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Der Niedergang des Bürgertums seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ist vielfach beschrieben worden - literarisch ebenso wie wissenschaftlich. Andreas Schulz wählt hingegen einen ganz anderen Ansatzpunkt: Bürgerlichkeit wird in seinem Studienbuch (auch) als krisenfestes Leitbild sichtbar, das bis in heutige, postmoderne Zeiten als Identifikationsmöglichkeit Bestand hat und jenen, die sich dem Bürgertum zugehörig fühlen, Rückhalt bietet. Der Forschungsteil macht die großen Kontroversen der letzten Jahrzehnte anschaulich. Die reihentypische, thematisch gegliederte Bibliographie ist das ideale…mehr

Produktbeschreibung
Der Niedergang des Bürgertums seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ist vielfach beschrieben worden - literarisch ebenso wie wissenschaftlich. Andreas Schulz wählt hingegen einen ganz anderen Ansatzpunkt: Bürgerlichkeit wird in seinem Studienbuch (auch) als krisenfestes Leitbild sichtbar, das bis in heutige, postmoderne Zeiten als Identifikationsmöglichkeit Bestand hat und jenen, die sich dem Bürgertum zugehörig fühlen, Rückhalt bietet. Der Forschungsteil macht die großen Kontroversen der letzten Jahrzehnte anschaulich. Die reihentypische, thematisch gegliederte Bibliographie ist das ideale Hilfsmittel für das Studium und eigene Forschungen.

Aus dem Inhalt:
Bürgerliche Lebenswege und Lebensentwürfe im 19. und 20. Jahrhundert Neue Lebensformen Krieg, Inflation und Krisensemantik 1945: Ende bürgerlicher Kultur? Wiederaufstieg in der Konsumwelt "1968" - Kritik der Bürgerlichkeit
Autorenporträt
Andreas Schulz, geboren 1958, ist Professor für Neuere Geschichte am Historischen Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2005

Ein langer Bürgersteig für die Bürgerinitiativen
Jedem sein Reihenhaus: Andreas Schulz faßt die Lebenswelt und die Kultur einer Schicht zusammen

Ende der achtziger Jahre trommelte ein prototypischer Sachkundelehrer seinen Viertkläßlern das Wort "Gehweg" in die Hirne. "Einen Bürgersteig gibt es nicht": Der pädagogisch wertvoll gemeinte Satz, der herzlich wenig mit Verkehrserziehung zu tun hatte, tönt noch im Ohr. Auch der erste, der sprachkritische Teil der folgenden Erläuterungen ist der Erinnerung erhalten geblieben: "Wir steigen ja nicht, wir gehen." Der zweite, der sozialrevolutionäre Teil dieser kleinen Kritik des Bürgersteigs hat sich hingegen nicht ins kindliche Gedächtnis gebrannt. Da war irgend etwas mit "Es gibt keine Bürger mehr" oder "Da darf schließlich jeder drauf gehen". Gut, daß der Sachkundelehrer, der wie alle damaligen Lehrer seit dem Jahr 1968 auf kritischen Beinen unterwegs war, nicht um die magere Frucht seiner Mühen weiß. Der Bürgersteig steht im Sprachschatz weiter gleichberechtigt neben Gehweg und Trottoir. Vielleicht sagt das vermeintlich altertümelnde Wort sogar mehr als seine Synonyme. Denn ist nicht jeder, der auf ihm geht - also jeder - auch ein bißchen Bürger?

Der Bürger ist ein amorphes Geschöpf, das seit bald zweihundert Jahren kaum in Reinform gesichtet wurde. Namentlich der deutsche Bürger lebt seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert mit dem Schicksal, von einem Hauch des Niedergangs umgeben zu sein. Oft haftet ihm ein Nimbus der Negation an: Bürgertum, das war früher, in einer anderen, je nach Sichtweise sehr viel helleren oder sehr viel dunkleren Zeit. Vielleicht hat der Bürger bloß dank der Attribute der Dekadenz, die ihn eigentlich tilgen wollten, bis heute überlebt, und sei es in den Derivaten der Bürgerkultur, der Bürgerlichkeit, der bürgerlichen Gesellschaft. Sicher trug zu seinem Bestehen auch die Lust der Forscher am wenig Greifbaren bei.

