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Jula, Jules und die anderen haben es sich über die Jahre bequem gemacht in dem kleinen Ort unten im Tal. Doch eines Tages gerät ihre abgeschiedene Welt in Gefahr. In den umliegenden Wäldern werden »die Verantwortlichen« gesichtet, Gelbhelme mit Bauplänen für ein Erholungsgebiet. Eine Umsiedlung des Ortes steht bevor. Mit allem, was sie haben, lehnen die Bewohner sich auf gegen das Urteil. Aber Widerstand fordert Zusammenhalt, und ein jeder muss zuerst die eigenen Gespenster zähmen oder sie jetzt, im Kampf gegen das Verschwinden, endlich und für alle Zeit freilassen.
Bevor alles verschwindet
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Produktbeschreibung
Jula, Jules und die anderen haben es sich über die Jahre bequem gemacht in dem kleinen Ort unten im Tal. Doch eines Tages gerät ihre abgeschiedene Welt in Gefahr. In den umliegenden Wäldern werden »die Verantwortlichen« gesichtet, Gelbhelme mit Bauplänen für ein Erholungsgebiet. Eine Umsiedlung des Ortes steht bevor. Mit allem, was sie haben, lehnen die Bewohner sich auf gegen das Urteil. Aber Widerstand fordert Zusammenhalt, und ein jeder muss zuerst die eigenen Gespenster zähmen oder sie jetzt, im Kampf gegen das Verschwinden, endlich und für alle Zeit freilassen.

Bevor alles verschwindet ist ein Roman wie ein Funkenschlag. Eine Geschichte von dunklen Geheimnissen und letzten Hoffnungen, dabei ebenso tragisch wie absurd komisch.
Autorenporträt
Scheffel, AnnikaAnnika Scheffel, 1983 in Hannover geboren, ist Prosa- und Drehbuchautorin. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar 2013 und dem Robert Gernhardt Preis 2015. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Rezensionen
»... eine gespenstisch-märchenhafte Atmosphäre zwischen real und surreal, die Scheffel in ihrer eigenen poetischen und rhythmischen Sprache entstehen lässt.« Andrea Lüthi Neue Zürcher Zeitung 20130724

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Nicht so skurril wie das Debüt, doch fantastisch genug erscheint Andrea Lüthi Annika Scheffels neuer Roman über die Abwicklung eines Dorfes und ihrer Bewohner. Dass Scheffel eine Art Kammerspiel mit geschlossener, zeitlich unbestimmer Welt erschafft und große Themen, wie etwa Vergänglichkeit, angeht, geht für Lüthi in Ordnung. Scheffel überzeugt sie mit Stil, wuchtigen Bildern und einer poetischen Sprache.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.03.2013

