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»In jedem Leben kommt der Augenblick, in dem die Zeit einen anderen Weg geht als man selbst. Man lässt die Mitwelt ziehen.« Roger Willemsen »Als mein Vater starb, war ich 15, sah aus wie Janis Joplin und war gerade in der Schule sitzengeblieben«, erinnert sich Roger Willemsen an den Urknacks seinen eigenen Lebens. »Der Knacks«, das ist der Moment, in dem das Leben die Richtung wechselt und nichts mehr ist wie zuvor. Aber mehr noch als die großen Brüche interessieren Willemsen die fast unmerklichen, namenlosen Veränderungen: die feinen Haarrisse in einer Beziehung, das Altern von Menschen,…mehr

Produktbeschreibung
»In jedem Leben kommt der Augenblick, in dem die Zeit einen anderen Weg geht als man selbst. Man lässt die Mitwelt ziehen.« Roger Willemsen
»Als mein Vater starb, war ich 15, sah aus wie Janis Joplin und war gerade in der Schule sitzengeblieben«, erinnert sich Roger Willemsen an den Urknacks seinen eigenen Lebens. »Der Knacks«, das ist der Moment, in dem das Leben die Richtung wechselt und nichts mehr ist wie zuvor. Aber mehr noch als die großen Brüche interessieren Willemsen die fast unmerklichen, namenlosen Veränderungen: die feinen Haarrisse in einer Beziehung, das Altern von Menschen, Städten, Kunstwerken, die Enttäuschung, der Verlust, die Niederlage - die unaufhaltsame Arbeit der Zeit. Mal autobiographisch erzählend, mal beobachtend und reflektierend schreibt Roger Willemsen sein vielleicht persönlichstes Buch.
Autorenporträt
Roger Willemsen, geboren 1955 in Bonn, gestorben 2016 in Wentorf bei Hamburg, arbeitete zunächst als Dozent, Übersetzer und Korrespondent aus London, ab 1991 auch als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Fernsehpreis und den Adolf-Grimme-Preis in Gold, den Rinke- und den Julius-Campe-Preis, den Prix Pantheon-Sonderpreis, den Deutschen Hörbuchpreis und die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft. Willemsen war Honorarprofessor für Literaturwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin, Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und stand mit zahlreichen Soloprogrammen auf der Bühne. Zuletzt erschienen im S. Fischer Verlag seine Bestseller »Der Knacks«, »Die Enden der Welt«, »Momentum«, »Das Hohe Haus« und »Wer wir waren«. Über Roger Willemsens umfangreiches Werk informiert der Band »Der leidenschaftliche Zeitgenosse«, herausgegeben von Insa Wilke. Willemsens künstlerischer Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste, Berlin.  Literaturpreise: Rinke-Preis 2009 Julius-Campe-Preis 2011 Prix Pantheon-Sonderpreis 2012
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2008

Lächeln trotz kleiner Kratzer

Über das allmähliche Scheitern der Menschen beim Leben: Roger Willemsens neues Buch handelt von den Brüchen einer jeden Biographie. Die mit Erfahrungen gespickte Reflexion über den Knacks spendet keinen Trost - und liest sich dennoch als Buch zur Zeit.

Von Sandra Kegel

Der "Knacks" tritt in das Leben von Roger Willemsen, als er fünfzehn Jahre alt ist. Sein Vater stirbt. Der heute Dreiundfünfzigjährige erinnert sich noch genau an diesen Tag: Es war heiß, die Vögel blieben unter den Schatten spendenden Blättern sitzen und alles Leben verlangsamte sich. Auf den Krankenhausfluren sprach man darüber, dass es abends regnen werde. Als der Regen endlich kommt, lebt der Vater nicht mehr.

