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»Mich hat dieses Buch fertiggemacht!« Thea Dorn
Für eine Dissertation über das Leben auf dem Land im 21. Jahrhundert zieht der Pariser Anthropologe David aufs Dorf, um Sitten und Bräuche der Landbevölkerung zu beobachten. Die Stille, die ständige Anwesenheit von Tieren aller Art, vor allem aber die überraschende Unangepasstheit sämtlicher Dorfcharaktere ziehen ihn in ihren Bann. Und bald ist er involvierter in das Landleben, als er es sich je hätte träumen lassen. Mathias Enard schreibt in kühner Fahrt durch Raum und Zeit mit komödiantischer Lust über die Herausforderungen des Landlebens…mehr

Produktbeschreibung
»Mich hat dieses Buch fertiggemacht!« Thea Dorn

Für eine Dissertation über das Leben auf dem Land im 21. Jahrhundert zieht der Pariser Anthropologe David aufs Dorf, um Sitten und Bräuche der Landbevölkerung zu beobachten. Die Stille, die ständige Anwesenheit von Tieren aller Art, vor allem aber die überraschende Unangepasstheit sämtlicher Dorfcharaktere ziehen ihn in ihren Bann. Und bald ist er involvierter in das Landleben, als er es sich je hätte träumen lassen. Mathias Enard schreibt in kühner Fahrt durch Raum und Zeit mit komödiantischer Lust über die Herausforderungen des Landlebens und die Beharrlichkeit der menschlichen Existenz.

»Ein großes Epos« Vea Kaiser, Literar. Quartett
Autorenporträt
Mathias Enard, geboren 1972 in Niort (Westfrankreich), Studium der Kunstgeschichte und orientalischen Sprachen, lebt, nach längeren Aufenthalten im Nahen Osten, heute in Barcelona, wo er Arabisch lehrt. Für »Zone« erhielt er in Frankreiche 2008 den »Prix Décembre« und 2009 den »Prix du Livre Inter«, in Deutschland den deutsch-französischen »Candide Preis 2008«. Für »Kompass« wurde Mathias Enard mit dem Prix Goncourt sowie dem Leipziger Buchpreis der Europäischen Verständigung ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Wie es Mathias Enard in seinem neuen Roman gelingt das Große im Kleinen zu spiegeln, namentlich die große weite Welt in einem Kaff des Bas-Poitou, in Sumpf und Acker, hält Rezensent Niklas Bender für stark. Enards Held, ein gescheiterter Anthropologe, scheint Bender zudem genau der Richtige zu sein, um in seinem Feldtagebuch die Eigenarten des Landlebens und die Konstellationen der Dörfler festzuhalten, Reinkarnationen inklusive. Mit Assoziation, Kontrapunkten und verblüffenden Bezügen, etwa zur Volksliedtradition, hält der Autor den Rezensenten bei Laune. Und Enards Ortskenntnis und "Landschafts-Empathie" tun das Ihre, meint Bender.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.05.2021