Der kleine Weltuntergang
Widerstand im Winkel: Annika Scheffels arg unbedarfter Roman „Bevor wir verschwinden“
versammelt eine verschworene Dorfgemeinschaft zum Totentanz mit Händchenhalten
VON CHRISTOPHER SCHMIDT
Es war einmal eine junge Autorin, die hatte ein zauberhaftes Buch geschrieben. „Ben“, so der Titel des Debüts von Annika Scheffel, war ein Coming-of-Age-Roman von zeitgemäß verwuschelter Romantik, ein Einstand, der durch seinen frischen Ton für sich einnahm, durch den Mut zu Pathos und großem Gefühl, abgefedert mit Nonchalance, schalkhaftem Aplomb und eigenwilligem Sprachwitz. Kurzum: eine Entdeckung. Also wechselte diese zerzauste Prinzessin der Generation Praktikum vom Kleinverlag in die Königsklasse, zu Suhrkamp, wo nun ihr zweiter Roman „Bevor alles verschwindet“ erschienen ist – und plötzlich wirkt alles, was leicht und spielerisch war, angestrengt und ausgewalzt.
  Wie schon „Ben“ ist auch sein Nachfolger eine Art Erlösungsmärchen und erzählt von den Dämonen der Vergangenheit, die es auszutreiben gilt, ehe man ein neues Leben beginnen kann. Doch diesmal steht nicht ein einzelner verwunschener Held im Mittelpunkt, vielmehr geht es um eine Gruppe von Menschen, die sich ihrer Geschichte stellen muss. Schauplatz ist ein kleines Dorf, das von der Landkarte verschwindet und dessen Bewohner umgesiedelt werden. Die windschiefen Fachwerkhäuser, der kleine Wald und die Kirche, deren Kreuz die Dorfälteste stets auf Hochglanz poliert, sollen in einem riesigen Stausee versinken, eine Talsperre wird gebaut, und der Ort fällt ihr zum Opfer. „Devastierung“ lautet der Fachbegriff.
  Schon wohnen die meisten in der neuen Siedlung mit Blick auf den geplanten See und das entstehende Naherholungsgebiet. Nur ein kleines Häuflein Unbeugsamer lehnt sich noch auf gegen die Übermacht der „Gelbhelme“, die sie umzingelt haben und Haus für Haus niederreißen. Sie wollen bleiben bis zuletzt, Widerstand leisten, ein Zeichen setzen gegen die Vernichtung ihres Lebensraums, den Verlust ihrer Heimat. Bald verschanzen sie sich als verschworene Gemeinschaft alle zusammen im Rathaus, das als letztes der Abrissbirne weicht. Der lange Abschied wird zum Totentanz mit Händchenhalten.
  Es sind nur ein paar Häuser, die das Wasser verschlingt, doch für ihre Bewohner ist es der Weltuntergang. Endzeitstimmung herrscht im Geisterstädtchen, denn die Bauarbeiten wühlen nicht nur die Erde, sondern auch Vergessenes und Verdrängtes auf, die unerledigte Vergangenheit. Selbst die kleine Marie spielt lieber mit einem Totenkopf aus Plastik als im Kindergarten. Und als Mona, die spinnerte Dorfhexe von einem schwarzen Auto angefahren wird, in dem die bösen Männer mit den Aktenkoffern sitzen, glauben alle zu wissen, warum sich Flutung auf Blutung reimt und dass sich die Wunde nie wieder schließen wird, welche die Baggerzähne in die Seelenlandschaft reißen.
  Alles ist hochsymbolisch in diesem mit Märchen- und Bibelverweisen gespickten, gleichermaßen überinstrumentierten wie unterkomplexen Buch über den unersetzlichen Wert der Heimatscholle. Diese Diskrepanz stellt, um im Bild der Immobilienwirtschaft zu bleiben, die Hypothek von Annika Scheffels Roman dar. Er will ein bedrohtes soziales Biotop beschreiben und versumpft dabei in einer demonstrativen Metaphorik, die das Ökosystem des guten Erzählens umkippen lässt. Wie so oft dient der von der Außenwelt abgeschlossene Mikrokosmos als Parabel für das große Ganze. Doch produziert der Roman eine eigene Enge, so dass man jede seiner Figuren an die frische Luft schicken möchte, bevor sie an ihrer Symbolkraft ersticken. Da ist etwa der Bürgermeister Martin „Wacho“ Wacholder, der immer noch darauf wartet, dass