Etwas veränderte sich, schreibt Roger Willemsen im Rückblick auf das Kind, das er einmal war. Doch geschieht die Veränderung nicht sofort, sondern erst allmählich, im Laufe der folgenden Monate. Was genau passiert, bleibt zunächst diffus, "Erwachsenwerden" will es der Autor nicht nennen. Es ist vielmehr ein langsames Hinübergleiten von einem Zustand in den anderen, für das es keinen Namen gibt. Heute, vierzig Jahre später, hat Roger Willemsen für seine wundersame Wandlung - dieses "Abfallen der Lebenstemperatur, ein erstes Verschießen der Farben" - doch noch ein Wort gefunden: er nennt es den "Knacks". Auch sein Buch, eine dreihundert Seiten lange Reflexion über das allmähliche Scheitern des Menschen beim Leben, hat er so betitelt. Darin vergleicht er die schleichende Veränderung mit dem Craquelé in der Malerei, das in alten Gemälden eben keinen Sprung hinterlässt, sondern feine Risse in der Oberfläche: Dass an jenem heißen Sommertag, als der Vater starb, seine Kindheit zu Ende ging, will Roger Willemsen deshalb so nicht sehen. Diese Kindheit habe vielmehr einen langen Bremsweg gehabt, sagt er. Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelt er seine Theorie über den Knacks.

Anders als die harten Brüche in der Biographie, also die bewusste Erfahrung von Verlust, Krankheit oder Niederlagen, tritt der Knacks fast unbemerkt ins Leben. Mit ihm lässt sich deshalb das eigene Scheitern auch nicht monokausal deuten: "Er ist eher Wandlung, Verschiebung, Temperatursturz, ein Umschlagen des Tongeschlechts, ein Wechsel des Kolorits, eine atmosphärische Verlagerung." Doch so unscheinbar der Knacks auch ist, Roger Willemsen spürt ihn, seit er ihm rückblickend auf die eigene Spur gekommen ist, Kapitel um Kapitel mit geradezu detektivischer Akribie überall in der Welt auf: Die moderne Arbeitswelt ist ebenso angeknackst wie unsere Landschaften, Kinofilme, der Glaube, die Porträts von James Ensor oder die mystische Malerei. Die Fußgängerzonen und das Reihenhaus sind von dem unscheinbaren Mangel ebenso befallen wie unsere modernen Kommunikationsmittel oder die Boulevardpresse. Vor allem aber diagnostiziert Willemsen den Knacks in uns: Wenn wir lieben, wenn wir verlassen werden, wenn wir alt werden, ja sogar wenn wir Glück erfahren, hinterlässt das Leben seine Kratzer, Risse und Narben in uns. Der Knacks markiert daher Sieger und Verlierer, Einzelkämpfer und Eheleute, das Knacksen wird zum ununterbrochenen Hintergrundrauschen unseres Daseins. Es lässt jede Illusion in sich zusammenfallen, selbst die, dass ein Sinn darin liegt, so zu sein wie wir sind, und das zu tun, was wir tun.

Man könnte Willemsen vorwerfen, dass er die Krise in der Mitte seines Lebens zum Thema aller macht. Davor schützt er sich, indem sein Text nicht allein autobiographisch-anekdotische Elemente enthält, sondern er kulturhistorisch weit ausholt, um seine Theorie zu stützen. Auch führt er eine ganze Armee von Kronzeugen an, von Kafka und Scott Fitzgerald bis zu Amy Winehouse und Britney Spears, die den "Knacks" nicht bloß ertragen, sondern kultiviert haben. Manches Mal ermüdet die umfassende Recherche, die einen Beweis nach dem anderen ins Feld führt für eine These, die eher eine existentielle Beobachtung ist. Dass dieses Buch so trefflich in unsere Zeit passt, zeigt sich dann aber vor allem in seinem Kapitel über die Arbeitswelt. Weil die Leistungssteigerung immer mehr Besitz von uns ergreift, treten Effekte wie Beschleunigung und Effizienz auch in jenen Bereich unseres Lebens, der sich jenseits der Arbeitswelt abspielt. "In der Angst, das Leben zu verpassen, wird es verpasst", so Willemsen. Was daraus folgt, sei kollektive Ermüdung: Moderne Krankheitsbilder wie das Burnout-Syndrom werden zu Metaphern des vorzeitigen Alterns. "Ich hatte eigentlich ein wunderschönes Leben. Leider habe ich es zu spät bemerkt", seufzte Colette im hohen Alter. In dieser Erkenntnis der französischen Schriftstellerin offenbart sich das Wesen vom Knacks: Denn er lässt sich nach Willemsens Lesart nur retrospektiv erkennen, jedoch nicht in dem Moment, in dem er sich ereignet. Der Mensch wird nicht durch ein Regime gebrochen, durch einen Zufall oder die Mutter. Er wird gebrochen in der vollendeten Zukunft, dem Futurum II. Erst wenn man zurück sieht, erblickt man im Spiegel der eigenen Vergangenheit, dass man angegriffen ist.