Das Schicksal kennt keine Zeit
Von der Landlust zum wahnsinnigen Welterzählungsunternehmen: Mathias Énards
bombastischer Roman „Das Jahresbankett der Totengräber“
VON HUBERT WINKELS
Ein junger Pariser Doktorand der Ethnologie hat Großes vor. Seine karge Unterkunft in einem bäuerlichen Dorf im Département Deux-Sèvres tauft er kurzerhand „Das wilde Denken“. Unter den fünfhundert Seelen von La Pierre-Saint-Christoph fühlt er sich wie ein Argonaut im westlichen Pazifik, und wie der Ethnologe Bronisław Malinowski möchte er bei seinen Feldstudien vierhundert Kilometer westlich von Paris sowohl aktiver Teil der indigenen Bevölkerung werden wie auch wissenschaftlicher Chronist der Fremde und des Prozesses ihrer Erkenntnis.
Fünfhundert Seiten später bezieht der junge Bauer, der ein Jahr zuvor noch Student war, den eigenen Bauernhof „Aux Bons Sauvages“, „Zu den guten Wilden“, zusammen „mit zwei Katzen, einem alten Hund, zwei Schweinen, etlichen Feldmäusen, einer Igelfamilie, Millionen unsichtbarer, mehr oder weniger schädlicher Kleinstlebewesen“ und einer neuen Geliebten, die in dieser Aufzählung mit guten Gründen als „Hominide“ aufgeführt wird. Welch eine Glücksgeschichte! Der wildwiesenbunte Traum eines verkopften Großstädters unserer Tage, von Levi Strauss zur eigenen Apfelplantage, „ein paar bepflanzte Hektar, die Tonnen von CO&sub2; aus der Atmosphäre saugten“, und auf zum letzten Satz des Romans, mit dem in bester bombastisch-universalistischer Stimmung das richtige Leben jenseits des Romans beginnt: „Ich startete den Motor, legte den ersten Gang ein, und wir fuhren los, den Planeten zu retten.“
So gelesen, ist Mathias Énards Roman „Das Jahresbankett der Totengräber“ ein gut gelauntes französisches Seitenstück zu aufgeklärt-skeptischen, aber doch umweltmoralisch gutwilligen Landromanen hierzulande, wie sie in jüngster Zeit Lola Randl, Juli Zeh oder Dörte Hansen geschrieben haben. Gut zu lesen, lehrreich, nah an Windkraft, Saftsäure und Photosynthese. Man könnte sich mit dem ersten und letzten Kapitel dieses Romans so lange aufhalten, dass der labyrinthische exuberante Rest zur romanexperimentellen Fußnote schrumpfte, über die man dann schimpfen und spekulativ bramarbasieren könnte. Denn es ist schwer zu fassen, was in den fünf Kapiteln dazwischen geschieht, in der Sache und in der Sprache.
Die Form des ersten und letzten Kapitels ist das Tagebuch des jungen Möchtegern-Anthropologen David Mazon. Etwas großsprecherisch geht er seine Ethnologie des Inlands an, verfasst einen Plan für hundert Interviews mit den Eingeborenen, skypt mit seiner Pariser Freundin Lara, wobei schon der Seidenschimmer ihres Nachthemds genügt, webcambasierten Sex zu initiieren, wonach es mit dem klapprigen Mofa Jolly Jumper und später einem durchgerosteten postgelben Renault-Kastenwagen über Stock und Schlaglöcher geht.
Natürlich führt kein Weg an der Dorfkneipe vorbei, einem von Trinkern und Spielern besetzten „Anglercafé“, wo der Wirt Thomas und der Bürgermeister Martial, zugleich Chef der örtlichen Totengräber, als zentrale soziale Relaisfiguren fungieren, rau und herzlich, vielleicht auch bös und verschlagen, zumal beide gelegentlich die menschliche Gestalt verlassen. Daneben Mathilde und Gary, die Vermieter des teilnehmenden Beobachters, Lucie, die toughe Marktbäuerin, Max, der abgedrehte Künstler, ferner der melancholisch trinkende Pfarrer Largeau, ein englisches Pendler-Paar, Paco und der Fleischer Patarin – mäßig fremd die Leute allesamt, viel weniger urig, als einem Fremdenforscher lieb sein kann, der sich kompensatorisch übertreibend schon mal „unter der Maske der Andersartigkeit“ wähnt, wie er mit gewählter Levinas’scher Begrifflichkeit sagt.