seine Frau zu ihm zurückgekehrt. Einstweilen hängt er an der Flasche und verprügelt im Suff seinen Sohn, der, obwohl längst erwachsen, immer noch wie ein unmündiges Kind behandelt und im Zimmer eingesperrt wird. Immer häufiger büxt David aus, um sich mit einem Streuner zu treffen, der in einem verlassenen Hexenhäuschen im Wald lebt. Allerdings ist dieser Milo kein Mensch aus Fleisch und Blut, sondern eine Epiphanieoder, wie es einmal heißt, „ein Sorgenableiter“. Noch deutlicher an einer anderen Stelle: „Milo verkörpert das Vermissen“. Und er ist nicht das einzige Gespenst, das im Ort umgeht. Es gibt einen tollwütigen blauen Fuchs, der im Brunnen haust und angeblich die Bauarbeiter beißt, und als weitere Verbündete gleich zwei Löwen aus Stein, die gelegentlich lebendig werden.
  Alle paar Seiten haben diese Fabelwesen ihren zuverlässigen Auftritt, und dass der Programmpunkt strikt eingehalten wird, beweist vor allem, dass Annika Scheffel eine äußerst penible Spökenkiekerin ist. Aber auch die „realen“ Personen sind so untot geraten, dass sie anmuten wie Wiedergänger der Literatur und man bisweilen den Eindruck hat, John Irvings Hotel New Hampshire habe eine Sentimentalitäts-Filiale in der deutschen Provinz eröffnet. Die schönen Zwillinge Jula und Jules lernen, sich aus ihrer geschwisterlichen Symbiose zu lösen, die Rolle ihrer Mutter Eleni, deren verschwiegenes erstes Kind auf dem Friedhof liegt, beschränkt sich darauf,zu bangen, ob bei der geplanten Umbettung ihr Geheimnis gelüftet wird. Das Proteststück von Robert, dem Dorfschauspieler in seiner albernen Toga des Volkstribunen, wird nicht mehr rechtzeitig fertig, während er selbst schnell noch erwachsen werden sollte, bevor es seine kleine Tochter ist. Und Greta hat sich geschworen, ihrem Ernst in den Tod zu folgen, wenn das Wasser kommt.
  Sie alle müssen durch den Feuerreifen der Bewährung springen und sind doch nur Papiertiger, dressierte Kunstgeschöpfe. Man fühlt sich sehr unterfordertvon diesem Ensemble, dessen Herkunftswelt nicht die Provinz ist, sondern das Klischee. Lauter Skurrilitäts-Beamte tun hier Dienst nach Vorschrift, mit wenigen, dafür um so plakativeren Requisiten ausgestattet. So muss die Witwe Greta eine unsinnige Regieanweisung der Autorin befolgen und als surrealen Farbtupfer permanent das Motorrad ihres verstorbenen Mannes durch die Kulisse schieben. Und dieses Motorrad ist eben nicht nur rot, es ist „brachial“ rot, genauso wie der Schopf ihres Mannes nicht einfach schwarz sein darf, sondern „kohlrabenschwarz“.
  Das Kolorit wird halt immer zu dick aufgetragen. Nicht weniger enervierend wirken das Stilmittel der Parataxe und der gezielte Verstoß gegen die Satzlogik. In den schlechtesten Momenten („Kollegen hatte er keine, aber den Rest des Tages frei“) erinnert dieser poetische Infantilismus an Parodien wie: „Ihr Mann ist tot und lässt sie grüßen“ aus Goethes „Faust“. Insgesamt erschöpft sich das angestrebte magische Erzählen in Manierismen.
  Annika Scheffel schildert eine allzu heile Welt in der unheilen, und man fragt sich, wie wohl ein Flüchtling aus Afrika dieses von keinerlei kritischem Bewusstsein angekränkelte Buch aufnehmen würde. Einem so belasteten Thema wie Umsiedlung und Vertreibung ist mit verkitschter Menschelei über die Lebenslähmung im Speckgürtel jedenfalls kaum beizukommen. Gerade aus deutscher Sicht gäbe es ja einiges anzumerken zu Begriffen wie Blut und Boden. „Vor ihnen ruht ein bildschöner Weltuntergang im Glassarg“ heißt es einmal sehr treffend im Roman. Man könnte aber auch sagen: Schneewittchen hat sich entzaubert.
Es ist, als hätte John Irving eine
Sentimentalitäts-Filiale in der
deutschen Provinz aufgemacht
    
