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Ein Ereignis: Ilse Aichinger »goes Pop« und entwickelt eine ganz neue Art von Autobiographie. Sie verknüpft die Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Verhängnis ihrer Familie. In verblüffenden Kreuzungen aus Populärkultur, Denken und Erinnerung spannt sie den Bogen vom Stummfilm bis zu den Beatles: Blitzlichter der Freiheit.

Produktbeschreibung
Ein Ereignis: Ilse Aichinger »goes Pop« und entwickelt eine ganz neue Art von Autobiographie. Sie verknüpft die Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Verhängnis ihrer Familie. In verblüffenden Kreuzungen aus Populärkultur, Denken und Erinnerung spannt sie den Bogen vom Stummfilm bis zu den Beatles: Blitzlichter der Freiheit.
Autorenporträt
Ilse Aichinger wurde am 1. November 1921 in Wien geboren. 1948 veröffentlichte sie ihren Roman über die Kriegszeit in Wien, 'Die größere Hoffnung', und ihre ersten berühmten Geschichten. Für ihren Roman, ihre Gedichte, Hörspiele und Prosastücke, die in viele Sprachen übersetzt wurden, erhielt sie zahlreiche literarische Auszeichnungen, u. a. 1952 den Preis der Gruppe 47, 1982 den Petrarca-Preis, 1983 den Franz-Kafka-Preis, 1995 den Österreichischen Staatspreis für Literatur und 2015 den Großen Kunstpreis des Landes Salzburg. Ilse Aichinger starb am 11. November 2016 im Alter von 95 Jahren.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001

Mit Laufbildern gegen das Verschwinden
Kino als Erlösung: Ilse Aichingers Rundgang durch die Filmgeschichte liest sich als Chronologie des Glücks / Von Walter Hinck

Einer der poetischen Grundsätze Ilse Aichingers lautet: Keine Zusammenhänge herstellen, wenn es sich vermeiden läßt! Eine wenig nützliche Maxime für herkömmliches autobiographisches Schreiben. Aber die kontinuierlich erzählte Lebensgeschichte ist ohnehin Ilse Aichingers Sache nicht. Schon in ihrem Band "Kleist, Moos, Fasane" (1987) überließ sie ihre Erinnerungen der kleinen Prosaform und vergegenwärtigte die Jahre zwischen 1950 und 1985 in tagebuchartigen Stimmungsbildern und Reflexionen. Unaufhebbar blieben Einsamkeit und Trauer - sie erklärten sich aus einem Satz wie diesem: "Ich kann getröstet nicht leben."

Da überrascht in ihrem neuen Band "Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben" bei der Beschreibung der Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg das Eingeständnis: "Die Erlösung war das Kino." Die Wiener Schülerin, nach dem Vokabular der Zeit "Halbjüdin", war von einer "Kinosucht" ergriffen, die selbst "Nazifilme" in Kauf nahm. Bis heute hat das Kino seine Faszination nicht verloren - ein großer Teil der Beiträge zum neuen Band besteht aus Prosastücken über alte Filme und über Bildbände des Fotografen Bill Brandt, die Ilse Aichinger seit dem Oktober 2000 für die Wiener Tageszeitung "Der Standard" schrieb.

Die Filmkommentare lassen das Genre der Filmbesprechung weit hinter sich. Sie halten Lebenssituationen, innerhalb derer die Filme gesehen wurden oder wiedergesehen werden, fest; sie sind voller selbstbiographischer Signale. So korrespondieren sie unmittelbar mit dem ersten Teil des Bandes, der autobiographische Skizzen, Kindheits- und Jugenderinnerungen aus der Zeit bis 1945 vereinigt. Aus dem episodischen oder schnappschußhaften Charakter der Prosastücke überhaupt versteht sich der Untertitel des Bandes.

Die Vorbemerkung zum zweiten Teil berichtet von dem unglaublichen Sog, in den die neue Kunstform des zwanzigsten Jahrhunderts kunstempfängliche junge Menschen wie Ilse Aichinger hineinzog. Die Erinnerungen an dieses Kinofieber wollen sich aber nicht zu einer "Chronologie des Glücks" fügen, und die Autorin durchdenkt an dieser Stelle die Bedingungen der Erinnerung überhaupt.

"Die Erinnerung splittert leicht, wenn man sie zu beherrschen versucht." Im Gegensatz zum Atem - ein Atemzug folgt dem anderen, "vom ersten bis zum letzten" - sei die Erinnerung ohne Chronologie. Sobald sie auf Chronologie dränge, komme sie in Gefahr, Scheinkonsequenzen zu verfallen. Das Leben lasse sich nicht einfach "vor- oder zurückblättern"; wohl aber hätten "Blitzlichtaufnahmen" mit der Erinnerung zu tun. Von "Blitzlichtern auf ein Leben" spricht Ilse Aichinger, weil ihr "vor allem an der Flüchtigkeit liegt". Zu sehr habe sie die "eigene Existenz als Überrumpelung begriffen". So begnügt sich ihre Lebensdarstellung mit einem autobiographischen Mosaik.