Énard kostet den Witz der vergeblichen Anstrengung, Abstand aufzubauen, um Nähe zu gewinnen, weidlich aus. Er lässt David im Tagebuch eher sprechen als schreiben, noch so gerade das universitäre Über-Ich im Nacken (Sorbonne und Doktorvater), aber schon bald von Essensgelüsten, Verliebtheitsgefühlen und Zukunftsträumen hingerissen. Immer stärker konzentrieren sich der Roman und sein Held auf die Frau mit dem in Anthropologenohren verführerisch klingenden Namen Lucie. Von ihr und ihrer schwer beschädigten Rumpffamilie geht dann auch der galoppierende Wahnsinn der fünf zentralen Romanteile los.
Énard wechselt mit dem zweiten Großkapitel von der Ich-Form zum freien auktorialen Erzählen, das auch mal personal verengt werden kann, zum Beispiel zur Perspektive eines wilden Keilers auf dem Rücken einer sexuell beglückten Bache, oder einer Wanze im Bett von Napoleon vor seiner Reise nach St. Helena. Romandramaturgisch löst Énard sich von allen Fesseln. Jeder und alles Lebendige, so das Prinzip seines Romans, kann sich nach seinem Ableben in etwas anderes verwandeln.
Das könnte jeder divers und multipel beschwingte Erzähler auch freihändig inszenieren, mit herzstärkenden Referenzen zu Ovid und Joanne K. Rowling. Doch Mathias Énard, im literarischen Nebenerwerb Kultur- und Religionswissenschaftler, wie wir aus seinem erfolgreichen west-östlichen Roman-Diwan „Kompass“ (2016) wissen, hat sich für seine Verwandlungstricks beim tibetischen Buddhismus bedient und das tief in Zeit und Raum reichende Prinzip der Seelenwanderung übernommen, des Lebensrades und der Wiedergeburt. Voilà, ein neues Perpetuum mobile der Romanproduktion ist erfunden und sogleich im westlichen Frankreich zwischen Loire und Gironde installiert. Grenzen braucht schließlich auch der bunteste Romanteppich, und sei es, um sie zu überfliegen.
Wir befinden uns also in der Herkunftsregion des viel reisenden, meist in Barcelona lebenden Autors Mathias Énard. Hier kennt er sich mindestens so gut aus wie zwischen Damaskus, Teheran, Wien und Istanbul in „Kompass“, und er zieht sogar noch einige historisch-kulturelle Fäden mehr, was auch diesen neuen Roman kompendiös und seinem gastrointestinalen Thema entsprechend adipös macht. Das zweite Kapitel, „Der Zeh des Gehenkten“, beginnt mit dem Tod des trinksüchtigen Ortspriesters Abbé Largeau, der sich in einen frisch geworfenen Frischling verwandelt, ein Eber übrigens, während Mathilde, seine geheime Liebschaft, bittere Tränen weint, weil sie für ihre mit Rotwein verlängerten herzhaften Suppen nun keinen Empfänger mehr hat.
Nehmen wir den wilden Eber, immer hungrig und fortpflanzungsbereit, als ein Erzählbeispiel für viele andere. Im Fortgang des Romans begegnet er uns wieder als Unfalltier, das den Renault-Lieferwagen des Kneipen-Thomas rammt und schwer angeschlagen in denselben verfrachtet wird. Wir folgen dem Dialog der Fahrer Thomas und Martial. Solche Tierunfälle müssten den Behörden gemeldet werden, so der Amtsinhaber, doch der mit Jagdflinte bewaffnete Thomas bettelt um einen sauberen Schuss ins Gesicht des Schweins. Zweimal drückt er ab, die Schnauze fliegt auseinander, das Blut rinnt auf den rostigen Boden, das Schrot reißt Löcher in Rückenlehnen und Armaturenbrett, das ganze Auto stinkt sein Schrottleben lang nach Tod und Verwesung, was auch David Mazon kaum aushält, der spätere Besitzer.
Die begattete Bache indes, irritiert über Unruhe im Unterholz, flüchtet panisch in eine Trafostation und verursacht einen derartigen Kurzschluss, dass es weithin blitzt und raucht und in großem Umkreis der Strom ausfällt, sodass David Wachskerzen aus Abbé Largeaus verlassener Kirche klaut; und die Polizei einen Terroranschlag der Bürgerbewegung gegen die riesigen Wasserspeicher im Marais vermutet; weshalb auf dem nahen Markt die schöne Bäuerin Lucie verhaftet wird; was bei David Sorgen auslöst und so weiter, nach einem Kettenprinzip, von dem es im Roman religiös gelassen heißt, „das Schicksal, wo alles miteinander verbunden ist, in einem riesigen Geflecht unsichtbarer Fäden, kennt keine Zeit“.
