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Die in der gegenwärtigen Diskussion allein auf den Islam projizierte Haltung des amoralischen Selbsteinsatzes muß in einen größeren Kontext gestellt werden. Was neuerdings Befremden und Ratlosigkeit auslöst, ist als politischer Existentialismus ein Bestandteil unserer eigenen Kultur, der auf eine zweihundertjährige Tradition zurückblicken kann. Michael Großheim stellt die philosophischen Wurzeln dieser "unheimlichen Welt absoluter Selbstlosigkeit" (Hannah Arendt) dar, indem er Texte und Ideen von Friedrich Schlegels Konzept der "Selbstvernichtung" über Hegels Gedanken der "Abstraktion von sich…mehr

Produktbeschreibung
Die in der gegenwärtigen Diskussion allein auf den Islam projizierte Haltung des amoralischen Selbsteinsatzes muß in einen größeren Kontext gestellt werden. Was neuerdings Befremden und Ratlosigkeit auslöst, ist als politischer Existentialismus ein Bestandteil unserer eigenen Kultur, der auf eine zweihundertjährige Tradition zurückblicken kann. Michael Großheim stellt die philosophischen Wurzeln dieser "unheimlichen Welt absoluter Selbstlosigkeit" (Hannah Arendt) dar, indem er Texte und Ideen von Friedrich Schlegels Konzept der "Selbstvernichtung" über Hegels Gedanken der "Abstraktion von sich selbst" und Georg Lukács' Ideal einer "völligen Aufgabe der Persönlichkeit" bis hin zu Gudrun Ensslins opferbereiter "heiliger Selbstverwirklichung" analysiert. Der Autor bietet eine historisch breit angelegte, materialreiche Studie über Phänomene der Selbstentfremdung und Formen ihrer Bewältigung. Sein Ziel ist nicht eine bloße Kulturkritik, die das Problem etwa als Verfallsphänomen der Moderne kennzeichnet, sondern die philosophisch fundierte Entzauberung der "unheimlichen Welt absoluter Selbstlosigkeit".
Autorenporträt
Geboren 1962; 1993 Promotion; 2000 Habilitation; derzeit Vertreter einer Professur für Philosophie an der Universität Rostock.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.01.2003