Namentlich die Geschichtswissenschaft beäugt den Bürger mit akribischem Argwohn, notiert penibel seine Regungen, die sie gleichwohl nicht ungern als letzte Zuckungen deutet. Wie wohnt, was ißt, wie spricht, wie wirtschaftet, wie stiftet der Bürger? Wie benimmt er sich gegenüber seiner Frau, und wie benimmt sie sich? Ist er ein Wesen der Sozialgeschichte, kann der Historiker ihn also am besten in seinem Sozialmilieu aufstöbern? Oder macht er ihn besser sprachlich sichtbar, indem er sich seiner unmittelbaren Umgebung annimmt, also der Stadt? Oder ist der Bürger ein kulturelles Konstrukt, das nur durch dichte Beschreibung seiner Verhaltensweisen, seines Habitus faßbar wird?

Das vorliegende Buch nimmt sich Fragen wie diesen in konziser und verdichtender Weise an. Andreas Schulz gelingt es, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert und das historiographische Nachdenken darüber so klug und spannend darzustellen, daß von einer wahren Bereicherung für die Geschichtswissenschaft gesprochen werden muß. Wie in der Enzyklopädie deutscher Geschichte üblich, gliedert sich der Band in einen darstellenden Teil und eine Analyse des Forschungsstands, denen sich eine ausführliche Bibliographie anschließt, die neben der Sekundärliteratur auch Quellentexte verzeichnet. Indem der Autor nicht primär nach dem Verbleib des Bürgertums als sozialer Klasse fragt, sondern sich des bürgerlichen Handelns annimmt, kann er die Kontinuitäten und Brüche der Bürgerkultur und der bürgerlichen Lebenswelt beschreiben, ohne in das gängige Niedergangsparadigma zu verfallen. Der Band zeigt auch, daß Bürgerlichkeit oft in Phänomenen des Alltagslebens sichtbar wird, etwa in der Konsumkultur der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts - und zugleich in der bildungsbürgerlichen Kritik am Konsumismus. Auch Gegenbewegungen zu einer als dekadent und überkommen empfundenen Bürgerlichkeit wie die Lebensreformbewegung der Jahrhundertwende waren bürgerlich, wollten nicht aus dem Bürgertum ausbrechen, sondern die bürgerliche Gesellschaft in Form einer anderen Moderne reformieren. Und aus der antibürgerlichen Achtundsechziger-Bewegung gingen "Bürgerinitiativen" hervor, die die bürgerliche Gesellschaft nicht radikal ablehnten, sondern sie nachhaltig veränderten.

Gewiß war es auch die Routine einer Gegenwehr gegen Angreifer aus Adel, Proletariat und Intellektualität, die den Bürger so zäh und duldsam gemacht hat. Doch darf die Attraktivität der immer feineren Unterschiede nicht vernachlässigt werden, mit denen sich bürgerliche Schichten bis heute von anderen Milieus abgrenzen. Nicht, ob eine Familie ins Theater geht, ist entscheidend, sondern wie sie den kulturellen Ausflug gestaltet. Auch auf einem Gehweg kann man so laufen, daß er flugs zum Bürgersteig sich wandelt.

FLORENTINE FRITZEN

Andreas Schulz: "Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert". Enzyklopädie deutscher Geschichte, Band 75. Oldenbourg Verlag, München 2005. 144 S., br., 19,80 [Euro].

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"Bestens geeignet als Grundlage für Seminare, gymnasiale Oberstufe, VHS Seminare." Friedrich Andrae in: ekz Infodienst für öffentliche Bibliotheken 26/ 2005 "Namentlich die Geschichtswissenschaft beäugt den Bürger mit akribischem Argwohn, notiert penibel seine Regungen, die sie gleichwohl nicht ungern als letzte Zuckungen deutet. Wie wohnt, was ißt, wie spricht, wie wirtschaftet, wie stiftet der Bürger? Wie benimmt er sich gegenüber seiner Frau, und wie benimmt sie sich? (...) Das vorliegende Buch nimmt sich Fragen wie diesen in konziser und verdichtender Weise an. Andreas Schulz gelingt es, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert und das historiographische Nachdenken darüber so klug und spannend darzustellen, daß von einer wahren Bereicherung für die Geschichtswissenschaft gesprochen werden muß." Florentine Fritzen in FAZ vom 23.09.2005