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Eine der großen Kindheitsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Die Zimtläden erzählt von der versunkenen Welt des Schtetls in Galizien: der verschrobene Vater und seine böse Gegenspielerin Adela, verwunschene Gärten und modrige Hauseingänge, überraschend entdeckte Zimmer hinter vernagelten Türen, wo die Tapeten zu leben anfangen, das flirrende Paradies des Sommers, ein Sturm, der das Gerümpel auf dem Speicher in Wallung bringt, Nächte, in denen Schneiderpuppen zum Leben erwachen. Doreen Daume hat eine neue Sprache gefunden für das an Wortschöpfungen und atmosphärischen Bildern reiche polnische…mehr

Produktbeschreibung
Eine der großen Kindheitsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Die Zimtläden erzählt von der versunkenen Welt des Schtetls in Galizien: der verschrobene Vater und seine böse Gegenspielerin Adela, verwunschene Gärten und modrige Hauseingänge, überraschend entdeckte Zimmer hinter vernagelten Türen, wo die Tapeten zu leben anfangen, das flirrende Paradies des Sommers, ein Sturm, der das Gerümpel auf dem Speicher in Wallung bringt, Nächte, in denen Schneiderpuppen zum Leben erwachen. Doreen Daume hat eine neue Sprache gefunden für das an Wortschöpfungen und atmosphärischen Bildern reiche polnische Original; mit der Verbindung von Werktreue und Erfindungsgabe hat sie einen Text von hoher Eindringlichkeit geschaffen. Sie wurde dafür mit dem renommierten Zuger Übersetzerstipendium ausgezeichnet.
Autorenporträt
Bruno Schulz, geboren 1892 als Sohn eines jüdischen Tuchhändlers im galizischen Drohobycz, studierte Architektur und verdiente seinen Lebensunterhalt als Kunstlehrer an einem Gymnasium seiner Heimatstadt. Mit zwei schmalen Büchern schrieb er sich ¿ nach Kafka, Rilke und Proust, neben Thomas Mann und James Joyce ¿ in den dreißiger Jahren an die Spitze der Weltliteratur: Die Zimtläden (Hanser 1961, Neuübersetzung 2008) und Das Sanatorium zur Sanduhr (Neuübersetzung 2011). In seiner polnischen Heimatstadt (heute Ukraine), die 1939 von der Roten Armee und 1941 von den Deutschen besetzt wurde, schuf Bruno Schulz phantastische und groteske Traumbilder. Sein von Nöten, Obsessionen und Bedrohung geprägtes Leben endete 1942 tragisch: Bruno Schulz wurde das Opfer eines Ehrenhandels zwischen zwei Gestapo-Offizieren. Zu seinen Verehrern gehören Primo Levi und Cynthia Ozick, John Updike, Philip Roth, J. M. Coetzee und David Grossman.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.03.2008