Ein Kampfbegriff wird besichtigt

Man glaubt, das Phänomen zu kennen: Es gibt Menschen, deren Identität lange in einer geistvoll-anregenden Schwebe verharrte, innerlich vielleicht vom Gefühl der Unwirklichkeit begleitet, vom heimlichen Leiden an der Überfülle der Möglichkeiten - und gerade sie sind es, die man eines Tages als Dogmatiker, als asketische Mönchstypen oder als Funktionäre wiedertrifft. Dann wird aus einem witzigen Friedrich Schlegel der Mann des Systems Metternich, aus dem koksenden Selbstmordkandidaten Johannes R. Becher ein stalinistischer DDR-Minister, aus einem genialen Rimbaud ein internationaler Waffenhändler. Es war Kierkegaard, der solche Prozesse eines Leidens an der reinen Möglichkeit erstmals beschrieben hat. Sie sind in der Moderne, in der biographische Muster durch die Erosion von Normen einen Unsicherheitsfaktor bekommen, vielfach zu beobachten. Daß man sich wieder für etwas opfern kann, daß es Gehalte gibt, die der auflösenden Bewegung standhalten, mag für den, der sie sich erringt, als Moment der Gesundung erscheinen, während die Umwelt nur die irrationale Konversion sieht. In der Gegenwart ist das Unheimliche solcher Prozesse noch deutlicher geworden. Wenn man den Psychotherapeuten glauben darf, dann nimmt unter den Identitätsstörungen die Tendenz zur Selbstverletzung einen immer größeren Raum ein - um den abgeflachten Affekten wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, braucht man nicht einmal mehr eine Doktrin, einen Krieg oder eine kommunistische Partei; die reine Unmittelbarkeit eines Schnittes ins eigene Fleisch tut es im Zweifelsfall auch. Das Gesamtpanorama der modernen "entfremdeten" Subjektivität, die in "blinde" Entscheidung umschlägt, hat Michael Großheim von der Romantik bis zur RAF aufgefächert (Michael Großheim: "Politischer Existenzialismus". Subjektivität zwischen Entfremdung und Engagement. IX, 534 S., geb., Philosophische Untersuchungen Bd. 9, Verlag J. C . B. Mohr, Tübingen 2002, 79,- [Euro]). "Politischer Existenzialismus" ist aber ein Kampfbegriff mit begrenztem Nutzen. Er transportiert an sich schon die Diagnose oder jedenfalls den Verdacht, daß es sich bei der fraglichen Entscheidung nicht um die Gehalte selbst, sondern eher um ein frivoles selbsttherapeutisches Unternehmen handelt, das ebensogut die entgegengesetzte Doktrin hätte wählen können. Zudem birgt der Begriff einen heimlichen Rationalismus. Gegen die "Entscheidung" macht er zumeist die "Vernunft" geltend. Aber Handeln bedeutet gerade, daß im gegebenen Moment noch nicht alle Konsequenzen vernünftig absehbar sind und ein Grundrisiko in jedem Falle bleibt - wäre es anders, dann hätte man eben nicht gehandelt, sondern ein Programm quasitechnisch umgesetzt. Es sind die blinden Flecken der leitenden Kategorien, die Großheims Befunde gelegentlich fragwürdig machen. Wer etwa Hugo von Hofmannsthal ausschließlich als selbstzerfasernden Tagebuchautor sieht, der muß seine kulturpolitische Aktivität nach 1914 als puren Sprung ins Kollektiv mißverstehen. Großheim zitiert einen Satz aus dem notorisch hypochondrischen Briefwechsel mit den Eltern: "Es gibt jedenfalls", schrieb der Dichter aus seinem Kriegsbüro, "keine Heilanstalt, die so nützlich wäre wie diese Existenz." Natürlich hatte Hofmannsthal andere und bessere Gründe für seine Position als diesen. Blendet man sie aus, dann muß man sich nicht wundern, wenn die Trumpfkarte des "Existenzialismus" immer sticht. Das gilt in noch höherem Maße für das Kapitel über Carl Schmitt und den "Dezisionismus". Mehr als Schmitt selbst kommen hier seine Kritiker zu Wort: Herbert Marcuse, Karl Löwith, Siegfried Marck. Sie alle waren Emigranten, und dieses Faktum hätte seinerseits der politischen Interpretation bedurft, die vor der Begrifflichkeit nicht haltmachen sollte. Kann es am Ende sein, daß man dem Gegner "politischen Existenzialismus" unterstellte, weil man über seine "inhaltlichen" Motive - in Schmitts Fall das Trauma des Versailler Vertrags und der französischen Rheinland-Besetzung - nicht diskutieren wollte? Es ist ein Laster auch der besseren akademischen Arbeiten von heute, daß die Ökonomie der angerissenen Themen, der zitierten Quellen, der diskutierten Standpunkte kaum mehr eine Rolle spielt. Auch bei Großheim herrscht Abundanz ohne Unterscheidung; aufgeblasene Nebenfiguren wie Kurt Hiller werden mit dem gleichen Respekt diskutiert wie die Meisterdenker der Epoche. Der Konzision der Darstellung hat es nicht genützt. Großheims Arbeit ist ein Steinbruch. Wer auf diesem Gebiet arbeitet, kann manchen guten Block finden; zuschneiden muß er ihn selbst.

LORENZ JÄGER

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Die Spaßgesellschaft und der "postmoderne Geist der Ironie" haben sich verabschiedet, hält Ludger Heidbrink fest - womöglich zugunsten einer neuen ökonomischen und kulturellen Depression. So gesehen erscheint Michael Großheims spannende Studie gerade zum rechten Zeitpunkt, weil sie die Vorgeschichte des postmodernen Ironismus unter die Lupe nimmt. Großheim, ein in Rostock tätiger Philosoph, hat Künstlerhaltungen des 19. und 20. Jahrhunderts untersucht: mit der Erfahrung der Selbstentfremdung ging ein "Hunger nach Ganzheit, nach Erlösung" einher, berichtet Heidbrink, der sich in "produktive Ironie" in Form einer spielerischen Selbstinszenierung oder in "rezessive Ironie" verwandeln konnte und den Rückzug in schutzgewährende Ordnungen und Ideologien förderte. Politischer Aktionismus, lautet nach Heidbrink die These Großheims, egal welcher politischer Couleur, zeuge von dem Verlangen nach einer größeren Lebensintensität. Heidbrink ist sehr angetan von Großheims "längst überfälligem Psychogramm des Intellektuellen Deserteurs", sieht aber am Ende der Analyse eine Chance auf Rehabilitierung der Ironie verschenkt. Die Rückkehr zum Ernst schafft noch "keinen Ausweg aus dem Dilemma der Moderne", warnt der Rezensent.

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