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In den öffentlichen Debatten der letzten Jahre wurde der Rechtsextremismus zu einer übermächtigen und allgegenwärtigen Bedrohung stilisiert. Dadurch veränderten sich auch die Vorstellungen, was als rechtsextrem zu gelten habe.
Gewaltexzesse junger Männer werden ebenso wie das gesetzlich geregelte Inländerprivileg am Arbeitsmarkt großzügig als rechtsextrem apostrophiert. Sozialwissenschaftlich vom Rechtsextremismus zu sprechen heißt deshalb, dessen Praxis ebenso zu untersuchen wie Diskurse über den Rechtsextremismus vom öffentlichen Alarmismus zu unterscheiden.

Produktbeschreibung
In den öffentlichen Debatten der letzten Jahre wurde der Rechtsextremismus zu einer übermächtigen und allgegenwärtigen Bedrohung stilisiert. Dadurch veränderten sich auch die Vorstellungen, was als rechtsextrem zu gelten habe.

Gewaltexzesse junger Männer werden ebenso wie das gesetzlich geregelte Inländerprivileg am Arbeitsmarkt großzügig als rechtsextrem apostrophiert. Sozialwissenschaftlich vom Rechtsextremismus zu sprechen heißt deshalb, dessen Praxis ebenso zu untersuchen wie Diskurse über den Rechtsextremismus vom öffentlichen Alarmismus zu unterscheiden.
Autorenporträt
Klärner, Andreas
Andreas Klärner, Dr. Dr. habil., Wissenschaftler im Bereich Lebensverhältnisse des Instituts für Ländliche Räume am Thünen-Institut.

Kohlstruck, Michael
Michael Kohlstruck, Dr. phil., Politikwissenschaftler, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.2006

Braune Metamorphosen
Gestaltwandel und Vielgestaltigkeit des Rechtsextremismus

Auch wenn der Rechtsextremismus die Bundesrepublik nie ernsthaft gefährdet hat und zuletzt bei Wahlen erfolglos blieb: Immer wieder beunruhigt, ja erschüttert er die veröffentlichte und öffentliche Meinung in Deutschland. Inzwischen gehört er in Teilen des Landes sogar zum Alltag. Insbesondere im Osten gibt es nach beinahe 60 Jahren Diktatur heute Orte, wo sich NPD & Co fast wie Fische im Wasser bewegen und auf einer Welle der offenen, halboffenen oder verdeckten Zustimmung surfen - wenigstens bei starken Minderheiten. In Gesamtdeutschland umfaßt Rechtsextremismus mittlerweile ein weites Feld an Einstellungen und Verhalten: Öffentliche Diskussionen subsumieren unter Rechtsextremismus politische Parteien wie die NPD, einschlägige Wählerpotentiale und spezielle Intellektuelle, aber auch "Kameradschaften", bestimmte Musikgruppen sowie Gewalttäter - mit oder ohne hochpolitisches Anliegen, mit oder ohne festere Organisation.

Andreas Klärner und Michael Kohlstruck verfolgen das Ziel, den Gestaltwandel und die Vielgestaltigkeit des "modernen" Rechtsextremismus stärker herauszuarbeiten. Damit wollen sie helfen, die heutige Heterogenität des Rechtsextremismus zu verdeutlichen und Nivellierungen in Diskussionen über Rechtsextremismen zu verringern. Ihr Band versammelt elf Aufsätze, die viele Varianten des aktuellen Rechtsextremismus in Deutschland beleuchten - darunter ein Text über die Karriere des Begriffs "national befreite Zone" (Uta Döring). Andere Beiträge erforschen Lebensläufe von gewöhnlichen Rechtsextremisten: männliche, aber auch weibliche Wege in den braunen Sumpf. Rainer Erb analysiert die Aktivitäten Christian Worchs, der seit langer Zeit als Anführer, Antreiber und Animateur der rechtsextremen Szene agiert, zum Beispiel bei Demos. Hinzu kommt ein zwölfter Aufsatz über die "Männerpolitik" der FPÖ. Methodisch gründet das Buch stark auf Einzel- und Gruppeninterviews. Die meisten Autoren, darunter viele Soziologen, gehören zur jüngeren Generation: Erstaunlich, wie sie die NPD weitgehend ausblenden - die seit Jahren wichtigste Partei des "modernen Rechtsextremismus" in Deutschland.