Das Fleisch wuchert jenseits der Grenzen der Person
Bruno Schulz’ „Zimtläden” in einer neuen Übersetzung – und eine Monographie über Schulz von Jerzy Ficowski
Kann es etwas Traurigeres geben, fragt der Vater, als „einen Menschen, der in einen Klistierschlauch verwandelt wurde? Welch eine Enttäuschung für die Eltern, welch eine Irreführung ihrer Gefühle, welch Zersplittern aller Hoffnungen, die man in den vielversprechenden Jüngling gesetzt hatte!” Und kann es Groteskeres geben, als die so umrissene Konstellation zwischen den um die Laufbahn ihres Kindes bemühten Eltern und den zum Klistierschlauch gewordenen Sohn? Es kann, weiß Bruno Schulz, der Verfasser des 1933 im polnischen Original erschienenen Erzählbandes „Die Zimtläden”; denn etwas Rührendes überbietet noch den Jammer der Eltern: „Und dennoch begleitete ihn die treue Liebe der armen Cousine auch bei dieser Verwandlung.”
„Sklepy cynamonowe”, „Die Zimtläden” sind ein Buch der Verwandlungen. Schulz selbst spricht in der Titelerzählung von „Metamorphosen” und „Transformationen”. Es sind Verwandlungen, die sich der Einfühlung des Lesers entziehen. Indem er ihnen die Psychologie austreibt, treibt Schulz die Verwandlungen voran in zwei Richtungen: Komik einerseits, Metaphysik und Mythologie andererseits. In seinem wichtigsten poetologischen Essay, „Die Mythisierung der Wirklichkeit”, hat Schulz sein Verfahren luzide auf den Punkt gebracht. In der Umgangssprache verwenden wir die Worte, um Absichten, die wir hier und jetzt haben, zu erreichen. Wir vergessen dabei, dass diese Worte nicht aus dem Hier und Jetzt kommen. Sie sind vielmehr Trümmer von Mythen und Geschichten, in denen die Menschen die längste Zeit gehaust haben, ja in mehr als einer Hinsicht noch hausen. Den verlorenen Sinn der Worte erkennt die Dichtung: „Poesie – das sind die Kurzschlüsse des Sinns zwischen den Worten, die schlagartige Regeneration der ursprünglichen Mythen.” Und das „Schlagartige” wie der „Kurzschluss” verweisen darauf, wie und warum Groteske und scheinbarer Nonsens bei Schulz der Metaphysik und Mythologie verwandt sind.
„Die Zimtläden” sind nach des Autors Formulierung „der Versuch, die Geschichte einer Familie, eines Provinzhauses nicht aus ihren realen Elementen, aus Begebenheiten, Charakteren und den wirklichen Geschicken heraus zu begreifen, sondern über diese hinaus nach ihrem mythischen Gehalt, nach einem letzten Sinn jener Geschichte zu suchen”. Nicht aus Spekulation über die Subjektivität eines Menschen erschließt sich, was er ist. Sein Wesen ist sein Leib, insofern Poesie dessen Mythos ausspricht. So ist Tante Agata „weißes, fruchtbares Fleisch, das beinahe schon jenseits der Grenzen der Person wucherte, die eben von den Fesseln einer individuellen Form lose zusammengehalten wurde, einer Form, die selbst in dieser Konsistenz schon vervielfältigt war, bereit zu zerfallen, sich zu verästeln, sich in eine Familie zu verströmen”. Zerfallen, verästeln, verströmen: Schulz scheut nicht die unvereinbaren Bilder. Der Mythos, wie er ihn versteht, fordert sie geradewegs.
„Die Zimtläden” sind freilich alles eher denn die Anwendung einer poetologischen und mythologischen Theorie. Vielmehr muss diese, umgekehrten Weges, für Schulz ein Versuch gewesen sein, zu verstehen, was er als Dichter machte. Und in dem, was er als Dichter machte, war er einer Sprache von leuchtender Sinnlichkeit mächtig. „Das verflochtene Dickicht aus Gras, Unkraut, Grünzeug und Disteln lodert im Feuer des Nachmittags. Fliegenschwärme durchtosen das Mittagsschläfchen des Gartens. Ein goldenes Stoppelfeld brüllt in der Sonne wie eine rote Heuschrecke, im prasselnden Feuerregen kreischen Grillen, Samenschoten explodieren leise wie Heupferdchen.” Mit diesem glühenden Naturbild beginnt das zweite Kapitel der „Die Zimtläden” eröffnenden Erzählung „August”. Es beginnt jedenfalls so in der Übersetzung von Doreen Daume, die eine neue und wohl auch erstmals eine angemessene deutsche Lektüre des 1934 im polnischen Original erschienenen Buches erlaubt. Daumes Übertragung ersetzt im Programm von Carl Hanser die 1961 vorgelegte von Josef Hahn, die im deutschen Verlagswesen weithin die Runde machte: Suhrkamp, Fischer, dtv druckten sie nach, auch Volk & Welt in der DDR erwarb eine Lizenz.
Das Dickicht der Gräser
Bei Hahn lautete der Kapitelbeginn: „Das verworrene Dickicht der Gräser, Pflanzen, Unkräuter und Disteln, brodelt im Feuer des Mittags. Es braust im Gewimmel der Fliegen das Mittagsschläfchen des Gartens. Das goldene Stoppelfeld schreit in der Sonne wie das Erz der Heuschrecke; im dichten Regen des Feuers toben die Grillen; die Schoten der Sämereien explodieren leise wie Heupferdchen.” Schlichte Fehlübersetzung von polnischen Worten, wie in „Erz”, steht hier neben schiefer Syntax („Es braust das Mittagsschläfchen”) und im Deutschen pedantisch klingenden Bildungen der Mehrzahl: „Unkräuter”, „Sämereien”. Schulz’ Bild mag noch zu erkennen sein, aber es ist ins Matte gezogen, während Daume seine Kraft und Farbe im Deutschen hält. Sie findet die rechten Worte für das Schöne und das Unheimliche, für den Wahnsinn und die Vernunft, für das Normale und das Phantastische, und obschon sie gewiss suchen musste, um zu finden, liest sich nichts gesucht.
