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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Strenge
Was die Nazis von den
Sexualreformern übernahmen
Ist der Nationalsozialismus mit seinen zerstörerischen Kräften auf dem Boden von Triebunterdrückung und Sexualfeindlichkeit gewachsen? Diese Meinung hatte mal große Konjunktur, Teile der Studentenbewegung hingen ihr an und gaben dem Kampf gegen den „Muff“ der ersten Nachkriegsjahre eine besondere Weihe. Was allerdings dagegen spricht: England, Frankreich wären dieser Lehre zufolge weit eher Kandidaten für autoritäre Herrschaftsformen gewesen. Das Deutschland der Zwischenkriegszeit war sexuell liberaler als alle seine Nachbarn und, was noch interessanter ist, das änderte sich nach 1933 nicht grundlegend. Die Historikerin Dagmar Herzog hat dieser Frage bereits ein Buch gewidmet ( Die Politisierung der Lust, Siedler Verlag, München 2005 ) und nun dazu die erste der Hirschfeld-Lectures in Berlin gehalten; gerade ist ihr Vortrag im Druck erschienen.
Die Weimarer Republik war von ihren Gegnern stark sexualmoralisch unter Beschuss genommen worden. Mit dem Ende der monarchischen Ordnung sei auch die Ordnung der Geschlechter verkommen, die sexuelle Dämonisierung der Juden gehörte zum Arsenal des Antisemitismus. Und zunächst schien der Nationalsozialismus in die Empörung über die Sittenlosigkeit einzustimmen, es war der Versuch, konservativ-christliche Kreise zu gewinnen. Doch die mussten bald feststellen, dass ihre erste Freude über Hitler als „wunderbares Geschenk Gottes“ auf Täuschung beruhte, es mehrten sich die Klagen über die „schweinische Atmosphäre“ der Zeit, „überall Ansporn zu außerehelichem Verkehr“.
Die sexualmoralischen Auffassungen innerhalb der NSDAP differierten, aber es gab doch eine breite Zustimmung zu vorehelicher Sexualität, eheliche Untreue wurde entspannt betrachtet. Dabei ging es nicht nur um erhöhte Reproduktionsraten, „sondern auch um erhöhte Lust“, zu verstehen als Geschenk der Machthaber an die Herrenrasse. Die wusste das zu schätzen. Dass sexuelle Zufriedenheit ein höchst schätzbares Gut sei, war ein Gedanke, der weite Kreise ergriffen hatte, nicht bloß eine Elite moderner Zeitgenossen.
Für Homosexuelle sah die Lage indes ganz anders aus. Zwischen 1933 und 1945 wurden etwa 100 000 von ihnen strafrechtlich verfolgt, zwischen 5000 und 15 000 wurden in KZs geschickt, wo vermutlich die Hälfte starb. Das ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass die nationalsozialistische Homophobie sich einer neuen Theorie bediente, nicht etwa, wie man meinen möchte, einer erbbiologischen. Vielmehr unterstellte man, dass die Heterosexualität nicht das selbstverständlich Normale und Gesunde sei, sondern etwas Fragiles.
Im Schwarzen Korps , dem Organ der Reichsführung SS , hieß es, „dass jeder Mensch in seiner Entwicklung eine Periode unbewusst durchlebt, in der er für das Gift (der gleichgeschlechtlichen Liebe) in einem gewissen Grade empfänglich ist“. Sexuelle Identität wurde als etwas Flüssiges, Schwankendes angesehen. Insoweit folgte man der Sexualforschung der Zwanzigerjahre (der „Zwischenstufentheorie“ etwa) – nicht natürlich den Konsequenzen, die diese zog.
In der frühen Bundesrepublik wiederholte sich das Spiel von Ablehnung und Übernahme. Die sexuelle Freizügigkeit der NS-Zeit wurde als wesentlicher Teil des moralischen Zusammenbruchs gedeutet, von der man sich abzusetzen hatte. Damit wurde von anderem abgelenkt, von der Kooperation der Kirchen mit dem Regime, wie von der fortgesetzten Homophobie. Das Ende des Ersten Weltkriegs hatte eine sexuelle Revolution gebracht, warum folgte 1945 die Rückkehr moralischer Strenge? Dagmar Herzog sieht hier den langen Rollback, der jetzt zu seinem allerdings befristeten Erfolg kam.
STEPHAN SPEICHER
Dagmar Herzog: Paradoxien der sexuellen Liberalisierung. Wallstein Verlag, Göttingen 2013. 48 Seiten, 9,90 Euro .
Nach 1945 erfolgte für einige
Jahre die Rückkehr
moralischer Strenge
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