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Die berührende Erzählung einer tragischen Liebesgeschichte
Nach einem Nomadenleben in Amerika, Südostasien und Osteuropa haben sie sich getrennt: Edith und Leonard, zwei Menschen, die nicht wieder zusammen finden und nicht voneinander lassen können. Was sie verbindet, ist ihr Sohn Gabriel und die Frage, was diesem in seiner Kindheit zugestoßen ist und ihn zum Außenseiter gemacht hat. In langen Briefen an den Ex-Mann, die sie freilich nie abschicken wird, versucht sich Edith noch einmal über ihr Leben und ihr Schicksal Klarheit zu verschaffen und darüber, woran ihre Liebe zerbrach - und ihr…mehr

Produktbeschreibung
Die berührende Erzählung einer tragischen Liebesgeschichte

Nach einem Nomadenleben in Amerika, Südostasien und Osteuropa haben sie sich getrennt: Edith und Leonard, zwei Menschen, die nicht wieder zusammen finden und nicht voneinander lassen können. Was sie verbindet, ist ihr Sohn Gabriel und die Frage, was diesem in seiner Kindheit zugestoßen ist und ihn zum Außenseiter gemacht hat. In langen Briefen an den Ex-Mann, die sie freilich nie abschicken wird, versucht sich Edith noch einmal über ihr Leben und ihr Schicksal Klarheit zu verschaffen und darüber, woran ihre Liebe zerbrach - und ihr Glück.

'Man folgt bewegt, erschüttert, vertraut sich diesem Roman an, weil Anna Mitgutsch eine Sprache entwickelt hat, die dem Unglück und dem Glanz dieser Lebensgeschichten gewachsen ist.' Bayerischer Rundfunk

'Der Kreis schließt sich, den Anna Mitgutsch mit beeindruckender dichterischer Kraft und Imagination um ihre Figuren und ihre Geschichte gelegt hat.' Frankfurter Rundschau

'Das Großartige an diesem Roman ist die Übertragbarkeit seiner katastrophischen Züge auf scheinbar normale Verhältnisse.' Süddeutsche Zeitung
Autorenporträt
Anna Mitgutsch, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten, lebte und arbeitete viele Jahre in den USA. Sie ist eine der bedeutendsten österreichischen Autorinnen und erhielt für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Solothurner Literaturpreis sowie jüngst den Adalbert-Stifter-Preis. Sie übersetzte Lyrik, verfasste Essays und zehn Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.
Rezensionen
"Der Kreis schließt sich, den Anna Mitgutsch mit beeindruckender dichterischer Kraft und Imagination um ihre Figuren und ihre Geschichte gelegt hat." Frankfurter Rundschau

