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Zu den heftig diskutierten Themen der zeitgenössischen Philosophie gehört die Frage nach der Lebenswelt. Oft erscheint sie als eine Welt des alltäglichen Handelns, aus der die Philosophie entspringt, ohne doch in ihr aufgehen zu können. Zum 90. Geburtstag von Hans Blumenberg präsentiert der Suhrkamp Verlag nun einen Nachlaßtext, in dem der Philosoph das Problem weit radikaler faßt. Blumenberg begreift die Lebenswelt nicht als faktische Welt oder Alltagswelt, sondern als die Welt, wie sie wäre, wenn es in ihr keine unbeantworteten Fragen, keine unbefriedigten Bedürfnisse, keine ungesicherten…mehr

Produktbeschreibung
Zu den heftig diskutierten Themen der zeitgenössischen Philosophie gehört die Frage nach der Lebenswelt. Oft erscheint sie als eine Welt des alltäglichen Handelns, aus der die Philosophie entspringt, ohne doch in ihr aufgehen zu können. Zum 90. Geburtstag von Hans Blumenberg präsentiert der Suhrkamp Verlag nun einen Nachlaßtext, in dem der Philosoph das Problem weit radikaler faßt. Blumenberg begreift die Lebenswelt nicht als faktische Welt oder Alltagswelt, sondern als die Welt, wie sie wäre, wenn es in ihr keine unbeantworteten Fragen, keine unbefriedigten Bedürfnisse, keine ungesicherten Aussagen gäbe. In dieser Welt der Selbstverständlichkeit ist Philosophie noch nicht möglich oder nicht mehr nötig. Von Kants "Ding an sich" über die Schwarzen Löcher der Astronomen bis hin zum Zustand wunschlosen Glücks reichen Blumenbergs Vergleiche, die auf immer wieder überraschende Weise beleuchten, worin die Schwierigkeiten liegen, die Lebenswelt überhaupt zum Gegenstand von Erkenntnis zumachen. Es zeigt sich, daß die Beziehung zwischen Theorie und Lebenswelt in einer Erfahrung des Verlusts gesucht werden muß: Wissenschaft ist nichts anderes als der Versuch, mit den Folgen des Verschwindens von Selbstverständlichkeit fertig zu werden.
Autorenporträt
Blumenberg, HansHans Blumenberg wurde am 13. Juli 1920 in Lübeck geboren und starb am 28. März 1996 in Altenberge bei Münster. Nach seinem Abitur im Jahr 1939 durfte er keine reguläre Hochschule besuchen. Er galt trotz seiner katholischen Taufe als 'Halbjude'. Folglich studierte Blumenberg zwischen 1939 und 1947 mit Unterbrechungen Philosophie, Germanistik und klassische Philosophie in Paderborn, Frankfurt am Main, Hamburg und Kiel. 1947 wurde Blumenberg mit seiner Dissertation Beiträge zum Problem der Ursprünglichkeit der mittelalterlich-scholastischen Ontologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel promoviert. Hier habilitierte er sich 1950 mit der Studie Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls. Sein Lehrer während dieser Zeit war Ludwig Landgrebe. Im Jahr 1958 wurde Blumenberg in Hamburg außerordentlicher Professor für Philosophie und 1960 in Gießen ordentlicher Professor für Philosophie. 1965 wechselte er als ordentliche

r Professor für Philosophie nach Bochum und ging im Jahr 1970 an die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, wo er 1985 emeritiert wurde. Blumenberg war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz (seit 1960), des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitgründer der 1963 ins Leben gerufenen Forschungsgruppe »Poetik und Hermeneutik«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2010

Wie soll man sich denken, woran man nicht denkt?

Nicht nur erhellend, sondern auch unterhaltend: Hans Blumenbergs Kritik der Kulturkritik schlägt den Bogen vom Naturzustand bis zu den verschiedenen Weisen akademischer Weltvermeidung.

Vor vierzehn Jahren ist er gestorben, der große Einzelgänger unter Deutschlands Philosophen, und doch hält er weiterhin seine Leser in Atem. So wie Hans Blumenberg zu Lebzeiten mit berückender Regelmäßigkeit Bücher veröffentlichte, in denen er seinen Zeitgenossen erklärte - ob sie dies zur Kenntnis nehmen wollten oder nicht -, wie sie wurden, was sie sind, so sind inzwischen umfangreiche Manuskripte und Briefwechsel - mit Carl Schmitt - aus dem Nachlass erschienen, die in dieselbe Kerbe schlagen.