Der vielleicht größte polnische Dichter des 20. Jahrhunderts, dessen Größe nun erst, dank der neuen Übersetzung, im Deutschen erkennbar wird, kam aus unscheinbaren Verhältnissen, aus der Provinz. Bruno Schulz wurde 1892 in eine Familie kleiner jüdischer Kaufleute geboren. Sein Vater betrieb ein Textilwarengeschäft am Marktplatz des galizischen Städtchens Drohobycz. Es hat im Laufe des 20. Jahrhunderts zu Österreich-Ungarn gehört und zu Polen, war von der Roten Armee besetzt und der deutschen Wehrmacht; nach 1945 (wie bereits 1939) wurde Drohobycz der ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen und liegt daher heute in der Ukraine.
1910 begann Schulz ein Architekturstudium in Lemberg; später arbeitete er als Zeichenlehrer am Gymnasium seiner Heimatstadt. Als 1941 die deutschen Besatzer in Drohobycz einrückten, sicherte Schulz sein Überleben zunächst, indem er Fresken im Kasino der Gestapo malte. Auch bei der Abwicklung des nationalsozialistischen Kunstraubs in den besetzten Gebieten wurde er beschäftigt. Am 19. November 1942 ermordete der SS-Scharführer Karl Günther mit zwei Kopfschüssen Bruno Schulz in Drohobycz auf offener Straße.
Bruno Schulz’ Leben ist Gegenstand eines Buches Jerzy Ficowskis, das 2002 auf Polnisch erschien. Der 2006 im Alter von 81 Jahren verstorbene Schriftsteller und Übersetzer wollte aber auch dem Werk gerecht werden. Dabei wies er einen gleichsam mathematischen Zugang zurück, den ohnehin niemand versuchen würde: „Es war nicht meine Absicht, das Schulzsche Werk durch eine gründliche Analyse in seine Primfaktoren zu zerlegen.” Für einen Autor, der sich ganz der Moderne verpflichtet glaubte, fühlte sich Ficowski eigenartig wohl mit der Abwehrformel vom Kunstwerk als Organismus: „Es ist nicht mein Wunsch, das lebendige Werk von Bruno Schulz einer Vivisektion zu unterziehen.” Das Klischee, Analyse und Rationalität seien kalt und zersetzend, während einzig Intuition das Ganze zu wahren wisse, ist Kehrseite der Würdigung des Werks in einer werbend aufgedonnerten Sprache des Sakralen: „ganz große Offenbarung”, das „Dämonische”, „Unermesslichkeit des Transzendenten”. Schulz’ Prosa breite sich „in fast biblischen Dimensionen” aus.
Haltlose Vermutungen
Wie nahe daran, würde man gern wissen, ist „fast”? Da die sakrale Deutung Schulz’ Schreiben von der diesseitigen Biographie löst und den Sinn des Projekts einer Monographie über Leben und Werk untergräbt, operiert Ficowski kompensatorisch mit abgesunkenen psychologischen Formeln wie „Minderwertigkeitskomplex” und „masochistische Neigung”: Sie sollen die Literatur wieder an das empirische Ich, das die Biographie beschreibt, rückbinden. Sie leisten dies, doch um den Preis einer Reduktion: ein höherer als bei Analyse der sprachlichen Mittel, wie Ficowski sie perhorresziert.
Theologische Erhöhung, psychologische Erklärung: der doppelte Zugriff bringt einen dogmatischen Zug in Ficowskis Buch. Sein Schulz ist der richtige, daneben gibt es unzuständige Meinungen und Verdrehungen der Wahrheit. „Höchstens bei sehr oberflächlicher Kenntnis von Schulz’ Schriften” kann man in diesen eine Verwandtschaft zum Werk Kafkas erkennen. „In Wahrheit handelt es sich um diametral entgegengesetzte Welten, extrem verschiedene künstlerische Motive und Philosophien, die nichts miteinander zu tun haben.” Nur aufgrund von „haltlosen Vermutungen” kann man anderer Ansicht sein. Statt eine Deutung vorzuschlagen, unternimmt Ficowski es, einen Besitzanspruch auf Schulz durchzusetzen. Denn er war – Ficowski hat es an die Spitze seines Buches gesetzt – ein Verehrer der ersten Stunde. Gewiss hat Ficowski mehr für das Nachleben Schulz’ getan als irgendein Mensch. Aber manchmal ist der beste Kenner nicht auch der beste Erklärer. ANDREAS DORSCHEL
BRUNO SCHULZ: Die Zimtläden. Aus dem Polnischen von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag, München 2008. 230 Seiten, 21,50 Euro.
JERZY FICOWSKI: Bruno Schulz 1892-1942. Ein Künstlerleben in Galizien. Übersetzt und für die deutsche Ausgabe bearbeitet von Friedrich Griese. Carl Hanser Verlag, München 2008. 185 Seiten, 19,90 Euro.
Ein Selbstporträt von Bruno Schulz (1892-1942), der Maler und Schriftseller zugleich war. Foto: Meczenstwo Walka, Zaglada Zydów Polsce
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.03.2008