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.04.2007

Die andere Seite der Seele
Im Schatten Herman Melvilles: Anna Mitgutschs Roman „Zwei Leben und ein Tag”
Wie gern würde man sich weiter wiegen lassen vom ruhigen Fluss der Sprache, der die Biegungen des Hudson River in Upstate New York nachzeichnet, an Ufern, Wäldern, Parks vorbei, von wenigen, leicht gewölbten Brücken überspannt. Doch dann wendet sich der Blick, geht Richtung Manhattan, zum Atlantik hin, dessen „salzige Wassermassen” widerstandslos in das weit offene Flussbett eindringen. „Auch der Tod eines Flusses ist furchterregend.” Es ist ein meisterlicher Romananfang, mit dem Anna Mitgutsch den Leser auf ihr Thema einstimmt. Er zieht ihn hinein in eine Welt, in der alles offen und friedfertig erscheint, er spielt mit seiner Lust, dem Zauber des Beginnens zu erliegen, und er setzt doch die Zeichen nahenden Unheils so präzise wie ein Ingenieur die Brückenpfeiler. Was aus der Ferne so schön und filigran erscheint, ist aus nächster Nähe stählern, hässlich, kalt. Und so sehen wir dieses Paar, das sich gerade erst findet, zwei Vernissagebesucher in einer Galerie in Albany, Mitte zwanzig und voller Erwartung, die einen Anfang suchen und sich vor lauter Aufregung kaum zuhören können, und wir ahnen schon, dass es nicht gut gehen wird mit den beiden. Denn der Roman ist aus der Perspektive des Rückblicks erzählt.
Edith ist Österreicherin, Leonard Amerikaner. „Du warst zu Hause, und ich war der Gast, Du standest genau dort, wo Du hingehörtest, im Mittelpunkt Deiner Welt, zwanzig Meilen von Saratoga entfernt, wo Du aufgewachsen bist.” Er hat gerade seine Dissertation über die Figur des Außenseiters bei Herman Melville eingereicht, und so begeben sich die beiden auf das Terrain, auf dem er sich sicher fühlt. Ihre Bereitschaft, ihn zu „bestaunen”, ist geweckt, er steht schon im Glanz einer zukünftigen Karriere. Beide können noch nicht wissen, was das bedeuten wird. „Wir waren keine fünfundzwanzig und parlierten über Marginalisierung.” Doch es ist etwas ganz anderes, darüber zu parlieren, als sie am eigenen Leib zu erfahren.
Ein modernes Nomadenpaar
Wenn dem Roman nach wenigen Seiten der epische Atem ausgeht, ist der Leser zunächst enttäuscht. Man hätte diesem melancholischen Parlando noch lange folgen können. Sobald man aber begreift, was für eine Geschichte hier erzählt wird, leuchtet die Form sofort ein. Der Roman wird zum Briefroman nie abgeschickter Briefe Ediths an Leonard, die in sich noch einmal gespalten sind: in ein kreisendes Nachdenken über die Gründe, warum ihre Ehe gescheitert ist, und in eine fragmentierte Biographie Herman Melvilles, die sie eigentlich gemeinsam – und entsprechend großartig – hatten schreiben wollen.
Doch alles kam anders als erhofft. Kaum hat man sich zum Zusammenbleiben entschlossen und damit geliebäugelt, in Saratoga ein Haus zu kaufen, bekommt er einen Ruf an die Universität von Seoul. Sie werden zum modernen Nomadenpaar zwischen Amerika, Südostasien und Osteuropa. Überall, wo ein neues Bibliothekssystem gebraucht wird, ist Leonard zur Stelle, und Edith zieht mit, als von den Studenten hochmütig übersehene Frau an seiner Seite und Mutter des gemeinsamen Sohnes.
Auf verschlungenen, immer wieder unterbrochenen Pfaden verfolgt Anna Mitgutsch ihr Thema. Es geht um die „Zerbrechlichkeit des Menschen”, um jene Punkte in einem Leben, an denen sein Lauf eine unerwartete Wendung nimmt und der Blick auf die Welt sich so sehr verändert, dass sie ganz und gar kein wohnlicher Ort mehr ist, auf dem man sich frei und nach Lust und Laune bewegen kann. Der Erzählstrang zu Leben und Werk Herman Melvilles ist nicht nur das Band, das Edith mit dem geschiedenen Ehemann verbindet und das zu kappen sie sich nicht entschließen kann, er ist zugleich ein Bollwerk, das die Erzählerin vor der anstürmenden Flut der Erinnerung aufrichtet. So wird das Erlebte in einzelnen Schüben preisgegeben, die von den Dingen erzählen, „die Menschen einander antun”.
Erste Züge von Wahn
Dabei spielt die Tatsache, dass man im 19. Jahrhundert mit den Abgründen der Seele noch anders zurechtkommen musste als mit Hilfe von Psychologie und Psychiatrie, eine entscheidende Rolle. Den jungen Herman Melville hat man aufs Meer geschickt, als sich nach dem Tod des Vaters und der familiären Deklassierung die ersten Züge von Wahn zeigten. So fand er, auch wenn es ihm beileibe kein Glück gebracht hat, die Quelle seiner Inspiration: Flüsse und Meere als „das ewig ungreifbare Spiegelbild des Lebens”.
