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Wenn Dichter aus ihrem Wolkenkuckucksheim herabsteigen und sich mit ihrer Umgebung beschäftigen müssen, entstehen Berichte, wie man sie hier lesen kann: Als der Peruaner César Vallejo 1923 nach Paris kam, verwirklichte er einen Traum - die "Alte Welt" kennenzulernen. Tatsächlich sollte er seine Heimat bis zu seinem Tod 1938 nicht mehr wiedersehen. Seinen Lebensunterhalt in Europa verdiente er sich als Korrespondent lateinamerikanischer Zeitungen. Und er kam herum: Auf seinen Reisen kreuz und quer durch den Kontinent, zwischen Russland auf der einen und Spanien auf der anderen Seite, und immer…mehr

Produktbeschreibung
Wenn Dichter aus ihrem Wolkenkuckucksheim herabsteigen und sich mit ihrer Umgebung beschäftigen müssen, entstehen Berichte, wie man sie hier lesen kann: Als der Peruaner César Vallejo 1923 nach Paris kam, verwirklichte er einen Traum - die "Alte Welt" kennenzulernen. Tatsächlich sollte er seine Heimat bis zu seinem Tod 1938 nicht mehr wiedersehen. Seinen Lebensunterhalt in Europa verdiente er sich als Korrespondent lateinamerikanischer Zeitungen. Und er kam herum: Auf seinen Reisen kreuz und quer durch den Kontinent, zwischen Russland auf der einen und Spanien auf der anderen Seite, und immer wieder in Paris, entstanden diese Texte. Vallejo war ein scharfer Beobachter von für ihn fremden und seltsamen Menschen und Ereignissen. Und ein Dichter, dem ein Gespür für Wahnwitz und Fantastik einen ganz neuen Blick auf überraschend aktuell und vertraut wirkende europäische Themen erlaubt.
Autorenporträt
César Vallejo, geboren 1892 in Santiago de Chuco (Peru), lebte ab 1923 in Europa und starb 1938 in Paris. Er war ein bedeutender Vertreter der spanischsprachigen Avantgarde, schrieb Prosa, Theaterstücke und vor allem Gedichte.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.11.2018

Wer sich als Erster ergriffen zeigt, ist der modernere
Er dachte grenzenlos und pfiff auf die Nationalsprachen: Die Korrespondentenberichte des peruanischen Lyrikers César Vallejo aus der Alten Welt

"Wird die Parlamentskommission heil von ihrer Marokko-Reise zurückkehren oder in Unfälle verwickelt werden? Wird die im Wald von Sénard entdeckte Leiche identifiziert werden oder anonym bleiben? Wird Monsieur Painlevé nach dieser so anstrengenden Woche heute in Versailles und in Sens wirklich zwei verschiedene oder aber zweimal die gleiche Rede halten? Werden die Feuerwerkskörper, die die Mädchen und Damen von Beauvais zu Ehren von Jeanne Hachette abfeuern, sich als Krepierer erweisen oder lange Flugbahnen zurücklegen? Wird der Franc steigen oder sinken? Soll man morgen mit einem Stock oder einem Regenschirm aus dem Haus gehen? So viele Fragen an nur einem Tag." Gestellt hat sie ein rasender "Paris-Midi"-Reporter an einem Augusttag des Jahres 1925.

Viele Fragen, findet auch der seit 1923 in Paris lebende peruanische Lyriker César Vallejo. Er, der zur selben Zeit aus der "Alten Welt" berichtete, erkennt im zitierten Artikel den "modernen, schnellen, anspielungsreichen und kinohaften Pariser Journalismus". Andererseits, ergänzt er, lebe man tatsächlich in einer ungemein fragelustigen Zeit. Alles werde problematisiert, alles gebe Anlass zu Spekulationen. Hat Donald Trump "would" oder "wouldn't" gesagt? Haben die Brasilianer einen rechten Pöbler oder einen Nationalhelden gewählt? Und welche Auswirkungen hat der digitale Geschwindigkeitsrausch auf unser Leben? Man könnte meinen, Vallejo schriebe über die Schreckgespenster unserer Tage.

Ein Angstgebilde der zwanziger Jahre war der durch das Automobil freigesetzte kinetische Schub in den Städten. Auch der Autor aus der Neuen Welt, der in Paris Autosalons und Nautik-Treffen besucht, erlebt den Schock seiner Epoche. Allerdings nimmt er's gelassen: "Man darf die Schnelligkeit nicht mit Oberflächlichkeit verwechseln, das ist sehr wichtig: Zwei Menschen betrachten ein Gemälde - wer sich zuerst ergriffen zeigt, ist der modernere."

Fast hundert Jahre ist es her, dass der damals Dreißigjährige seinen Landsleuten den nouveau cri und auch den gratin von Paris präsentierte. Dem Zeitgeist begegnet er mit dem sozialen Gewissen des Asphaltliteraten und dem philosophischen Gespür des Flaneurs. Etwa dreihundert Artikel sind zwischen 1923 und Vallejos Todesjahr 1938, in Paris, Madrid, Moskau und anderen Städten Europas entstanden. Eine kleine Auswahl präsentiert nun Heinrich von Berenberg mit dem Untertitel "Berichte aus Europa 1923-1930".