Diese Wirklichkeit ist dünn wie Papier

Nicht Schtetl, sondern Stadt: Der polnische Erzähler Bruno Schulz war ein Riese der literarischen Moderne, wie eine neue Übersetzung seiner "Zimtläden" beweist. Zugleich erscheint nun auch die maßgebliche Biographie von Jerzy Ficowski endlich auf Deutsch.

Wer weiß, was aus Bruno Schulz geworden wäre, wenn er den 19. November 1942 überlebt hätte. Just für diesen Tag hatte der Dichter und Maler seine Flucht aus dem Getto des galizischen Drohobycz geplant. Er trug die gefälschten Papiere schon in der Tasche, als er auf offener Straße von dem SS-Scharführer Karl Günther erschossen wurde. Schulz war nicht das einzige Opfer dieser willkürlichen Tötungsaktion, bei der über hundert Juden innerhalb weniger Stunden im Kugelhagel der Herrenmenschen starben; der 19. November ging als Schwarzer Donnerstag ins Gedächtnis der Überlebenden ein.

Nehmen wir einmal an, Schulz, der neun Jahre zuvor als Schriftsteller debütiert und in der polnischen Kritik mit seinen "Zimtläden" zugleich überschwengliche und verständnislose Reaktionen hervorgerufen hatte, wäre die Flucht gelungen. Nehmen wir an, er hätte in Warschau überlebt, weiter geschrieben und veröffentlicht. Dann hätte wohl auch seine Rezeptionsgeschichte einen anderen Verlauf genommen. Nun ist es nicht so, dass die wenigen hundert Seiten des Schulzschen Werkes, die die Zeiten überdauert haben, nicht längst zur Weltliteratur gezählt würden. Die tragischen Todesumstände des Autors färben aber bis heute den Blick auf seine literarische Stellung: Schulz gilt als ein Hauptprotagonist des jüdischen intellektuellen Lebens im damaligen Polen; eine Figur, die an die barbarische Ausrottung dieses Lebens durch die Nazis gemahnt.