Was ist es, das so schrecklich ist, dass man es nicht einfach erzählen kann? Es ist die Katastrophe, mit ansehen zu müssen, wie das eigene Kind an der Aufgabe scheitert, die das Leben ihm stellt. Trotz aller Mühe, trotz aller Unschuld, trotz aller rührenden Versuche, an der Welt der anderen teilzuhaben, bleibt Gabriel, der Sohn, immer am Rand. Dass diese Katastrophe nicht plötzlich eintritt, sondern gleichsam auf Zehenspitzen angeschlichen kommt, macht es nur noch schlimmer. Zumindest für die Mutter, die ganz allmählich daran zerbricht, Etappe für Etappe, im ständigen Wechsel von Hoffnung und Enttäuschung.
Als Dreijähriger wird Gabriel mit einem Fieberkrampf ins Krankenhaus von Seoul eingeliefert. Niemand weiß, was wirklich passiert ist, doch ab diesem Zeitpunkt reagiert der ohnehin sensible Junge noch empfindlicher auf seine Umwelt. Normale Geräusche bringen ihn zum Kreischen, nachts wacht er schreiend auf und ist nicht zu beruhigen, immer wieder fällt er auf frühere Entwicklungsstufen zurück, formt manisch Männchen aus Knetmasse, malt wie ein Besessener die gleichen Bilder. Alle Sinneseindrücke scheinen ungefiltert durch ihn hindurch zu gehen, als gäbe es keinen Unterschied zwischen innen und außen. Jeder Ausflug, jede Begegnung mit dem Unbekannten, entwickelt sich zum Amoklauf, der die Familie zurück nach Hause treibt. Seine Mutter wird den Rest ihres Lebens versuchen, irgendwie auf die „Seite seiner Seele” zu gelangen, der Vater flüchtet sich in Allgemeinplätze und sinnlose Anweisungen, gibt seiner Frau die Schuld und macht sich irgendwann ganz aus dem Staub, um eine neue Familie zu gründen.
An keiner Stelle gerät der Roman zur Abrechnung zwischen Frau und Mann. Eigentlich ist es nicht viel, was sie sich wünscht: „Ich habe manchmal gehofft, dass Du mir die Last dieser Kränkungen irgendwann mit einer einfachen Entschuldigung abnehmen würdest. (. . . ) Ohne Vorwürfe und ohne Ausflüchte, sondern ganz einfach: Es tut mir leid.” Die wachsende Bitterkeit zwischen den Zeilen aber ist ein Phänomen der Erschöpfung. „Zwei Leben und ein Tag” ist in gewisser Hinsicht die Fortsetzung von Anna Mitgutschs frühem Roman „Ausgrenzung”, der von einer ähnlichen Konstellation erzählt: von der gnadenlosen Isolation, in die ein Kind geraten kann, das nicht ganz so ist wie die anderen, und von den Ressentiments der Umwelt, die zusieht, wie die Mutter fast wahnsinnig wird beim vergeblichen Versuch, den Sohn zu schützen. Immer wieder stellt sie sich den Blick vor, mit dem andere ihn sehen: „als sei er unsichtbar und zugleich ausgesetzt”. So ist es bei den Ärzten, so ist es bei den Nachbarn, so ist es an den Schulen, die er ständig wechseln muss, und schließlich bei Lehrstellen und Jobs.
Große Not, fehlender Halt
Dieser Roman hat durchaus seine Schwächen, weil es Anna Mitgutsch nicht immer gelingt, alles zu integrieren, was sie zusammenfügt. Das Großartige an ihm aber ist die Übertragbarkeit seiner katastrophischen Züge auf scheinbar normale Verhältnisse. Das ist in doppelter Hinsicht ein geschickter Schachzug: Es kann jeden treffen, schreibt der Roman allen, die sich auf der sicheren Seite des Lebens wähnen, ins Stammbuch; und es hat uns bereits alle getroffen, schiebt er hinterher, insofern wir uns auf Lebensverhältnisse eingelassen haben, die im Fall akuter Not keinen Halt bieten. In mobilen Gesellschaften kennt man sich nicht gut genug, um sich wechselseitig verpflichtet zu fühlen.
„Zwei Leben und ein Tag” enthält noch einen Erzählstrang. Er gibt die Innensicht des erwachsenen Gabriel wieder und spielt an einem einzigen Tag. Am Morgen verlässt er das Haus seiner Mutter, die vor zwei Jahren gestorben ist, und am Abend liegt er zusammengeschlagen in einer Regenpfütze. Ein paar Meter weiter liegt Lydia, eine junge Frau, von der er sich verabschieden wollte, bevor er aus der österreichischen Kleinstadt zum Vater nach Amerika zieht.
Das kuriose Bild, das die zwei auf dem Weg zur Disco abgaben, hätten sie selbst nicht sehen können, der Leser aber erkennt es ganz genau: „Der Mann in seiner blauen Windjacke und der fleckigen, zerknitterten Anzughose und das zum Flittchen herausgeputzte magersüchtige Mädchen. Doch selbst ein Spiegel hätte ihnen nichts genützt, sie hätten sich nicht mit dem Blick der anderen betrachtet. Sie hätten nie verstehen können, warum alles an ihnen eine heimliche Aufforderung zum Angriff war, ein Wink für die anderen: Die schützt keiner mehr.”
MEIKE FESSMANN
ANNA MITGUTSCH: Zwei Leben und ein Tag. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2007. 349 Seiten, 19,95 Euro.
Der Hudson River bei Albany im Staate New York: Als hier die Liebesgeschichte beginnt, ist im Roman „Zwei Leben und ein Tag” noch alles in Ordnung. Aber im Frachter lauert schon das Altmetall des Lebens. Foto: Paul Buckowski/AP
Anna Mitgutsch Foto: Luchterhand Literaturverlag
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2007