Blumenberg bleibt auf eigene Weise lebendig, und bekräftigt wird dies durch die gerade aus dem Nachlass veröffentlichte "Theorie der Lebenswelt". Man muss allerdings mit den Nachlassverwaltern und -editoren hadern, denn sie zerren aus schier unerschöpflichen Papierstapeln nach schwer durchschaubaren Kriterien alle möglichen Texte ans Licht der Öffentlichkeit, die sich dann im feinsten Anzug, mit Leineneinband und weißem Umschlag, als Klassiker geben.

Immerhin: Weil Blumenberg unzeitgemäß war, kommt er heute als Zeitgenosse in Frage. Der Meister des Rückzugs kann gar zum Vorkämpfer avancieren, denn seine Theorie der Lebenswelt taugt auch als Anstoß, um den Geisteswissenschaften neues Selbstbewusstsein einzuflößen. "Immer wieder erweist sich als eine der Illusionen im Umgang mit Theorien aller Art", hält Blumenberg fest, "dass von dem Bestimmtheitsgrad der Begriffe, die sie einführen und verwenden, ihre Qualität schlechthin abhinge." Wogegen er die Einsicht in Stellung bringt, "dass die Strenge bei Bildung oder Zulassung von Begriffen eher Sterilität begünstigt als präzisen Fortgang" bewirkt, und für eine "Tugend verminderter Strenge" plädiert.

Die Pointe dieses Einwands liegt nicht in der Defensive, mit der die Geisteswissenschaftler ihre Geltungsansprüche mindern, sondern in der Attacke: Wer bei der Interpretation des menschlichen Lebens und der Lebenswelt allzu große Strenge walten lässt, wird seinem Gegenstand nicht gerecht. Es nützt nichts, wenn man sich mit hohen methodischen Standards brüstet und dabei so ahnungslos bleibt wie jemand, der ein Bild von Jackson Pollock klecksweise beschreibt.

Dass Blumenberg gerade in einem Buch über die "Lebenswelt" für die "Tugend verminderter Strenge" plädiert, ist kein Zufall. Denn diese Lebenswelt ist nicht von "Verständlichkeit", sondern von "Selbstverständlichkeit" geprägt; sie macht es uns schwer, uns mit strengem Schnitt und schnellem Schritt über uns selbst zu erheben; sie kommt als "unbegründete Totalität" allen Vernunftmenschen zuvor, die sich selbst und die Welt in den Griff nehmen wollen. Dabei ist sie freilich kein paradiesischer oder idyllischer Schutzraum gegen den eisigen oder frischen Wind der Emanzipation, keine "Wunschwelt", wie Blumenberg sagt, sondern eher Ausdruck einer "Benommenheit" oder Verlegenheit: dass wir irgendwo herkommen und uns erst nachträglich Gedanken darüber machen. Dann nämlich, wenn das Leben durcheinander gerät: "Wir denken, weil wir dabei gestört werden, nicht zu denken." Eine Theorie der Lebenswelt - auch diejenige Blumenbergs - trägt immer Züge eines Nachrufs: Sie handelt von einer Welt, die man theoretisierend doch schon verlassen hat.

Vieles, das in diesem Buch steht, ist Lesern Blumenbergs geläufig. Wer es kennt, wird sein behutsames Plädoyer für die Selbstbeschränkung und Selbsterhaltung der Vernunft auch in diesem Buch wiederentdecken; wer es mag, wird es sich nochmals anhören. Und doch fühlt man sich durch manches neu belehrt - und auch noch gut unterhalten.

Erhellend ist zum Beispiel, wie Blumenberg die "Lebenswelt" gegen eine andere Urwelt ausspielt: gegen den "Naturzustand", in dem sich die Menschen einmal befunden haben sollen. Ihn haben die Philosophen immer gerne benutzt, um dagegen das Bild der Moderne grell ins Licht zu setzen. Blumenberg unterzieht diesen Einsatz von Kontrastmitteln einer beißenden Kritik. So führt er die einen vor, die - wie Thomas Hobbes - einen Naturzustand postulieren, der nur mit Heulen und Zähneklappern zu ertragen ist; da erscheint die Antinatur, die Welt der Verträge und Verordnungen, schon wie der sichere Sieger.