Zweifellos sympathisiert der Autor mit den Gebrochenen und Versehrten. Für die Helden hingegen hat er kaum mehr als Verachtung übrig, denn sie besitzen für ihn keine Psychologie. "Ihre Besessenheit ist eine Fähigkeit, die ganze Person hinter ihre Sache zu bringen." Diese Fähigkeit, schlicht und eindimensional zu sein, fehle den Zweiflern und Alten. Durch den Knacks wird der effiziente Mensch verneint, der, von widersprüchlichen Impulsen geleitet, kontaminiert ist von Erschöpfung und Zweifeln. Dieses Leben, so viel ist klar, lässt sich auch nicht mehr kausal beschreiben. Der Glaube, man sei die Summe seiner Entscheidungen, die eigene Geschichte eine epische Entwicklung des Einen aus dem Anderen, ist ein Trugschluss. Unser Leben ist nicht stabil, um dann und wann von Einschränkungen und Verlust bedroht zu werden, sondern es ist verletzt, um dann und wann mit der Illusion von Stabilität befriedet zu werden.

Als Karl IV. den Maler Goya 1801 bat, einige seiner Gemälde zu restaurieren, weil er fand, dass sie im Laufe der Jahre trüb und dunkel geworden seien und ihre frühere Strahlkraft verloren hätten, lehnte der Künstler die Bitte seines Königs ab. Goya fand, dass das Altern der Bilder selbst ein künstlerischer Akt sei: "Auch die Zeit ist ein Maler." In dieser Auffassung von Zeit erkennt Willemsen, der sich sonst hütet, dem brüchigen Menschen Lösungsvorschläge anzudienen, dann doch so etwas wie Hoffnung. Denn wie die Zeit das Tableau des Künstlers erst vollendet und also selbst Teil des Kunstwerks ist, kann, ja muss der Mensch im Knacks den Angriff durch die Zeit als Teil der eigenen Biographie begreifen. Unbestritten ist, dass wir mit unserer Geburt in den Verfall eintreten. Wie wir damit umgehen, darin liegt die Chance: Lassen wir die Zeit gewähren, sterben wir alt und faltig. Wer sich jedoch liften lässt, stirbt alt und grotesk.

- Roger Willemsen: "Der Knacks". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008. 304 S., geb., 18,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Der Knacks ist nichts, das man gleich bemerkt. Er ist, wie die Krakelüre im Ölbild, etwas, das sich unsichtbar erst einschleicht ins Leben und dann irgendwann als Krise und Melancholie spürbar wird. Diesem Phänomen geht Roger Willemsen nach, und zwar sowohl autobiografisch - zurückgehend bis zum Tod seines Vaters, als er selbst fünfzehn war -, als auch weiter ausgreifend ins Kulturhistorische. Knackse, muss man sagen, scheint Willemsen mühelos zu finden, im Leben, in der Kunst, in der modernen Arbeitswelt ("Burn-Out-Syndrom") - das sind nur ein paar der Felder, die die Rezensentin Sandra Kegel aufzählt. Manchmal, gibt sie zu, wird es ihr ein bisschen viel - aber insgesamt scheint ihr das Buch doch anregend genug; und mit Willemsens Interesse an den Gebrochenen und der korrespondierenden "Verachtung" für die Helden kann sie offenbar durchaus auch sympathisieren.

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