Parzival und die Putzhilfe
Melville als Medium: Anna Mitgutsch erzählt von Außenseitern

Zwischen Romanfiktion und historischem Sachbuch: Die österreichische Schriftstellerin Anna Mitgutsch spiegelt das unglückliche Leben ihrer Hauptfigur in der penibel recherchierten Biographie Herman Melvilles.

Es ist eine alte Erfahrung, dass aus dem Unglück der Menschen mitunter die interessantesten Bücher entstehen können. Anna Mitgutsch hat sich ihren Ruf in der österreichischen Literatur nicht zuletzt durch ihre Anteilnahme an den Schicksalen der Unglücklichen erworben, und ihr neuer Roman, der achte, macht keine Ausnahme davon. Denn Unglück häuft sich da gleich in drei parallelen Handlungssträngen, alles bedrückende Geschichten vom Scheitern. Aber multipliziert sich dadurch auch das Fesselnde der Literatur?

Da ist zunächst die Liebesgeschichte zwischen der Österreicherin Edith und dem Amerikaner Leonard. Das Paar lernt sich in einer Kunstgalerie in der Nähe des Hudson River kennen, zieht bald aber in exotischere Gefilde, nach Südkorea und Malaysia, wo es einem Jungen namens Gabriel das Leben schenkt. Leonard, promovierter Literaturwissenschaftler, teilt das Schicksal vieler moderner akademischer Nomaden: Er reist den Arbeitsmöglichkeiten hinterher, und so richtet er denn mit unglücklicher Hand eine fernöstliche Universitätsbibliothek nach der anderen ein, allerdings ohne dauerhafte Anerkennung zu finden. Auch das Familienleben verläuft in der exotischen Umgebung nicht glücklich; Edith kann das andauernde Gefühl der Fremdheit nicht überwinden, und der dreijährige Gabriel wird nur unzureichend medizinisch behandelt, als ihn ein schweres Fieber ereilt, was dann vermutlich Folgen zeitigt hinsichtlich seines Unvermögens, sich in der Welt zurechtzufinden.

Jahrzehnte später sinnt noch Edith diesen Zusammenhängen in langen Briefen nach, die sie, inzwischen selbst unheilbar erkrankt, an ihren Mann schreibt, von dem sie längst geschieden ist und der mit seiner neuen Frau in die Nähe Budapests an die Donau gezogen ist, weil ihn der Fluss an den heimatlichen Hudson erinnert. Freilich schickt Edith diese Briefe nie ab, und so entsteht ein langer klagender Monolog, der das erzählerische Gerüst des Buches bildet. In immer neuen, mitunter etwas ermüdenden Anläufen seziert Edith die Geschichte ihrer Ehe, rekapituliert die Seitensprünge ihres Mannes wie ihr eigenes wirtschaftliches Ungeschick und beschreibt in hingebungsvoller Liebe das Aufwachsen ihres Sohnes. Der aber entwickelt sich anders als seine Altersgenossen und verharrt überall in der Position eines schwerfälligen Außenseiters. Möglicherweise ist es eine Form von Autismus, die den Jungen, der nicht lügen kann, von seiner Umwelt isoliert. Schon in ihrem Roman "Die Ausgrenzung" (1989) hatte sie ein engagiertes Plädoyer für die Normalität des vermeintlich behinderten Protagonisten geführt.

In diesem Buch nun spiegelt die Erzählerin Edith das Schicksal ihrer Familie in dem eines anderen, berühmten Außenseiters der Weltliteratur. Herman Melville, der Autor des "Moby Dick", ist den Ehepartnern so vertraut wie ein enges Familienmitglied. Eine Biographie hatte das Paar über den amerikanischen Schriftsteller schreiben wollen und dafür jahrelang Material gesammelt, aber auch dieser Plan ist gescheitert. Stattdessen verwebt Edith ihre gesammelten Kenntnisse nun in die Briefe an ihren Mann, und so entwirft sie unter der Hand schließlich doch noch eine ausführliche Biographie Melvilles.