Schon den Band "Kleist, Moore, Fasane" eröffneten Erinnerungen an die frühe Wiener Zeit. Jetzt ergänzt sich das Bild der Kindheit und Jugend. In kleinen Porträts tauchen Mitschülerinnen auf: die strebsame und auf peinliche Sauberkeit bedachte Tochter des Kohlenhändlers, die sich später in der Badewanne ertränkte; die Tochter des Germanisten Josef Nadler, des Vaters der überaus problematischen literaturwissenschaftlichen Stammeskunde, die sich am Ende "zu Tode gesoffen hat"; oder die Tochter einer Altistin und eines jüdischen Vaters, die sich unglücklich in einen SS-Mann verliebte und schließlich den Gashahn aufdrehte - kleine Mädchentragödien auf dem Hintergrund der sich verfinsternden Zeitgeschichte.

Wie Menetekel zeichnen sich in den autobiographischen Skizzen zwei Ereignisse ab. Den Vater der Großmutter, einen Eisenbahnbeamten, versetzte man für eine Zeitlang als Stationsvorsteher in einen polnischen Ort mit einem noch unverfänglichen Namen, nach Auschwitz - die Großmutter und die Schwester der Mutter kamen im Lager Minsk um. Vor dem Krieg erhielten Ilse Aichinger und ihre Zwillingsschwester Helga Besuch von einem freundlichen Arzt, der sich als Zwillingsforscher vorstellte; sein Name war Dr. Mengele - der zuvorkommend-taktvolle Herr sollte der berüchtigste der an Menschen experimentierenden Lagerärzte werden.

Antisemitische Stimmung in Wien bewog im Jahre 1927 den Burgtheater-Direktor, eine geplante Inszenierung des Schauspielers Max Ophüls abzusagen. Ophüls' Antwort auf die Schnödigkeit Wiens war der Film, über den die sonst nicht zum Jubeln geborene Ilse Aichinger fast ins Schwärmen gerät: "Liebelei" mit Magda Schneider, Luise Ullrich, Gustaf Gründgens, Paul Hörbiger und Wolfgang Liebeneiner. Den "schönsten Film aus 100 Jahren Kino" nennt sie ihn, obwohl er - wie sie weiß - kein Film für Cineasten ist. Vieles mag zusammenkommen, daß gerade "Liebelei" zu ihrem Lieblingsfilm wurde: das Wienerische des ursprünglichen Autors Arthur Schnitzler, das Ambiente der späten Donaumonarchie, die in ihren Bauten noch so gegenwärtig war, die bittere Geschichte vom "süßen Wiener Mädel". Dieses Films wegen hätte Ilse Aichinger "auf alle Spielbergs und Taboris gerne verzichten" können.

Ihr Rundgang durch die Filmgeschichte schließt die berühmten Kriminalfilme nicht aus, auch den Horrorfilm nicht. So macht sie auf ihrem Streifzug einen anekdotischen Fund, der es in sich hat, das Telegramm des Horrorfilm-Produzenten William Castle an Hitler und Goebbels: "Sie arbeiten nun für mich?" Etwas hergeholt wirkt der Vergleich des Schauspielers Humphrey Bogart mit dem Romanautor Gustave Flaubert ("Verhinderte Träumer"). Höhepunkt der Filmporträts ist der Essay über Terence Davies' Film "The House of Mirth", die Beschreibung eines weiblichen "Michael Kohlhaas in New York" - ein Prosastück von besonderer Eleganz und Tiefensicht.

Was am Film hält Ilse Aichinger immer noch in Bann? Die Kunst der "Laufbilder" veranschaulicht ein Lebensgesetz des Verschwindens, wie es der Autorin gerade am Film "Eine Synagoge zwischen Tal und Hügel", an einem Film über das allmähliche Aussterben der jüdischen Gemeinde von Delémont im Jura, bewußt wird. Filme wecken "Widerstand gegen das Verschwinden - und eine versteckte Lust daran. Das kommt einem meiner frühesten und stärksten Wünsche entgegen: dem eigenen Verschwinden, der Verborgenheit."

Ilse Aichinger: "Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben". S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2001. 207 S., geb., 32,27 DM.

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Andreas Nentwich bespricht das Buch Film und Verhängnis von Ilse Aichinger. Wer von diesem Sammelband mit Prosatexten "Autobiografisches" erwartet, wird enttäuscht, erklärt der Rezensent. Das Buch biete weniger Lebensbeschreibung als "Luftspiegelungen eines Lebensspiels". Das Kino diene der Autorin dabei als "Chiffre" für "das Moment des Verschwindens" im menschlichen Dasein, so Nentwich beeindruckt. Das Buch, das sowohl Kinoeindrücke, Texte über Fotografien als auch eine Beschreibung Wiens in der Vorkriegszeit enthält, belegt für den Rezensenten eindrucksvoll die Tendenz der Autorin zum Schweigen und zum Verstummen. Dabei sei der Band auch ein "Journal des Verschwindens", nicht zuletzt deshalb, weil er auf den ersten 50 Seiten von Personen handele, die von den Nazis deportiert wurden. Am meisten aber haben es dem Rezensenten die Prosatexte zu Bill Brandts Fotos "Menschenkinder" angetan, die er "wunderbar" findet.

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