Roman.

Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Penguin, München 2019. 512 S., geb., 26,- [Euro].

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»Ein Genuss!« SPIEGEL ONLNE, Peter Henning