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Seit Platon gilt die gerechte Gesellschaft als Ideal in der politischen Theorie. Avishai Margalit hingegen argumentiert für das Streben nach einer »anständigen« Gesellschaft, das heißt nach einer Gesellschaft, deren Institutionen die Menschen nicht demütigen. Dieses neue Ideal ist nicht nur dringlicher - bevor Gutes geschaffen wird, muß Schlimmes verhindert werden -, sondern im Gegensatz zum Ziel einer gerechten Gesellschaft auch realistischer und besser umsetzbar. Wie eine anständige Gesellschaft zu verstehen ist, entwickelt Margalit in Auseinandersetzung mit philosophischen Theorien und…mehr

Produktbeschreibung
Seit Platon gilt die gerechte Gesellschaft als Ideal in der politischen Theorie. Avishai Margalit hingegen argumentiert für das Streben nach einer »anständigen« Gesellschaft, das heißt nach einer Gesellschaft, deren Institutionen die Menschen nicht demütigen. Dieses neue Ideal ist nicht nur dringlicher - bevor Gutes geschaffen wird, muß Schlimmes verhindert werden -, sondern im Gegensatz zum Ziel einer gerechten Gesellschaft auch realistischer und besser umsetzbar. Wie eine anständige Gesellschaft zu verstehen ist, entwickelt Margalit in Auseinandersetzung mit philosophischen Theorien und veranschaulicht es anhand von Beispielen institutioneller Demütigung, etwa im Bereich des Strafvollzugs oder der Fürsorge. Margalits Buch ist eine der großen philosophischen Auseinandersetzungen mit den Erfahrungen des letzten Jahrhunderts und hat eine breite Debatte ausgelöst. Es ist mittlerweile ein Klassiker der politischen Philosophie.
Autorenporträt
Avishai Margalit ist emeritierter Professor für Philosophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem und George F. Kennan Professor am Institute for Advanced Study in Princeton. Er lehrte unter anderem in Oxford, Harvard sowie am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und wurde für sein Werk vielfach ausgezeichnet. Margalit ist Mitbegründer der israelischen Friedensbewegung Peace Now. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde (zus. mit Ian Buruma) und Politik der Würde.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.11.1997

Anstand ist die erste Bürgerpflicht
Avishai Margalits Philosophie der Würde überträgt Hegels Paradox von Herr und Knecht auf den Gegensatz von Mensch und Untermensch

Das Schlimmste, was Menschen einander antun können, ist Grausamkeit. "Putting cruelty first" (also: Unter den zu vermeidenden Übeln und Lastern zuallererst die Grausamkeit bekämpfen!) lautet dementsprechend die ethische Maxime, mit welcher die vor einigen Jahren gestorbene politische Theoretikerin Judith Shklar ihren "Liberalismus der Furcht" begründete. Neben der physischen Grausamkeit, neben Folter und Quälerei gibt es die psychische Grausamkeit, die Beeinträchtigung oder Zerstörung von Selbstachtung durch entwürdigendes Verhalten: durch Demütigung. "Putting humiliation first": Zuallererst diejenigen sozialen und institutionellen Praktiken beseitigen, welche über systematisch entwürdigende Behandlung die Selbstachtung von Menschen zerstören können - so ließe sich die Botschaft von Avishai Margalits in der englischsprachigen Welt vieldiskutiertem Buch zusammenfassen. Eine "decent society" (so der englische Titel), eine Gesellschaft mit "anständigen" Regeln und Institutionen, unterbindet die entwürdigende Behandlung von Menschen.

Margalit liefert uns nun kein Profil einer solchen Gesellschaft. Der handfestere, politiknähere vierte Teil ist zudem der schwächste Teil des Buches. Jedenfalls enttäuscht er nach den brillanten ersten zweihundert Seiten mit viel Common sense, aber wenig soziologischer Phantasie. Da verteidigt der Autor etwa die Tugend sozialer Anonymität (etwa von Wohlfahrtsbürokratien) oder rennt andere offene Türen ein (nicht jeder Strafvollzug verletzt die Menschenwürde). Margalit begründet den ethischen Vorrang des Anstands vor anderen Gesellschaftsidealen: dem der demokratischen Gesellschaft, dem der gerechten oder gar egalitären Gesellschaft. Eine Gesellschaft, deren vorherrschende Institutionen, Kultur und Verhaltensmuster keine Individuen und auch keine ethnische, soziale oder religiöse Gruppe systematisch entwürdigen, ist eine anständige Gesellschaft - auch dann, wenn sie weder demokratische Strukturen aufweist noch die materiellen und symbolischen Grundgüter gerecht verteilt.