Nicht nur als erster deutscher Übersetzer von Roberto Bolaño hat sich der Berliner Verleger um die Literatur aus Lateinamerika verdient gemacht. Bolaño ist aber insofern eine Referenz, weil sich der lange verkannte Chilene in seinem Roman "Monsieur Pain" direkt auf Vallejo bezieht. Ein Mesmerist soll den seelenverwandten Schriftsteller darin von einer seltsamen Schluckauferkrankung heilen. Wie Bolaño führte auch Vallejo ein rastloses Leben im politischen Exil und starb dort, aufgerieben von Liebestragödien, Krankheitsschüben und andauernder Armut, noch relativ jung.

Die Geschwindigkeit war für Vallejo tatsächlich weniger das Problem seiner Epoche als die sozialen Spannungen, die der boomende Industriekapitalismus verursachte. In seinem Text über den Pariser Automobilsalon, den er 1926 für die Zeitung "Mundial" verfasste, heißt es klassenkämpferisch: "Wenn man über dem Veranstalten von Autoausstellungen nicht daran denkt, die Gewinne des Unternehmens, das die Autos herstellt, gerecht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufzuteilen, wird es nichts nützen, dass der Mensch zum Mond reist oder gebratene Sterne isst oder auf drahtlosem Weg die Streichmusik der Seraphim hört. Es werden sich weiterhin Liebespärchen auf den gepolsterten Sitzen großer Renaults rekeln und küssen, während andere sich, bevor der Hunger sie umbringt, das Leben nehmen, indem sie sich just vor die Räder eines dieser vollkommenen auf Hochglanz polierten Autos werfen."

Vallejo hatte sich weltanschaulich entschieden. Aber er präsentiert in mehreren Berichten die politischen Extreme seiner Epoche: Kommunismus und Faschismus. Obwohl sich Vallejo Anfang der dreißiger Jahre wegen kommunistischer Umtriebe aus Paris fernhalten und nach Spanien ausweichen musste, entwirft er eine pazifistische Vision, die sowohl an die alte Idee von Weltliteratur als auch an Globalisierung avant la lettre denken lässt. Den Nationalismus sieht er vor allem an seinen Grenzen scheitern. Der Grenzmensch pfeift auf Nationalsprachen und spricht von allem ein bisschen. "Ein Aufenthalt von nur wenigen Jahren an den vielfältigen Grenzen der Nationen dieser Welt würde den Staatsmännern überaus gut tun. So würden die Kommunisten vielleicht irgendwann weniger kommunistisch und die Faschisten weniger faschistisch denken. Und die Menschen menschlicher."

Der kleine Band ist im flotten Ton eines Lebenskünstlers verfasst. Er bietet ein interessantes Spektrum von Themen, die Ende der zwanziger Jahre die Gemüter bewegten - vor allem die der Intellektuellen. Auf einem Lateinamerika-Kongress reflektiert Vallejo das Verhältnis von Alter und Neuer Welt ("Wir sind bloß eine Außenstelle Europas") und innerhalb der Neuen Welt wiederum das zu den autochthonen Kulturen. "Denn dort könnten die Europäer Dinge finden, die in intellektueller Hinsicht interessant sind, in jedem Fall tausend Mal interessanter als das, was unser hispanoamerikanisches Denken zu bieten hat."

Auch Orient und Okzident werden als Gegensatzpaar in die Mangel genommen, was uns schnurstracks in heutige Konflikte führt. "Henri Massis, der mit Maurras der Ansicht ist, Asien beabsichtige Europa zu vernichten, während andererseits für den strengen französischen Orientalisten Louis Massignon der Orient von Europa bloß Rechenschaft für die Zerstörung seiner Seele verlangt." Und dann gibt es noch den uns heute fremd gewordenen Gegensatz zwischen spanischer und französischer Kultur. Spanien wird in Vallejos Schilderungen als die weiche Seite der europäischen Moderne beschrieben. Hier lebt der Mensch noch mit Würde. Zeigt der technische Fortschritt in Paris seine unmenschliche Fratze, heißt es über die Madrider Züge und Straßenbahnen, sie rollten "gutmütig, klug, demütig, brüderlich, respektvoll und menschlich" dahin.

Was gibt es noch zu berichten aus der Alten Welt? "Picasso war in Begleitung seiner russischen Gattin unterwegs, eines fatalen Monoplans von einer Frau." Er selbst sei dem Autor "hastig ausschreitend" erschienen, "wie ein Holzhändler, der die Geldbörse auf dem Telegrafenamt hat liegen lassen". Vallejo kann auch Klatsch und Satire. Unter dem Strich gibt sich hier aber ein freier Radikaler zu erkennen, der trotz seines sozialen Engagements nie zum Parteigänger einer politischen Ideologie wurde. "Ich bemühe mich", schreibt er während einer Moskau-Reise 1929, "um eine zustimmende, positive Haltung, wenn es darum geht, zu denken und zu beurteilen. Mein Eindruck ist, dass meiner scheinbaren intellektuellen Anarchie und meinem ideologischen Chaos voller Widersprüche und Inkonsequenzen eine organische lebendige Einheit zugrunde liegt."

Dieser Eindruck vermittelt sich auch dem Leser der bald hundert Jahre alten Texte aus einer Alten Welt mit vielen neuen Problemen.

KATHARINA TEUTSCH

César Vallejo: "Reden wir Spanisch - man hört uns zu." Berichte aus Europa 1923-1930.

Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg Verlag, Berlin 2018. 133 S., geb. 22,- [Euro].

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