Die Wiederentdeckung des unendlichen buddhistischen Lebensrades durch Mathias Énard beschert uns Lesern eine buchstäbliche Roman-Revolution. Alles dreht, verkehrt und verwandelt sich, schreitet vor und zurück, ein ewiges Vorübergehen – und die Frage ist allein, wie ein Autor diesem quasimetaphysischen wirkmächtigen Organizismus eine Konsistenz abgewinnen kann. Énard hält die Zügel erst recht fest in der Hand, lässt sie von Kapitel zu Kapitel lockerer, manchmal scheint er sie fahren zu lassen, derart häufen sich die Geschichten, von Cäsars dreigeteiltem Gallien über Chlodwigs I. Christianisierung, Karl Martells Sieg über die Araber, dem guten Heinrich IV. bis zu Napoleon, dem Zweiten Weltkrieg und Putin. Natürlich nicht in dieser Reihenfolge. Und als Zeugen, also indirekte Erzähler fungieren Barden und Soldaten, Maden und Troubadoure, Füchse und fuchsfarbene Pferde, Baumwurzeln und Totengräber, das Lebendige selbst als ewiges Medium.
Gemeinsam ist ihnen der Bezug zur Landschaft zwischen Nantes, La Rochelle und Bordeaux, auch ein übermütiger Ton des Alleskönnens, der Erzählton eines gelehrten Universalisten und postromantisch gestimmten kosmischen Hallodri. Den Wiedergeburtsteil des Romans leitet er höhnisch mit einem Zitat von Gilles Deleuze (über Leibniz) ein: „Was kann ein Mensch herausschreien, der an die Vernunft glaubt? Er kann nur eines herausschreien: Was auch immer geschieht und was auch immer man mir zeigt, all das muss einen Grund haben.“
Énard möchte an der Stelle von Gründen Geschichten erzählen, die wiederum Geschichten initiieren, kopieren und darauf anspielen. Er möchte komponieren und orchestrieren, kurz: er möchte im vollen Sinn des Wortes Autor sein, Schöpfer der Fülle; Gott mithin, wie jeder Autor mit universalem Anspruch. Dieser monotheistischen Position ist Énard näher als dem klug instrumentalisierten karmisch betriebenen Rad des Schicksals.
Das mittlere der sieben Kapitel trägt den Romantitel selbst. Es erzählt von dem dreitägigen, den Tod aussetzenden großen Fressen und Saufen der neunundneunzig Totengräber der Region. Als Maßstab für die mit betrunkenen Traktaten gespickte hundertseitige Orgie kann nur Rabelais’ „Gargantua und Pantagruel“ gelten. In der von Rabelais erfundenen Abbaye de Thélème findet das jeder Beschreibung spottende Fest des Überflusses statt. Ein utopischer Ort, der seinerseits inspiriert ist vom Venezianer Francesco Colonna und als erste Utopie der französischen Literatur gelten darf. Überdeterminiert also auch dieses nur scheinbar anarchische Gastmahl. Eine Art stilistisch beherrschter Kataklysmus, der erst recht die Frage nach der Lesbarkeit der Welt und dieses Buches stellt.
Es ist ein großes Wimmelbild, aus dem man einzelne Geschichten hervor- und zurücktreten lassen kann. Sie hängen untereinander und mit der Geschichte des Ortes zusammen, am Ende mit dem Personal der Erzählung von David Mazon und seinem westpazifischen Bauerndorf. Ein großes heiteres Kunststück, das gutwillige und mitunter hartnäckige Leser braucht.
Mäßig fremd die Leute
allesamt, viel weniger urig, als
dem Forscher lieb sein kann
Enard will Schöpfer der Fülle
sein, Gott mithin, wie jeder Autor
mit universalem Anspruch
Der Fluss Sèvre in der Nähe von Coulon in der westfranzösischen Gegend, aus der Mathias Énard kommt und wo sein Roman spielt.
Foto: Michael Howes/mauritius
Mathias Énard:
Das Jahresbankett der Totengräber. Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser Berlin, Berlin 2021.
481 Seiten, 28 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2021

