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Die Zwischenkriegszeit ist in Österreich auch heute noch eine ideologische Kampfzone. Berichte über den Schattendorf-Prozess und den folgenden Brand des Justizpalastes 1927 sind oft fehlerhaft, wichtige Fakten werden ausgelassen und Ereignisse einseitig dargestellt. Ähnliches gilt für die Februarkämpfe 1934, in denen die Gewalt zwischen den verfeindeten Lagern eskalierte.Historikerin Gudula Walterskirchen präsentiert die unterschiedlichen Sichtweisen, Widersprüche, Lücken bzw. Unrichtigkeiten, analysiert die Quellen und fördert auch völlig Neues zutage. Brisant ist auch die Zeit des Dollfuß-…mehr

Produktbeschreibung
Die Zwischenkriegszeit ist in Österreich auch heute noch eine ideologische Kampfzone. Berichte über den Schattendorf-Prozess und den folgenden Brand des Justizpalastes 1927 sind oft fehlerhaft, wichtige Fakten werden ausgelassen und Ereignisse einseitig dargestellt. Ähnliches gilt für die Februarkämpfe 1934, in denen die Gewalt zwischen den verfeindeten Lagern eskalierte.Historikerin Gudula Walterskirchen präsentiert die unterschiedlichen Sichtweisen, Widersprüche, Lücken bzw. Unrichtigkeiten, analysiert die Quellen und fördert auch völlig Neues zutage. Brisant ist auch die Zeit des Dollfuß- und Schuschnigg-Regimes. Ständestaat wie Sozialdemokratie zielten auf den falschen Feind. Statt gemeinsam gegen den Terror des Nationalsozialismus zu kämpfen, bekämpften sie einander, mit fatalen Folgen: Die politisch geschwächte österreichische Politik hatte Hitlers Einmarsch nichts entgegenzusetzen.Die blinden Flecken der Geschichte prägen den Diskurs bis heute: Es gibt keine gemeinsame Gedenkkultur zu den damaligen Ereignissen, Gedenkveranstaltungen sind immer auch politisch eingefärbt.
Autorenporträt
Gudula Walterskirchen, Dr.phil., geboren in Niederösterreich, ist Publizistin, Kolumnistin der Tageszeitung Die Presse, Historikerin und Autorin viel beachteter Bücher zur österreichischen Zeitgeschichte. Die Biografien von Engelbert Dollfuß und Ernst Rüdiger von Starhemberg sowie über den Adel im Widerstand wurden Bestseller.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.06.2017

Schwarze, Rote, viele Tote
Österreich 1927 bis 1938

Gudula Walterskirchen, eine österreichische Historikerin und Publizistin, die regelmäßig in der Wiener "Presse" die Zeitläufte aus konservativer Warte kommentiert, will "blinde Flecken" der Geschichte ihres Landes sichtbar machen. Es geht um die zunehmend erbitterte Auseinandersetzung zwischen den regierenden Christlichsozialen und den Sozialdemokraten im Jahrzehnt vor dem "Anschluss" durch Hitler-Deutschland 1938. Eine geläufige Deutung jener Jahre lautet: Das immer autoritärer regierende "schwarze" Regime habe mit der Ausschaltung des Parlaments 1933 den "Austrofaschismus" etabliert, der dann zur begeisterten Begrüßung Hitlers auf dem Heldenplatz, zum Nationalsozialismus und in den Zweiten Weltkrieg geführt habe.

Diese Sicht kann als gesellschaftlich vorherrschend angesehen werden. Kinder lernen in Wiener Grundschulen, dass im "Bürgerkrieg" 1934 die Sozialdemokratie endgültig niedergeworfen und die letzte Chance zur Rettung der Demokratie vertan worden sei. Überall im Land erinnern Denkmale an die "Opfer des Faschismus 1934-45". Diese Zusammenfassung ist schon deshalb Unfug, weil die "Austrofaschisten" - oder wie immer man sie nennen will - die erbittertsten Feinde der Nationalsozialisten waren. Walterskirchen setzt denn auch dieser Geschichtssicht und Gedenkkultur begründeten Widerspruch entgegen. Punktuell geht sie die Schlüsselereignisse ab und zieht Quellen heran, die sonst gern vernachlässigt werden.