Als 2003 in Drohobycz, das heute in der Ukraine liegt, einige Wandbilder entdeckt wurden, die Schulz im Auftrag des SS-Manns Felix Landau dort angebracht hatte, wurden Teile davon mit ukrainischer Zustimmung nach Israel verbracht, wo sie nun in Yad Vashem zu sehen sind. Diese klandestin durchgeführte Aktion provozierte damals heftige Proteste der Polen, die Schulz dem genuinen Erbe ihres eigenen Landes zurechnen. Abseits dieses Gerangels um die Zugehörigkeit der Opferfigur Schulz greift eine weitere Sortierung. Wie Joseph Roth, Leopold von Sacher-Masoch und Karl-Emil Franzos ist Bruno Schulz weithin als galizischer Dichter in Erinnerung geblieben, zudem als einer, der die Welt des jüdischen Schtetls in Literatur gefasst hat.

Dabei erscheint das osteuropäische Schtetl, das bis ins zwanzigste Jahrhundert überdauert hatte, als genuin antimoderner Raum, der im Grunde genommen auch eine eigene Zeit ist: ein ewiges und verschrobenes Mittelalter, mit dem Pejes und Schtreimel der Chassiden, kabbalistische Mystik, schmale Gässchen und windschiefe Häuser assoziiert werden. In diesem territorialen Paradigma der Literaturbetrachtung ist ein gleichsam orientalistisches Moment enthalten, eine exotistische Wahrnehmungsfolie, die ein aus der Zeit gefallenes, vermeintlich archaisches und ursprüngliches Judentum überhaupt erst konstruiert.

Dabei hat Bruno Schulz in dieser Ecke nichts verloren. Seine Literatur gehört durch und durch der Moderne und Avantgarde an, so dass es kaum eine Rolle spielt, dass Schulz in Drohobycz gedacht und gedichtet hat und nicht in Berlin, Wien oder Paris. Schulz ist ein Riese der literarischen Moderne, und so waren diese beiden Neuerscheinungen längst überfällig: Jerzy Ficowskis einschlägige Biographie des Autors und eine von Doreen Daume besorgte Neuübersetzung der "Zimtläden".

Bei diesem 1933 auf Polnisch erschienenen und 1961 zum ersten Mal ins Deutsche übertragenen Hauptwerk des Autors handelt es sich um einen Zyklus kürzerer jeweils in sich geschlossener Prosastücke. Nicht auszuschließen, dass Schulz bei dem Ort, in dem all diese Erzählungen spielen, bisweilen an seine Heimatstadt Drohobycz gedacht haben mag. Bestimmt nicht zufällig hat der Dichter aber auf einen Ortsnamen verzichtet, die Wirklichkeit seines Schreibens ist von einer höheren Potenz. Die Welt der "Zimtläden" gehört bis in die letzte Faser dem Traum, dem Mythos und der Illusion an.

Schulz, der sich in poetologischen Passagen immer wieder erklärt, ist orthodoxer Platoniker: "Wir halten das Wort üblicherweise für den Schatten der Wirklichkeit, für ihr Abbild. Richtiger wäre die umgekehrte Behauptung: Die Wirklichkeit ist der Schatten des Wortes." Was für Schulz, den Schriftsteller, bedeutet, dass seine Literatur buchstäblich so viel wert ist wie das Medium, auf dem er sie notiert: "Diese Wirklichkeit ist dünn wie Papier, und jeder Spalt verrät, dass sie bloß imitiert ist." Ist Bruno Schulz damit ein Vordenker der virtuellen Realität, hat er McLuhans Medienbegriff vorausgeahnt?

Wo die Wirklichkeit nichts anderes ist als ein Arsenal von Zeichen, lösen sich wie von selbst die Grenzen zwischen Organischem und Anorganischem auf und die Übergänge von Mensch zu Tier und Maschine. Die "Zimtläden" sind eine moderne Version der Ovidschen Metamorphosen, allerdings in pessimistischer Wendung. Schulz erzählt schließlich nicht von einer künstlichen Belebung zunächst toten Materials, sondern von der totengleichen Erstarrung des vermeintlich Lebendigen.