Rausch der Sprache
Auf zur epischen Viktualienschlacht: Mathias Énards Roman "Das Jahresbankett der Totengräber"

Welch Überraschung: Auch diesen Roman von Mathias Énard hätte man am Mittelmeer erwartet, in Barcelona, Venedig, Istanbul, vielleicht noch in der Brückenstadt Wien, an irgendeinem Ort, wo Orient und Okzident sich begegnen, doch "Das Jahresbankett der Totengräber" spielt kurz vor der Atlantikküste. Auch ein urbanes Setting schien dem treuen Leser typisch - und hopp, da stranden wir in La Pierre-Saint-Christophe: Ausgerechnet der Kosmopolit Énard bereichert die französische Literatur um einen Roman übers Leben zwischen Hof und Angler-Café, Sumpf und Acker, Terrine und Schnaps. Das Landleben ist jedoch kein Selbstzweck, Énards Alchemie verwandelt es ins Universelle: "Das Jahresbankett" ist ein kosmisches Werk über Essen und Liebe, über Tod und Reinkarnation, über die alles verdauende und sublimierende Macht der Sprache.

Der Pampa des Bas-Poitou nähert sich Énard über eine Finte: Er schickt David Mazon dorthin, knapp dreißig, angehender Ethnologe, dessen Doktorarbeit "eine richtige Monographie über das Landleben" werden soll. Der distanzierte, aber gutwillige Blick des etwas tölpelhaften Neuankömmlings erlaubt Énard die vorsichtige Annäherung, das schrittweise Ablegen diverser Vorurteile. Davids Feldtagebuch bildet den Rahmen, das erste und das letzte von sieben Kapiteln. Der Nachteil einer beschränkten Außensicht wird in den Innenkapiteln ausgeglichen: Ein quasi-göttlicher Erzähler eröffnet eine Panoramaschau, die Jahrhunderte umfasst. In der Mitte des Romans thront die zentrale Szene, der Bericht vom Jahresbankett der Totengräber. Als Einschübe zwischen den Kapiteln schließlich finden sich fünf "Chansons".

David bietet einen flotten Einstieg. Er ist ein prätentiöser und dennoch liebenswerter Fehlzünder der Wissenschaft: Man folgt seiner einjährigen Entwicklung vom scheiternden Doktoranden zum zufriedenen Bio-Landwirt, vom geilen Liebhaber der Pariserin Lara zum Lebensgefährten von Lucie Moreau, einer Mittdreißigerin "im Hippie-Landlook". Letztere ist eine zentrale Gestalt in La Pierre-Saint-Christophe: Von den übrigen 648 Seelen dieses Dorfes interessieren Lucies Großvater und seine tragische Lebensgeschichte, Lucies behinderter Cousin Arnaud (ein Automechaniker und Jahrestags-Herunterbeter), Thomas als fieser und lüsterner Wirt des Angler-Cafés, der Bürgermeister und Bestattungsunternehmer Martial, Mathilde und Gary, beide Landwirte und Vermieter Davids, der Künstler Max, mit dem David sich anfreundet, sowie dessen Geliebte Lynn, eine Friseurin und Lucies beste Freundin.

Das Personal wird noch erweitert um Ahnen - und um frühere Inkarnationen der Figuren. Denn Énard schreibt einen buddhistischen Roman: "Als der sehr von sich überzeugte Anthropologe David Mazon angeekelt eine halbe Flasche Javelwasser über die roten Anneliden kippte, die sein Badezimmer bevölkerten, wusste er nicht, dass er damit die Seelen finsterer Mörder ins Lebensrad zurückschickte, Seite an Seite Marseil Sabourin, 1894 guillotiniert, der kleine Chaigneau, 1943 guillotiniert, dazu die erlauchten Henker Deibler und Desfourneaux, die sich alle mit ihren Gewalttaten mehrere Generationen währendes Leiden und blindes Umherkriechen in der Nässe eingehandelt hatten." Am Rande: Das Leben all dieser mal wichtigen, mal anekdotischen Figuren bringt Énard mühelos unter. Vermutlich führt er die Reinkarnationslehre - Lebensrad, "Klares Licht" und Bardo (das tibetische Intervall zwischen den Existenzen) inklusive - aus rein erzählerischen Gründen ein, denn der Kunstgriff erlaubt es ihm, die Geschichte der weiteren Umgebung in den Roman zu holen. Einen Kern gibt es dennoch: die brutale und traurige Geschichte von Lucies Familie.