  
  
  
  
Annika Scheffel: Bevor alles verschwindet. Roman.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2013. 411 Seiten,
19,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2013

Über den Häusern schweben die Algen

Warten auf die große Flut: Annika Scheffel erzählt in ihrem Roman "Bevor alles verschwindet" von einem Dorf, das geflutet wird.

Die Männer, die sich der kleinen Ortschaft nähern, haben lange keine Namen. An ihrer Kleidung tragen sie ein Emblem. Später heißen sie Gelbhelme. Eine anonyme Macht, die auf einen kleinen Ort zurollt wie aus dem Nichts. Und tatsächlich beschreibt Annika Scheffels Roman "Bevor alles verschwindet" eine feindliche Übernahme: Der Ort soll geflutet werden. Und wenn am Ende dieses Romans das Wasser kommt, werden wir sie alle kennengelernt haben: Wacho, den Bürgermeister, der nicht weichen will; Jules und Jula, die achtzehnjährigen Zwillinge, die gegen das Projekt protestieren; und Mona, die Ortsverrückte. Ein knappes halbes Jahr begleiten wir diese Figuren durch ihre Untergangsstimmung.

Dass man immer weiterliest, obwohl man das Ende kennt, Kapitel für Kapitel, die alle die Namen der einzelnen Ortsbewohner tragen, hat etwas mit dem Blickwinkel zu tun: mit dem fast vollkommenen Ausschluss der Außenwelt und der Stille, die dadurch entsteht. Annika Scheffels Roman setzt ein wie ein früher Film des Regisseurs Lars von Trier, von dem man lernen kann, wie strenge Blickführung funktioniert: In "Dogville" (2003) nähert sich die Kamera quälend langsam aus der Vogelperspektive einem Dorf. Die Geduldsübung hält den ganzen Film über an, wenn die Kamera wie im Sturzflug auf den Ort hinunterstößt, wo keine Häuser stehen, sondern nur weiße Kreidestriche auf einem schwarzen Theaterboden die Grenzen zwischen den einzelnen Behausungen markieren. Auch Annika Scheffels Ort ist ein solches Laboratorium. Und doch wird ihr Guckkasten nicht zur Kopfgeburt.

Das ist eine Leistung, weil die Gefahr durchaus groß ist bei dieser hautnahen Begleitung der Figuren, die dem ersten Panoramabild auf das geflutete Dorf folgt, bevor die Zeit zurückgespult wird: Nur das goldene Kreuz des Kirchturms ragt darauf aus dem Wasser heraus, ganz wie man es etwa schon auf der Fahrt gen Süden kurz vor dem Reschenpass gesehen hat oder in anderen gefluteten Tälern. Man stoppt an einem still im Sonnenlicht glänzenden See, liest die Informationstafel, macht ein Foto von dem aus dem Wasser ragenden Ende eines Turms und fährt weiter, mit einem mulmigen Gefühl. Annika Scheffel durchbricht dieses Postkartenmotiv und taucht in die Vergangenheit eines solchen Orts ab wie unter eine Glasglocke, die jederzeit unter dem Druck der Wassermassen zerbrechen kann.

Der Roman könnte in der Lausitz spielen: 136 Orte mussten dort seit 1924 dem Braunkohlebergbau ganz oder teilweise weichen, über 25 000 Menschen verloren ihre Heimat, so die offiziellen Zahlen. Hier, heißt es in der Danksagung, habe die Autorin im "Archiv Verschwundener Orte" recherchiert, und es ist schön zu hören, dass es ein solches Archiv für Verschwundenes wirklich gibt.

Annika Scheffel wurde 1983 in Hannover geboren und schreibt neben Prosa auch Drehbücher. Mit "Ben" hatte die in Berlin lebende Autorin vor drei Jahren einen ersten Erfolg. Für ihren neuen Roman greift sie auf die Erinnerungen ihrer Großeltern zurück. Die Menschen in Annika Scheffels kleiner Ameisenwelt sehen die Abrissbagger anrücken, aber sie weichen nicht vom Fleck. Über Nacht sind die Häuser mit roten Strichen versehen, welche den künftigen Wasserpegel anzeigen. Die Dorfbewohner kommen in der einzigen Gaststätte zusammen. Sie versuchen, die Striche wegzuwischen. Und irgendwann steht auf dem Hauptplatz ein Glassarg mit dem Modell eines neuen Ortes, der woanders gebaut werden soll, mit einem Hallenbad, einer Seilbahn und einem Teich mit Mandarinenten, viel schöner als der alte Ort, durch den nur die Traufe fließt. Der Fluss ist urig, bevor er zum See anschwillt, mit Laubbäumen und altem Gehölz zum Klettern. Und glaubt man Marie, einem aufgeweckten Kindergartenkind mit viel Phantasie, wohnt dort auch ein blauer Fuchs.

