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Intelligenz, Motivation und Fleiß: Der Neurobiologe Gerhard Roth hat ein Buch über Bildung geschrieben – ohne Reduktion aufs Biologische
Wer dachte, Gespräche über Bildung führten in Deutschland zwangsläufig irgendwann zu Goethe und Kant, Schleiermacher und Humboldt, der irrt. Eher hat man mittlerweile den Eindruck, dass sich früher oder später Begriffsungetüme aus der Neurobiologie auftun: der Phophatase-Inhibitor zum Beispiel, die Amygdala und, unvermeidlich, die Synapsen. Die Hirnforscher mischen fleißig mit im deutschen Bildungsdiskurs. Bei Elternabenden und im Lehrerzimmer werden Meinungen nunmehr gern mit vermeintlichen Erkenntnissen aus den Neurowissenschaften beglaubigt. Das Gehirn, das ist halt so.
Vor allem die vielen Ratgeber für „hirngerechtes“ Lernen sind oft obskur, wie der Bremer Forscher Gerhard Roth beklagt. Er muss es wissen, er ist selbst eine der Koryphäen der Neurobiologie. Es geistert zum Beispiel die Idee herum, man solle und könne durch irgendwelche Übungen ein Ungleichgewicht zwischen den beiden Hirnhälften ausgleichen. So etwas, schreibt Roth, rufe bei seriösen Forschern nur Kopfschütteln hervor. Roth betrachtet angenehm kritisch und nüchtern die Rolle seiner eigenen Disziplin. Und er räumt ein, dass die meisten Erkenntnisse über Lernprozesse, ihre kognitiven und emotionalen Bedingungen, dann doch aus der Psychologie kommen – und nicht aus der Neurobiologie.
Zu wissen, wie das Gehirn aufgebaut ist und wie es biochemisch funktioniert, ist nichts Ehrenrühriges; es hilft Lehrern und Erziehern am Ende aber nicht unbedingt weiter. Lernen ist eben weniger ein rein technischer als ein vielschichtiger, sozialer Vorgang. Die Hauptthese von Roths Buch ist, dass es beim Lernen und Lehren auf die Persönlichkeit ankommt – auf die „höchst individuelle Art des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens, Wollens, Handelns“ und auf die „Bindungs- und Kommunikationsfähigkeit eines Menschen“.
Das alles ist, wie man weder wertend noch hämisch sagen muss, für die Neurobiologie ein bisschen zu viel und zu komplex. Dass sie dennoch so prominent in Bildungsdebatten vertreten ist, lässt sich nicht nur damit erklären, dass Wissenschaftler wie Manfred Spitzer, Gerald Hüther oder Joachim Bauer geschickt und vehement öffentlich auftreten. Es ist wohl auch die Folge einer Vertrauens- und Legitimationskrise der pädagogischen Disziplin. Wenn Lehrer und Erziehungswissenschaftler betonen, man müsse Kinder motivieren, dürfe aber auch das Üben nicht vernachlässigen, klingt es höchst trivial. Wenn Naturwissenschaftler das Gleiche sagen, dazu aber noch den Längsschnitt eines Gehirns zeigen, wirkt es wie eine große Erkenntnis. Für die Neurobiologen hat das den angenehmen Nebeneffekt, dass ihre Grundlagenforschung auf diese Weise praxisnah und nützlich erscheint.
Auch Gerhard Roth schildert in seinem Buch „Bildung braucht Persönlichkeit“ präzise den Aufbau des menschlichen Gehirns. Er schreibt über Neuromodulatoren und über die genetischen Grundlagen der Intelligenz. Das ist, weil mit höchster Kompetenz und halbwegs allgemeinverständlich formuliert, interessant und zum Mitreden auch für Pädagogen gut. Für Roths Hauptthese und den Anspruch, etwas beizutragen zu besseren Schulen, ist das alles aber gar nicht so wichtig, man könnte sogar sagen: verzichtbar.
So wenig wie sich Bildung auf neurobiologische Prozesse reduzieren lässt, wird man allerdings Gerhard Roth gerecht, wenn man ihn nur als Gehirnforscher versteht. Er hat auch Philosophie studiert, Germanistik und Musik; seit einigen Jahren ist er Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes. Die Studienstiftung fördert begabte Studenten aller Fachrichtungen, und wenig ist den Studienstiftlern so zuwider wie der enge Horizont eines Fachidioten.
Für eine umfassende Bildung muss man etwas tun. Roth nennt, jenseits der Inhalte, drei Faktoren: Intelligenz, Motivation und Fleiß. Wie sie zusammenspielen und in den Schulen gefördert oder gehemmt werden, ist ein weites Feld. Für Roth kommt es stark auf die Persönlichkeit der Lehrer und deren Beziehung zu den Kindern an. Er fordert: Die Schüler sollten ihre Lehrer jeden Tag persönlich und unter vier Augen sprechen können.
Roth wirbt für Ganztagsschulen, für den Wegfall des 45-Minuten-Takts im Unterricht und für mehr Teamarbeit der Lehrer. Alle Pädagogen, mit denen er in den vergangenen Jahren zu tun gehabt habe, hätten ihr Unterrichtskonzept allein erarbeitet. „Das bedeutet: viele Lehrer, viele Unterrichtskonzepte! Dies verbindet sich mit der unter Lehrern noch immer verbreiteten Neigung, sich nicht in die Karten schauen zu lassen.“ Wenn jeder einzelne Lehrer durch Versuch und Irrtum versucht herauszufinden, wie ein erfolgreicher Unterricht aussieht, sei das nicht sehr effektiv. Womöglich sei das die Folge eines „schlechten geisteswissenschaftlichen Erbes“ – jeder Philosoph und jeder Pädagoge glaube, er müsse die Welt neu erfinden.
Obwohl Gerhard Roth an dieser Stelle wieder aus der Position eines Naturwissenschaftler schreibt: Für sein pädagogisches Reformprogramm ist es wirklich nicht entscheidend zu wissen, wo im Gehirn nun der orbitofrontale Cortex liegt und wo der dorsolaterale prämotorische Cortex. TANJEV SCHULTZ
GERHARD ROTH: Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011. 355 Seiten, 19,95 Euro.
Wenn man wissen muss, wo der
orbitofrontale Cortex liegt, ist die
Pädagogik in der Legitimitätskrise
Für Ganztagsschulen: Hirnforscher und Studienstiftungs-Präsident Gerhard Roth Foto: Klett-Cotta
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