Énard bestätigt seinen Ruf als Universalgelehrter, der eine unglaubliche Freude daran hat, das Große und das Kleine, den Bischof und den Henker, die Sumpfkresse und das Königreich in einen Rahmen zu bringen. Sein historisches Riesenfresko funktioniert nach Gesetzen der Assoziation, der Spiegelung, der überraschenden Verbindung. Gern zitiert Énard die reiche Literatur der Region, Agrippa d'Aubigné etwa wird als Reinkarnation von Lucies suizidärem Urgroßvater Jérémie beschrieben, und dass Victor Hugos Chouan-Roman "1793" David beschäftigt, ist kein Wunder - die Vendée ist direkte Nachbarin. Wichtigster Bezugspunkt freilich ist François Rabelais, sein Geburtshaus La Devinière liegt um die Ecke, ebenso die Abtei von Maillezais, ein Vorbild der utopischen Abtei von Thélème in "Gargantua".

Zum kosmischen Sinnbild gesteigert wird das menschlich-literarische Wimmeln im Jahresbankett der Totengräber - es findet in Maillezais statt. Einmal im Jahr, um Ostern, hält das Rad des Lebens an, eine Sterbenspause sozusagen, und auch die Totengräber dürfen sich des Lebens freuen. Bürgermeister Martial (laut David eine Rabelais-Gestalt) organisiert für 99 Totengräber eine Viktualienschlacht epischen Ausmaßes, schon das Menü sprengt den Rahmen. Wenigstens ein paar Käsesorten seien dem Rezensenten gegönnt: "solche, die hart waren wie das Herz einer Eiche, Comtés, deren reife Laibe aus dem Jura hergerollt worden waren, feste Têtes de Moines, mit denen man die Ungläubigen hätte erschlagen können; die weichsten Käse dehnten sich aus wie die Bäuche von Paschas auf den Kissen im Serail und schmolzen mit der Zeit auch ohne Wärmezufuhr: die überreifen, aus Rohmilch hergestellten Camemberts, die träge zerfließenden Vacherins; die furchterregend stinkenden Époisses kamen in Wellen aus ihren gewaschenen Krusten gekrochen wie Reblochons". Die Käse-Symphonie aus Émile Zolas "Der Bauch von Paris" ist nicht fern. Dazu Loire-Weine in Fülle, mit klarer Neigung zu den eleganten Chinons sowie nicht näher bestimmten Chenin-Genüssen. Wem da nicht das Wasser im Munde zusammenläuft . . .

Die Bestatter stürzen sich in einen Rausch sondergleichen, den gelehrte oder flammende Reden unterbrechen respektive befeuern: "Lasst uns fröhlich sein, Brüder der Traurigkeit, statt lange Gesichter zu machen, wollen wir ein gigantisches Gelächter anstimmen!" Der Leser feiert und schlemmt, freut sich an einem kulinarischen Vokabular der Extraklasse - der Rausch ergreift die Sprache, gefüttert mit Bezügen von Seneca über die Troubadour-Dichtung bis hin zu Trink-, nein Saufliedern. Wie nennt man so eine Lebensorgie? Wohl des Memento-mori-Motivs der Totengräber halber und weil es zeitlich irgendwie passte, ist vielen deutschen Kritikern das Adjektiv "barock" eingefallen - erwartbar und unpassend: Der Roman ist ein Renaissance-Monster, eine elegante Groteske, eine Hommage an Rabelais (nein, kein Barockautor). Es ist eine Suche nach der Fülle der Welt, die eine Suche nach der verlorenen Sprache ist, jene vor der Vernunftnorm der französischen Klassik. Énard setzt diese Suchbewegung der Romantik fort, genauso wie er die Zerstörung des ländlichen Lebensraums kritisiert - eine Kritik ohne Illusionen, mit den Mitteln der Gegenwart.

Umso wichtiger sind die lyrischen Kontrapunkte: Die "Chanson"-Kapitel erzählen Volkslieder neu oder setzen sie in eine kurze Szene um. "An einer klaren Quelle" etwa schildert, wie ein Protestant, der wegen seines Glaubens nach Amerika auswandern musste, beim Bad in einem Teich an seine Geliebte denkt: "Er fährt mit dem Finger über seine Narbe. Er hat das Bild seiner Frau vor Augen, ihre Zärtlichkeit, ihre Schönheit, ihre gottgefällige Bescheidenheit, die langen Hände, mit denen sie Rosen pflücke, um sie ihm zu schenken." Die Prosaminiaturen bieten anrührende Sehnsuchts- oder Trauermomente.