Walterskirchen versucht nicht, Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg zu lupenreinen Demokraten zu stilisieren. Aber sie schildert eben die andere Seite. Als ein Beispiel der "Schattendorf-Prozess" von 1927: In einem burgenländischen Dorf dieses Namens waren zwei Menschen durch Angehörige der rechten Kampfgruppe der "Frontkämpfer" getötet worden. Im Prozess in Wien wurden die mutmaßlichen Schützen freigesprochen. In darauf folgenden Unruhen brannte der Justizpalast, 89 Zivilisten und fünf Polizisten wurden getötet, mehrere hundert Personen verletzt. Die Autorin zieht die Prozessakten heran, die lange unter Verschluss lagen, und macht plausibel, dass es sich jedenfalls nicht um eine bestellte Herrschaftsjustiz handelte, die auf dem rechten Auge blind gewesen wäre, wie gern unterstellt wird.

Spannend ist die These, dass nicht nur der Juli-Putsch 1934 von Berlin gesteuert wurde, währenddessen Dollfuß durch österreichische Nazis ermordet worden sei. Auch im Februar 1934, als das Dollfuß-Regime einen Aufstand durch Angehörige einer sozialdemokratischen paramilitärischen Truppe ("Schutzbund") niederschlug, hätten die Nationalsozialisten das Geschehen von Deutschland aus "durch Agents Provocateurs" herbeigeführt. Walterskirchen hat nicht sensationell neue Quellen aufgetan, um die These zu untermauern. Sie stützt sich unter anderem auf Erinnerungen Hans von Hammersteins, damals Sicherheitsdirektor von Oberösterreich, die schon 1981 publiziert wurden. Hammerstein berichtet etwa über Grenzprovokationen durch österreichische Exil-Nazis, die von Deutschland aus agierten. Zitiert werden auch Erinnerungen von sozialdemokratischer Seite, die nahelegen, dass die unter Dollfuß verbotenen Nationalsozialisten ihre Hände im Spiel hatten. Und die NS-Verstrickungen von Schlüsselfiguren wie Richard Bernaschek, der in Linz das Fanal für die Kämpfe gab, sind ohnehin bekannt, werden aber selten beleuchtet.

Zu Recht kritisiert Walterskirchen das Wort "Bürgerkrieg", auch wenn der von ihr benutzte Begriff "Februarereignisse" etwas sehr hölzern und relativierend klingt. Zu Tode kamen ihr zufolge bis zu 360 Menschen. Sie waren keineswegs alle "kämpfende Arbeiter", sondern zu einem beträchtlichen Anteil zufällige Passanten oder Schaulustige, die ins Feuer beider Seiten gerieten, und auch viele Polizisten und Gendarmen. Dass das Heer mit Artillerie auf die zu Festungen verschanzten Gemeindebauten schoss, trifft zu - allerdings auch, dass der Einsatz von nicht explosiver Übungsmunition befohlen wurde. Es sei kein einziges durch den Artillerieeinsatz zu Tode gekommenes Opfer zu identifizieren, zitiert die Autorin entsprechende Forschungen. Die vor drei Jahren aufgekommene Behauptung, Dollfuß habe den Einsatz von Giftgas befohlen, beruht auf einer geradezu mutwillig missverstandenen Quelle. Ganz zweifellos haben jedoch die Kämpfe im Jahr 1934 und vor allem die von Dollfuß angeordnete Vollstreckung an neun zum Tode verurteilten aufständischen Sozialdemokraten die Beziehungen zwischen "Schwarzen" und "Roten" in Österreich nachhaltig vergiftet - mit fatalen Folgen, die sich spätestens 1938 zeigten.

STEPHAN LÖWENSTEIN

Gudula Walterskirchen: Die blinden Flecken der Geschichte. Österreich 1927-1938. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2017. 223 S., 22,90 [Euro].

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