Romanfiktion und historisches Sachbuch gehen dabei eine seltsame Verbindung ein. Denn zweifellos hat Anna Mitgutsch, selbst promovierte Anglistin, für die Melville-Passagen gewissenhafte Recherchen unternommen; die wichtigsten Quellen nennt sie im Anhang. Dazu kann sie einfühlsam aus dem Leben Melvilles erzählen, der 1819 als Sohn einer hochangesehenen amerikanischen Familie geboren wurde, früh zur See fuhr und mit seinem Schreiben vergeblich Geld zu verdienen versuchte, zum Kummer seiner Angehörigen. Anschaulich lässt Mitgutsch Melvilles Lebenslauf vor ihrer Leserschaft entstehen, ohne sich dabei freilich solche Freiheiten im Spiel der Fiktion zu erlauben, wie etwa ein Daniel Kehlmann. Mitgutsch zeichnet detailliert Melvilles vergebliche Versuche nach, in der Gesellschaft Neuenglands Anerkennung zu finden. Vor allem aber erweckt sie Melvilles Romanfiguren zu neuem Leben. Ihre Zuneigung gilt auch hier den Außenseitern, allem voran dem scheuen Schreiber Bartleby und dem engelgleichen Billy Budd, der sich gegen die tödlichen Intrigen seiner Schiffskameraden nicht zur Wehr setzen kann.

Diese beiden Geschöpfe Melvilles erscheinen mehr und mehr als Parallelfiguren zu Ediths Sohn Gabriel, der den plakativen Namen eines Erzengels trägt und im Zentrum des dritten Handlungsstranges steht. In sechs Kapiteln, die den Fluss der monologischen Briefe unterbrechen, erzählt Mitgutsch von dem letzten Tag im Leben des knapp Dreißigjährigen. Rein und töricht wie ein moderner Parzival bricht er aus dem Haus seiner inzwischen verstorbenen Mutter auf, weil er zusammen mit seiner Freundin, einer unscheinbaren Putzhilfe, zu seinem Vater reisen will, der mittlerweile an den Hudson zurückgekehrt ist. Dort aber kommt Gabriel niemals an, denn schon auf dem Weg zum Bahnhof macht er arglos die Bekanntschaft eines Drogendealers. Dieser finstere Kerl entspricht jedem Klischee eines Halbweltkriminellen, das man sich nur ausmalen kann; Melville hätte ihn in seinen schwächsten Erzählungen nicht holzschnitthafter zeichnen können. So läuft Gabriels Geschichte denn auch rasant auf ein düsteres Finale zu - am Ende liegt der junge Mann erschlagen in einer Pfütze. Von seiner Freundin aber heißt es bedeutungsschwer, dass ihr "geschändeter Körper wie gekreuzigt auf die Böschung hingestreckt" war.

Mit dieser Christusallegorie endet der Roman, und es bleibt die Frage, was die Verfasserin zu diesem Arrangement veranlasst haben mag, das an die Gewaltimaginationen trivialer Genres erinnert. Sollte aus der Vergewaltigung einer magersüchtigen jungen Frau tatsächlich neue Hoffnung, gar Erlösung von dem vielfältigen Leid entstehen, das dieser Roman schildert? Oder ist das Schlussbild ein bitteres Emblem der Ausweglosigkeit allen menschlichen Strebens? Anna Mitgutsch hält keine Antwort bereit, und diese Zurückhaltung ist symptomatisch für das gesamte Buch, dessen disparate Teile nicht wirklich zu einem Ganzen zusammenfinden. Aus gedoppelten, ja vervielfachten Lebens- und Leidensgeschichten, die zwischen zwei Buchdeckeln aneinandergereiht werden, entstehen eben doch nicht zwangsläufig die besseren Romane.

SABINE DOERING.

Anna Mitgutsch: "Zwei Leben und ein Tag". Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2007. 350 S., geb., 19,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Gelungen, allerdings nicht durchgehend, findet Rezensent Leopold Feldmair Anna Mitgutschs neuen Roman, der sich seinen Informationen zufolge mit dem Thema Schuld befasst und für den Rezensenten insofern als Rückkehr zum "Ursprungsgestus des Erzählens" nach all den plaudernden popliterarischen Erklärungen vom Ende der Schuld sehr willkommen ist. Im Zentrum stehen nie abgeschickte Briefe einer Frau an ihren Exmann, worin sie nach ihrer Schuld am Scheitern der Beziehung fragt. Diese Ehegeschichte ist für Feldmair von "rührender Schlichtheit" und bietet dabei manche literarisch hochklassige Passage. Nicht unbedingt zum Vorteil des Romans verwebt die Autorin zu Feldmairs Bedauern ihre Geschichte dann aber mit zwei weiteren Erzählsträngen, die sich mit zwei Romanfiguren Herman Melvilles auseinandersetzen. Hier wäre für den Rezensenten wohl weniger mehr gewesen. Auch das "holzschnittartige" Ende des Romans findet er enttäuschend.

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