In der Erzählung "Die Nacht der großen Saison" trügt ein am Himmel vorüberziehender Vogelschwarm den Erzähler nur zunächst darüber hinweg, dass dieses Bild nichts als die hohnlachende Mahnung an einen längst zerstörten Naturzustand ist. Wie sich nämlich zeigt, sind diese Vögel "innen hohl und ohne Leben. Alle Vitalität war ins Gefieder übergegangen und ins Phantastische ausgeufert. Es war wie ein Museum ausrangierter Arten, wie die Rumpelkammer eines Vogelparadieses."

Worin besteht der Sündenfall, der diese Erstarrung und Aushöhlung zum Preis hatte? Vieles spricht dafür, dass Schulz hier die schockhafte Erfahrung einer Moderne literarisiert, die in den dreißiger Jahren längst ins polnische Galizien vorgedrungen war. Erdölfunde hatten zu einer regelrechten Klondike-Stimmung geführt, die mit neuen Förderanlagen auch ein bis dato unbekanntes Industrieproletariat entstehen ließ. Wie andere expressionistische Großstadtdichter auch reagiert Schulz sensibel auf die beginnende Urbanisierung und Maschinisierung.

In "Die Krokodilstraße" lässt er herrenlose Droschken vorüberrauschen und Eisenbahnen auf nicht festgelegten Routen fahren und überraschend aus Nebenstraßen auftauchen. Die Maschinen führen ein Eigenleben, während der Fluss aus Verkehr und Geld wie von selbst vorüberrauscht. Menschen führen in diesem Raum allenfalls einen Marionettenreigen auf, sie sind Teil einer "Simulation der Materie, die sich den Schein des Lebens umgehängt hatte".

Nur manchmal ragt aus dieser Simulation, gleichsam als Rest, der Mensch heraus. Wie Schulz solche Momentaufnahmen zeichnet, erinnert an Roland Barthes' fotografietheoretischen Begriff des punctum. Es handelt sich um das Aufblitzen eines vormals Lebendigen, das sich als melancholische Erfahrung des Unwiederbringlichen ins Bild fräst: "Nur manchmal", so heißt es in der "Krokodilstraße", "können wir in dem vielköpfigen Gewühl einen dunklen, lebendigen Blick erhaschen, eine tief in die Stirn gedrückte, schwarze Melone, ein halbes von einem Lächeln zerrissenes Gesicht, dessen Mund gerade etwas gesagt hat, ein vorgeschobenes und mitten im Schritt für immer erstarrtes Bein." Wenn die Fotografie für Barthes das Medium für die Wiederkehr der Toten ist, gilt das im selben Maß für die Literatur von Bruno Schulz.

Dass Doreen Daume das Prosastück mit "Krokodilstraße" übersetzt und damit die ältere deutsche Übersetzung korrigiert, in der es "Krokodilgasse" geheißen hatte, zeigt übrigens beispielhaft die sprachliche Sensibilität, mit der sie dem Text in seiner historischen und intellektuellen Relevanz begegnet. Die Differenz zwischen Gasse und Straße ist nichts anderes als die Differenz zwischen Schtetl und Stadt. Und Bruno Schulz ist alles andere als ein Chronist jüdischen Lebens in Galizien. Seine Moderne ist, um einen passenden Lektürekontext zu benennen, die Moderne der Zeitgenossen Kracauer und Benjamin.

Vielleicht ist der isolierte, "werkimmanente" Blick, der solche Verbindungen zwangsläufig übersieht, die größte Schwäche von Jerzy Ficowskis Schulz-Biographie. Man muss dem Autor das aber nicht zum Vorwurf machen. Ohne die unermüdlichen Nachforschungen des passionierten Biographen, der Bruno Schulz als Achtzehnjähriger einen schicksalsbedingt unbeantworteten Brief geschickt hatte, wäre Schulz, zunächst im poststalinistischen Polen, kaum bekannt geworden. Ficowski ist für Schulz, was Max Brod für Franz Kafka war: selbst ein Literat und vielleicht auch deshalb kein ganz objektiver Nachlassverwalter. Die 1967 zum ersten Mal erschienene Biographie wurde für eine polnische Neuausgabe im Jahr 2002 noch einmal überarbeitet, bevor sie unter dem Titel "Bruno Schulz - ein Künstlerleben in Galizien" nun auch auf Deutsch vorliegt.