Sonja Kock erforscht die Milieus, in denen rechtsextreme Parteien im (Süd-)Westen Deutschlands einst Wahlerfolge feierten. Im Vergleich zeigt sie: Die sogenannten REPs punkteten in den neunziger Jahren sowohl in einer weniger als auch in einer stärker prosperierenden Region Baden-Württembergs. Ergänzend untersucht sie deshalb die politische Kultur in beiden Regionen. Ihr Fazit bestätigt bekannte Befunde: "Während ein stark katholisches Milieu eine relativ hohe Barriere gegen rechtsextreme Wahlerfolge . . . darstellt, können Arbeitermilieu und konservativ-kleinbürgerliches Milieu diese durchaus fördern. Existiert ein starkes Arbeitermilieu ohne die Tradition eines Industrieproletariats mit seinen engen Bindungen an die SPD, so ist die Tendenz der Arbeiter besonders hoch, rechtsextrem zu wählen." Weil Frau Kocks Analyse über die REPs allerdings kaum auf Repräsentativumfragen basiert, gibt sie keine genaueren Antworten auf die zentrale Frage, wo wer warum was wählt.

Michael Kohlstruck und Anna Verena Münch rekonstruieren die absolut grausame und feige Tötung des sechzehnjährigen Marinus Schöberl in der Uckermark im Juli 2002. Umsichtig beantworten sie gerade auch die Frage, inwieweit die Täter ihre rechtsextreme Gesinnung zu ihrer Tat führte. Klar scheint: Die drei Täter (zwei davon zur Tatzeit 17, einer 23 Jahre alt) pflegten eher lose Beziehungen zur rechtsextremen Szene; der älteste Täter, vor Ort ein bekannter Schläger, war wegen seiner eklatanten Minderbegabung sogar unter Rechtsextremisten weitgehend isoliert. Vor ihrer Tat hatten die stark alkoholisierten Täter, getrieben von Gruppendynamik und ihrer Pseudo-Maskulinität, ihr Opfer schwer mißhandelt, gedemütigt und beschimpft: Sie nannten Schöberl feminin, aber auch "Jude" und "undeutsch" - in klassisch rechtsextremer Manier. Doch keiner der Täter trug offenbar ein geschlossen-rechtsextremes Weltbild in sich. Vielmehr begünstigten und förderten die Orientierungslosigkeit der Täter, ihre Langeweile, ihr Frust, ihr starker Mangel an Empathie und ihre große Gewaltbereitschaft ihre eskalierenden Aggressionen bis zu Tötung ihres Opfers Marinus Schöberl: Moralische Mindeststandards fehlten ihnen. Mit ihrer Tat praktizierten sie eine besonders grausame Tötungsart, die sie kurz zuvor im Privatfernsehen beobachtet hatten. Sie zählen zu den besonders brutalen, aber eher unpolitischen, ideologiefernen Tätern im "modernen", deutschen Rechtsextremismus nach "Hitlerei" und SED-Diktatur.

HARALD BERGSDORF

Andreas Klärner / Michael Kohlstruck (Herausgeber): Moderner Rechtsextremismus in Deutschland. Hamburger Edition, Hamburg 2006. 344 S., 35,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.05.2006