Diese "anständige" Gesellschaft, welche Demütigung verhindert, sei vielleicht gegenüber dem Ideal sozialer Gerechtigkeit das realistischere "zweitbeste Ideal". Man kann freilich Margalits ethisch-politischen Essay, der zwar argumentiert, aber nicht die Geschlossenheit von John Rawls' klassischer Theorie der Gerechtigkeit erreichen will, auf ganz verschiedene Weisen lesen. Die bisher skizzierte Lesart beruft sich - wie Judith Shklar oder auch Sir Karl Popper - auf den Vorrang der Verhinderung des größeren Übels: Absoluten Vorrang hat die Beseitigung der Gefahr für Leib und Leben - die staatliche Monopolisierung und soziale Zivilisierung der Gewalt, von der Thomas Hobbes und Norbert Elias handeln. Ist einmal eine derart "gezügelte Gesellschaft" verwirklicht, dann ist die "anständige Gesellschaft" - die Gesellschaft ohne institutionelle Demütigung - die nächste Etappe auf unserer idealen Stufenleiter. Auf der obersten Sprosse ist dann die gerechte Gesellschaft angesiedelt.

Freilich hängt diese Prioritätenliste, nach der die Vermeidung von Demütigung (in Analogie zur Abschaffung der Folter) als negatives Ziel den absoluten Vorrang vor positiven Idealen erhält - seien es sozialdemokratische Ideen der Gerechtigkeit oder "dichte" Konzeptionen von republikanischer Teilhabe -, selber davon ab, daß sich alle moralischen Werte, sozialen Ziele und institutionellen Zielsetzungen ähnlich wie in einem utilitaristischen Kalkül nach einer linearen Rangskala ordnen lassen: Abwesenheit von Grausamkeit, dazu Gerechtigkeit und Freiheit. Dann und nur dann ist es nämlich geboten, ausschließlich die jeweils nächste Stufe zum alleinigen ethischen Programm zu erheben.

Ebensolcher einsinniger Skalierung der sozialen Werte und Übel widerspricht Margalits Buch freilich. In den Mittelabschnitten geht es um eine verstehende Rekonstruktion verschiedener Facetten des Faktums der Demütigung, um die paradoxe Verschränkung von sozialer Wertschätzung und Selbstachtung, um Gruppenzugehörigkeiten und die Demütigung von Individuen durch den symbolischen oder realen Ausschluß von ganzen Gruppen (etwa aus der Staatsbürgerschaft).

Sodann skizziert Margalit unterschiedliche Begründungen des normativen Vorrangs für allgemeinen Respekt. Die menschliche Würde kann (positiv) in der "inneren" Freiheit jedes Menschen gesehen werden, seinen Lebenssinn zu revidieren, sie kann (skeptisch) auf die faktische "soziale" Anerkennung bestimmter kultureller Standards der Behandlung von Gesellschaftsmitgliedern reduziert werden oder schließlich (rein negativ) in der absoluten Verurteilung von Grausamkeit als spezifisch menschlichem Übel wurzeln. Aber weder entscheidet sich Margalit eindeutig für eine der drei vorgestellten "Theorien" des Respekts, noch läßt sich für ihn der Sinn von Demütigung auf eine dieser drei Dimensionen reduzieren.

Handlungen der Demütigung erscheinen Margalit als Widerspruch im Vollzug: Jemanden als Untermenschen zu behandeln setzt doch zugleich voraus, ihn als Mensch anzuerkennen. Das symbolische Kapital der Ehre, die rechtlichen Ansprüche der Mitgliedschaft und die sozialen Muster der Wertschätzung stiften das Empfinden von Verletzung, den Riß im Gefühl der Achtung - und Selbstachtung. Achtung und Verachtung beziehen ihren Sinn aus einem komplexen Gewebe von Wahrnehmungen, Deutungen und Verhalten: Als symbolische Entwürdigung, Entmündigung, Verachtung führt uns die demütigende Rede - anders als die pure physische Gewalt - zurück in die wandelnden Horizonte kultureller Wahrnehmungsmuster.

In diesen, den wohl stärksten Kapiteln seines Buches läßt sich Margalits Essay als existentielle Hermeneutik der Angst vor Entwürdigung verstehen. Margalit formuliert nicht so sehr eine Ethik, die diejenige von Rawls oder Kant ablösen soll; vielmehr schreibt er Hegels Analyse des Verhältnisses von Herr und Knecht fort. Er erinnert daran, daß moralische Begriffe einen "Empfindungsgehalt" (William James) haben, und entfernt sich damit von politischen Ethiken aus einem Guß oder Prinzip. Liefert der "Liberalismus der Furcht" gute Gründe für ein minimalistisches Konzept von Anstand, ein auf die Vermeidung symbolischer Grausamkeit reduziertes Verständnis von Politik, so scheint die Phänomenologie historischer und potentieller Gefährdungen von Würde und Selbstachtung den Horizont humaner Politik eher noch zu erweitern: auf die ganze Breite der Skala kultureller Dimensionen der Kämpfe um Anerkennung. Ein Widerspruch? Gewiß eine fruchtbare Spannung im Buch des Jerusalemer Philosophen. OTTO KALLSCHEUER

Avishai Margalit: "Politik der Würde". Über Achtung und Verachtung. Aus dem Amerikanischen von Gunnar Schmidt und Anne Vonderstein. Vorwort von Fritz Stern. Alexander Fest Verlag, Berlin 1997. 236 S., geb., 58,- DM.

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