Dass der Roman so vital wirkt, verdankt er seinem Helden David und vielleicht auch seiner Landschafts-Empathie. Der Begriff ist leicht erklärt: Der 1972 in Niort geborene Énard stammt aus dem Departement Deux-Sèvres, der Roman ist eine Heimkehr; man merkt Anekdoten und Geschichten diese Verankerung an, die über die mitunter trockenen enzyklopädischen Verweisnetze von "Zone" (2008) oder "Kompass" (2015) hinausgeht. So hat Énard nach einigen kleineren Werken einen dritten großen Roman geschrieben, dem es gelingt, in den Kanälen des Poitou die weite Welt zu spiegeln.

NIKLAS BENDER

Mathias Énard: "Das Jahresbankett der Totengräber". Roman.

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2021. 480 S., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Ein großes Epos .... Dieses ganze Konstrukt ist so genial, dass ich beim Lesen immer wieder staunend dagesessen bin, dass das alles zusammenhängt." Vea Kaiser, ZDF Literarisches Quartett, 14.05.2021

"Es geht in diesem Roman wirklich um Leben und Tod. ... Reichhaltig, barock, opulent, ausschweifend und sehr humorvoll." Nicola Steiner, SRF Literaturclub, 18.05.2021

"Ein kosmisches Werk über Essen und Liebe, über Tod und Reinkarnation, über die alles verdauende und sublimierende Macht der Sprache." Niklas Bender, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.06.2021

"Die Wiederentdeckung des unendlichen buddhistischen Lebensrades durch Mathias Énard beschert uns Lesern eine buchstäbliche Roman-Revolution. Alles dreht, verkehrt und verwandelt sich, schreitet vor und zurück, ein ewiges Vorübergehen... Es ist ein großes Wimmelbild, aus dem man einzelne Geschichten hervor- und zurücktreten lassen kann. ... Ein großes heiteres Kunststück." Hubert Winkels, Süddeutsche Zeitung, 20.05.2021

"'Das Jahresbankett der Totengräber' ist kein Schmöker, sondern ein wuchtiges Kunstwerk eigenen Ranges. ... Solange Literatur wie diese geschrieben wird, gibt es noch Hoffnung." Gerrit Bartels, Tagesspiegel, 23.05.2021

"Mit seiner gewagten Konstruktion schafft es Enard in 'Das Jahresbankett der Totengräber', nachvollziehbar zu machen, was nur in einem vielstimmigen Roman darstellbar ist. Durch das Ergründen der Gedanken und Motive der Figuren und das Wissen um deren Reinkarnationen zeigt er die Verbindung zwischen allen Lebensformen und die Beschränktheit der menschlichen Perspektive auf die Umwelt." ORF Bestenliste, 01.07.2021

"Ein rasanter, komödiantischer Roman voller Entdeckungen und Überraschungen." SWR-Bestenliste, 01.07.2021

"Der Roman ist ein üppiges Mahl, das in einer nahezu unendlichen Abfolge verschiedenster Gänge serviert wird: Glanz und Elend des Landlebens, Feindschaften und Begierden, Traditionen, Aberglaube. ... Mathias Énards eleganter Stil und seine geistreiche Art zu erzählen machen das Buch zu einem wunderbar vielschichtigen, an vielen Stellen humoristischen und anregenden Provinz-Roman." Dirk Fuhrig, WDR3, 17.05.2021

"Kunstvoll, wortspielerisch und unheimlich gelehrt, aber nie angestrengt führt Enard uns immer wieder von der Gegenwart in die Geschichte und zurück. ... Ein radikal moderner Roman, der mit seiner atemberaubenden nicht-linearen Erzählform, dem Hin und Her der wandernden Seelen zwischen Gegenwart und Geschichte, so etwas wie ein kollektives Gedächtnis wachruft." Kathrin Hondl, SWR2, 16.05.2021

"Mathias Enards 'Jahresbankett der Totengräber' ist ein Heimatroman der anderen Art und eine Wunderkammer voller Figuren, Ideen, und Kapriolen, feinster Ironie und groteskem Witz." Cornelia Zetzsche, BR Bayern2, 18.07.2021