Ficowski versucht sich darin in einer möglichst vollständigen biographischen Rekonstruktion und wartet mit einer Datenfülle auf, die sein Buch zu einer zentralen Quelle der Schulz-Forschung macht. Das mag auch die hagiographischen Züge seines zuweilen besessenen close reading entschuldigen. Und auch den offenbar eifersüchtigen Reflex, aus dem heraus Ficowski eher abschätzig über die Dichterin Debora Vogel, diese langjährige Briefpartnerin von Bruno Schulz, schreibt. Vogels literarisches Schaffen sei, so Ficowski, nicht weiter von Belang, sie selbst nur als wichtigste Muse des Autors interessant.

Das kann so nicht stehenbleiben. Debora Vogel, der Schulz seine "Zimtläden" zunächst fortlaufend in Briefen geschickt hatte, war, bis auch sie von den Nationalsozialisten ermordet wurde, selbst eine erstklassige Dichterin. Sie schrieb zum Teil auf Jiddisch, das sie sich selbst angeeignet hatte und wie eine Kunstsprache für radikale Textmontagen verwendete. Bruno Schulz ist nun endlich hervorragend ins Deutsche übersetzt worden - Debora Vogel sollte es noch werden.

STEFANIE PETER

Bruno Schulz: "Die Zimtläden". Aus dem Polnischen übersetzt von Doreen Daume. Carl Hanser Verlag, München 2008. 232 S., geb., 21,50 [Euro].

Jerzy Ficowski: "Bruno Schulz 1892-1942". Ein Künstlerleben in Galizien. Aus dem Polnischen übersetzt und für die deutsche Ausgabe bearbeitet von Friedrich Griese. Carl Hanser Verlag, München 2008. 185 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit großer Freude hat Rezensentin Stefanie Peter den Erzählband "Zimtläden" des polnischen Erzählers Bruno Schulz (1892-1942) aufgenommen, der endlich in einer neuen deutschen Übersetzung vorliegt. Der bei seiner versuchten Flucht aus dem Getto von Drohobycz 1942 von einem SS-Mann ermordete Autor ist nach Peters Ansicht als galizischer Dichter in Erinnerung geblieben, als ein Schriftsteller, der die Welt der jüdischen Schtetls in Literatur gefasst hat - ein Eindruck, dem sie nur widersprechen kann. Demgegenüber akzentuiert sie die Modernität dieses Schriftstellers, würdigt ihn als "Riesen der literarischen Moderne" und stellt ihn in den Kontext Benjamins und Kracauers. Sie erläutert die Rolle von Traum, Mythos und Illusion in seinem Werk, versteht die Wirklichkeit darin als "Arsenal von Zeichen" und findet in den Texten die literarische Gestaltung des Schocks der Moderne. Lobend spricht Peter auch über die Übersetzung von Doreen Daume, der sie hohe "sprachliche Sensibilität" bescheinigt.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Der vielleicht größte polnische Dichter des 20. Jahrhunderts, dessen Größe nun erst, dank der neuen Übersetzung, im Deutschen erkennbar wird." Andreas Dorschel, Süddeutsche Zeitung, 25.03.08

"Schulz ist ein Riese der literarischen Moderne, und so waren diese beiden Neuerscheinungen längst überfällig: Ficowskis einschlägige Biografie des Autors und eine von Doreen Daume besorgte Übersetzung. ... Bruno Schulz ist nun endlich hervorragend ins Deutsche übersetzt worden." Stefanie Peter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.03.08

"In seiner Bedeutung für die Weltliteratur wird Bruno Schulz mit Marcel Proust, Franz Kafka und James Joyce verglichen. ... Doreen Daume hat eine adäquate Sprache gefunden für das an Wortschöpfungen und atmosphärischen Bildern reiche polnische Original. Ihr Nachwort ist eine gut recherchierte Verlagsgeschichte des Buches im Vorkriegspolen." Arno Lustiger, Die Welt, 29.03.08

"Schlicht überwältigend." Daniela Strigl, Die Furche, 02.04.09