Svenjas Großvater
Der „moderne” Rechtsextremismus geriert sich nur gelegentlich anders
Was ist denn so modern am „modernen” Rechtsextremismus? Seit etwa dem Jahr 2000 beobachte man mehr Demos und ähnliche zivile Protestformen anstelle der (nach wie vor üblichen) pathologischen Gewalttätigkeiten gegen als andersartig wahrgenommene Zeitgenossen. Bedeutet dies eine zunehmende Akzeptanz demokratischer und friedlicher Umgangsformen? Oder ist dies nur Taktik, die auf Massenwirksamkeit zielt und eine Abkehr von Terror nur suggeriert? Nach außen friedfertig und diszipliniert, doch im Inneren bleibt der Anspruch auf Umsturz - Stichwort: nationale Revolution. Nicht zu vergessen: Die Rechtsradikalen gerieren sich zwar systemoppositionell, befürworten indes bourgeoise Normen wie Leistungsbereitschaft, Autoritätshörigkeit oder Angepasstheit, worauf Christoph Butterwegge bereits 1996 verwiesen hat.
Erleuchtet es aber den Rezipienten, wenn er erfährt, was für ein perfider Schnösel der „Bewegungsunternehmer” Worch ist? Führt die detaillierte Schilderung der von den Hooligans abgekupferten Bordsteinkicks perverser Totschläger weiter? Bedeutet es einen Erkenntniszuwachs, wenn wir lesen, dass Rolf von Ausländern schwadroniert, die „regelmäßig die Fresse voll kriegen sollten, damit sie hier erst gar nicht das Schöne vom Himmel predigen können”? Interpretiert wird derartiger Schwachsinn dahingehend, dass sich mit einer solchen Äußerung zeige: die ideologische Haltung Rolfs habe ihre Bedeutung „weniger hinsichtlich der Gestaltung eines politischen Handlungsraums” - welcher sollte dies auch sein? - „als für die Gestaltung des eigenes Lebens”.
Rechtsextreme Haltungen (und Handlungen) seien als „Ausdruck der Verknüpfung von biografischen Dispositionen mit Gelegenheitsstrukturen” zu verstehen, so eine Kapitelüberschrift: Was ist mit dieser Diagnose etwa im (ausführlich geschilderten) Fall des 2002 bestialisch massakrierten Marinus Schöberl gewonnen? „Unter der Voraussetzung reduzierter moralischer Internalisierungen und einer geringen Empathiefähigkeit können unter begünstigenden Gruppensituationen und Drogeneinfluss Gewaltexzesse wie im Fall Schöberl vorkommen.” Das mag so sein. Aus dem Einzelschicksal einer Svenja, die sich von ihrem eher „linken” Vater ab- und der rechtsradikalen Szene zuwendet, wird die Einsicht konstruiert, rechtsextreme junge Frauen tendierten dazu, die Großmütter zu „entpolitisieren” und sich an den „politischen Funktionen” ihrer Großväter zu orientieren: Stellt diese mutige Hypothese etwa keine schablonenhafte „Homogenisierung” dar, die die Autoren bewusst vermeiden wollten?
Modern also? Vielleicht, dass die DVU vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt stolz auf unser Land mit den Konterfeis von Bebel, Ebert und Schumacher zu Felde zog.
THOMAS ECKARDT
ANDREAS KLÄRNER / MICHAEL KOHLSTRUCK (Hg.): Moderner Rechtsextremismus in Deutschland. Hamburger Edition 2006. 344 S., 35 Euro.
Neues Outfit - alter Wahn: Rechtsradikale bei einem Aufmarsch am 6. Mai dieses Jahres in Münster.
Foto: action press/Basti
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Zwar trägt dieser von Andreas Klärner und Michael Kohlstruck herausgegebene Sammelband dazu bei, die Vielfalt rechtsextremer Gruppierungen, Strömungen und Parteien darzustellen, schreibt Harald Bergsdorf. Irritiert zeigt er sich allerdings von der Tatsache, dass bei diesem durchaus verdienstvollen Unterfangen gerade die wichtigste rechte Partei NPD kaum je in den Blick der Autoren rückt. Die verschiedenen Beiträge, in denen sowohl einzelne Personen der rechtsradikalen Szene als auch ganze Milieus untersucht werden, basieren vor allem auf Interviews. Besonders berührt hat Bergsdorf die Rekonstruktion des Mordes an Marinus Schöberl, die Michael Kohlstruck und Anna Verena Münch verfasst haben.

© Perlentaucher Medien GmbH