Dass ein Hauch magischer Realismus durch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur weht, ist erstaunlich genug. Gerade jüngeren Autorinnen, wie etwa auch Sabrina Janesch, scheint das besonders bei der Begegnung mit der Großelterngeneration zu passieren, vielleicht, weil deren Leben unfassbar entrückt wirkt. In Annika Scheffels Roman haben solche dezent eingesetzten wundersamen Elemente eine wichtige Funktion für das große Geschehen: Sie spannen um diese untergehende Ortschaft ein Netz, von dem man gar nicht recht sagen mag, ob es bedrohlich oder vertrauenerweckend ist. Und je tiefer man eindringt in die verschiedenen Lebensverhältnisse dieser Menschen, desto klarer wird, dass hier Sehnsuchtswesen Gestalt annehmen, manchmal erschaffen von rührender Naivität: Der blaue Fuchs, an den nicht nur Marie, sondern das ganze Dorf wie selbstverständlich glaubt, beißt mit Vorliebe die anrückenden Gelbhelme; und Milo, ein zerlotterter, schlaksiger Junge, der über Nacht da ist, wieder verschwindet und im Wald wohnt, erfüllt Davids Wunsch nach Zuneigung.

David lebt, seitdem die Mutter wegging, mit seinem Vater, dem Bürgermeister, allein. Diese vom Vater tyrannisch und hilflos geführte Wohngemeinschaft - David ist bereits 27 und wird hin und wieder eingesperrt - ist nur eines der vielen kleinen Dramen, die sich im Laufe dieses Romans entfalten und die man mit zunehmendem Interesse verfolgt; Dramen, in denen es immer um die Schwierigkeit geht loszulassen. Nicht nur wohnen viel zu alte Kinder noch immer bei den Eltern. Auch Witwen können vom Verstorbenen nicht Abschied nehmen. Die Toten und Flüchtigen bestimmen seit langem den Alltag der Lebenden über jedes Maß an Trauerzeit hinweg. Das Dorf scheint überreif für den Untergang. Von gesunder Aufbruchstimmung ist aber kaum etwas zu spüren: "Der Ort schläft, während an den Mauern gekratzt wird."

Annika Scheffel erzählt von der nahenden Vernichtung in einfachen, klaren, unpathetischen Sätzen. Sie begibt sich mit Ruhe und Würde in die verschiedenen Köpfe dieser Menschen. Mitunter sehen wir dann eine Frau in blindem Aktionismus das Kreuz der Kapelle ein letztes Mal putzen oder beobachten David bei seinen merkwürdig schlafwandlerischen Spaziergängen im gerodeten Wald, während der Mond fahl scheint. Und würde man nicht immer wieder darin erinnert, könnte man die Flutung des Orts, diese unvorstellbare Verwandlung eines Stücks Land, fast vergessen. "Hier wächst nichts mehr, über diesen Boden werden bald Algen schweben." Und tatsächlich überwältigt einen dann der Schutt des ersten zerstörten Hauses mit überraschender Wucht.

Wie kleine Felsbrocken stemmen sich in dieser Prosa Familienschicksale gegen ein großes Gebirgsmassiv. Dass dies beim Lesen einen immer stärker werdenden Sog entfaltet, liegt auch an der Farb- und Lichtdramaturgie, mit der Annika Scheffel arbeitet. Noch vor dem Eintreffen der Wassermassen ist alles Licht aus dem Ort gewichen. "Bevor alles verschwindet" ist märchenhaft und zugleich ein sehr gegenwärtiges Buch.

ANJA HIRSCH

Annika Scheffel: "Bevor alles verschwindet". Roman.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 412 S., geb., 19,95 [Euro].

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