"In diese Reihe der bildungssatten enzyklopädischen Groß-Epen fügt sich nun auch Mathias Énards jüngstes Leserüberwältigungswerk ein, der 500-Seiten-Roman 'Das Bankett der Totengräber', abermals in ein berauschend wortgewaltiges, buntes Deutsch übertragen von dem Énard-erprobten Übersetzer-Duo Holger Fock und Sabine Müller. ... Wer sich aber auf das Buch einlässt und sich vom Schwung seiner Fabulierlust tragen lässt, erlebt ungeahnte Lesefreuden." Sigird Löffler, Radio Bremen, 23.05.2021

"Eine unglaubliche Kunst. Und dabei liest es sich wahnsinnig leicht... es ist sehr unterhaltsam, wahnsinnig witzig." Barbara Vinken, 3sat, 20.06.2021

"Ein Erzählstrudel, Fabulierstrudel. Enard hat sich damit die Lizenz der Maßlosigkeit gegeben." Katrin Schumacher, 3sat, 20.06.2021

"Eine Feier des Lebens!" Sandra Kegel, 3sat, 20.06.2021

"Ein großartiges Buch! ... Es geht um die großen Themen der Literatur: Tod, Liebe, Abschied, Veränderungen und diese unglaubliche Beziehung mit dem Ort." Usama Al Shahmani, SRF Literaturclub, 18.05.2021

"Ich habe mich nach der Lektüre gefühlt, als hätte ich einen Wirbelsturm überlebt. ... Es ist ein gargantueskes Buch für Schlemmer." Daniela Strigl, SRF Literaturclub, 18.05.2021

"Dieses Buch leistet alles, was ein großartiger Roman leisten kann." Christoph Keller, SRF Literaturclub, 18.05.2021

"Ein gelehrtes Buch, das von der ungeheuren Belesenheit, den verblüffenden historischen Kenntnissen und dem enzyklopädischen Wissen seines Schöpfers zeugt. Der Roman atmet die Freiheit, die Enard auch selbst verkörpert: sich der Vielfalt des Lebens gegenüber offen zu zeigen. ... 'Das Jahresbankett der Totengräber' ist vor allem ein Fest des Lebens." Ruth Renée Reif, Der Standard, 30.05.2021

"Mathias Enard ist ein begnadeter Erzähler, und vielleicht hat das mit seinen kunstwissenschaftlichen Studien ebenso zu tun wie mit seinem Studium der arabischen Sprache und der orientalischen Kultur. Er ist ein Gläubiger des Wortes, der an der Wirkungsmacht der Sprache keine Zweifel aufkommen lässt. ... Die Verwandlung der Schrecken in etwas anderes - das, was Mathias Enard das 'Mysterium der Kunst' nennt - gelingt erst im Erzählen." Roman Bucheli, NZZ, 29.05.2021

"Dieser Roman ist wie das titelgebende Bankett, ein ausuferndes Gelage ... stupend kunstfertig, witzig, voll von erstaunlichen Begebenheiten." Anne-Cathrin Simon, Die Presse, 15.05.2021

"Mit dem 'Jahresbankett der Totengräber' hat Mathias Énard einen vor Lebendigkeit überbordenden Roman vorgelegt, ein 480 Seiten starkes Erzählwerk, das die Ekstasen des sinnlichen Genusses und der Geselligkeit preist. Französischer geht's fast nicht ..." Günter Kaindlstorfer, ORF Ö1, 05.09.2021

"Enard entfesselt in seinem Roman ein wildes Spiel der Wiedergeburten und verknüpft so Vergangenheit und Gegenwart seiner Heimat." Wolfgang Popp, ORF Hörfunk, 17.05.2021

"'Das Jahresbankett der Totengräber' nimmt uns mit auf eine amüsante Reise in die französische Seele." Leonie Heitz, ORF-TV, 17.05.2021

"Dieser erste Teil des Buches ist geradezu genial. ... Das Bankett, diese Fress- und Sauforgie - göttlich. Da wäre ich gerne dabei gewesen." Götz Alsmann, ZDF Literarisches Quartett, 14.05.2021

"Mich hat dieses Buch fertiggemacht!" Thea Dorn, ZDF Literarisches Quartett, 14.05.2021
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