Den umgekehrten Trick wenden nach Blumenberg jene an, die - wie Rousseau, der "Ahnherr" der "Rührigkeiten" - den "Naturzustand" in den blühendsten Farben schildern, um dann umgekehrt die Welt, die danach kommt, als sicheren Verlierer erscheinen zu lassen. Auch wenn Blumenberg den armen Rousseau allzu schlecht wegkommen lässt, ist er doch im Recht, wenn er zu all jenen gewollten Kontrasten auf Abstand geht und sich Fortschrittsfanatiker und Kulturkritiker aller Couleur gleichermaßen vom Leib hält. Er wählt einen anderen Leitfaden, um die Wege zu beschreiben, die aus den Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt herausführen. Dieser Leitfaden ist der Begriff der Generation, die Idee vom spannungsvollen Übergang mit offenem Ausgang, die Blumenberg sogar mit den Mitteln der Geschlechtertheorie entwickelt.

Erhellend und auch unterhaltsam sind die Miniaturen, die Blumenberg als Beispiele von Lebenswelten ausmalt. Er ist sich nicht zu schade, dem "Aquarienfreund" und dem "Hippie" einen Auftritt zu verschaffen; auch macht er sich lustig über jene bornierten "Lebenswelten", die in Universitäten entstehen können. So beschreibt er, wie "akademische Schulen" mit der Einnordung auf angebliche Selbstverständlichkeiten ihre eigene Verdummung betreiben oder wie die "Regelungsdichte" des Studiums so weit erhöht wird, dass in "modernen Spätkulturen" ein Zustand von Gedanken- und Erfahrungslosigkeit etabliert wird, von dem "primitive" Kulturen noch nicht einmal geträumt hätten. Man darf behaupten, dass solche Effekte heute häufiger auftreten als in den siebziger Jahren, als Blumenbergs Manuskript wohl entstanden ist.

Manches weiß man heute freilich besser als damals - so etwa, "wann und wo der Begriff ,Lebenswelt' entstanden ist". Dies bemerkt beiläufig der Herausgeber dieses Bandes, aber warum belässt er es bei diesem dezenten, eher nichtssagenden Hinweis, wenn doch hier das Titelwort in Frage steht? Es wäre keine Majestätsbeleidigung, sondern ein guter Dienst am Leser, wenn ihm verraten worden wäre, dass dieser Begriff nicht, wie Blumenberg noch meinte, 1924 von Husserl erfunden wurde, sondern schon früher von ihm wie auch einigen anderen - etwa Simmel und Heidegger - verwendet wurde. Die "Lebenswelt" rückt damit näher an eine Erfahrung heran, die in Blumenbergs Buch seltsamerweise nur eine kleine Nebenrolle spielt: die Erfahrung des Todes und des Krieges. Einige Erläuterungen solcher Art hätten dem Buch gutgetan: Man sollte Blumenberg nicht zur unantastbaren Statue erstarren lassen, sondern als Gesprächspartner am Leben erhalten.

DIETER THOMÄ

Hans Blumenberg: "Theorie der Lebenswelt". Herausgegeben von Manfred Sommer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 253 S., geb., 29,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Nicht gerade enthusiastisch begrüßt Rezensent Uwe Justus Wenzel diesen weiteren Band mit aus dem Nachlass zusammengestellten Texten des Philosophen Hans Blumenberg. Das liegt zum einen daran, dass diese in den siebziger Jahren entstandenen Texte sichtlich nicht in einer zur Veröffentlichung vorgesehenen Endfassung vorliegen. Zum anderen könne man, was Blumenberg hier nicht nur zur Theorie der Lebenswelt, sondern vor allem zum Zusammenhang bzw. der Unvereinbarkeit von Theorie bzw. Philosophie und den Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt zu sagen hat, präziser und prägnanter anderswo bereits nachlesen, nämlich in Blumenbergs großer Studie "Lebenszeit und Weltzeit". Umgekehrt heißt das nun nicht, dass Wenzel Blumenbergs Thesen im großen und ganzen nicht zustimmte, wenngleich er den Denker grundsätzlich doch ein wenig zu sehr in der Schuld des Lebenswelt-Denkers Edmund Husserl sieht.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Vieles, das in diesem Buch steht, ist Lesern Blumenbergs geläufig. Und doch fühlt man sich durch manches neu belehrt - und auch gut unterhalten.« Dieter Thomä Frankfurter Allgemeine Zeitung 20100726