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Ein elsässischer Soldat im Ersten Weltkrieg entdeckt am Nachthimmel das Sternbild des Großen Burschen, das so schauderhaft ist, dass er niemandem davon erzählen kann. Ein junger Mann, der sich in die blinde Anja verliebt hat, muss feststellen, dass ihr Apartment von oben bis unten mit Beschimpfungen bekritzelt ist. Marcel, sechzehn Jahre alt, hinterlässt auf der Toilettenwand eines Erotiklokals seine Handynummer und den Namen Suzy. Familie Scheuch bekommt eines Tages Besuch von einem Herrn Ulrichsdorfer, der vorgibt, in ihrem Haus aufgewachsen zu sein, und einen Elektroschocker unter seinem…mehr

Produktbeschreibung
Ein elsässischer Soldat im Ersten Weltkrieg entdeckt am Nachthimmel das Sternbild des Großen Burschen, das so schauderhaft ist, dass er niemandem davon erzählen kann. Ein junger Mann, der sich in die blinde Anja verliebt hat, muss feststellen, dass ihr Apartment von oben bis unten mit Beschimpfungen bekritzelt ist. Marcel, sechzehn Jahre alt, hinterlässt auf der Toilettenwand eines Erotiklokals seine Handynummer und den Namen Suzy. Familie Scheuch bekommt eines Tages Besuch von einem Herrn Ulrichsdorfer, der vorgibt, in ihrem Haus aufgewachsen zu sein, und einen Elektroschocker unter seinem geliehenen Anzugjackett verbirgt.
Das ganz und gar Unerwartete bricht in das Leben von Clemens J. Setz' Figuren ein. Ihr Schöpfer erzählt davon einfühlsam, fast zärtlich. Durch Falltüren gestattet er uns Blicke auf rätselhafte Erscheinungen und in geheimnisvolle Abgründe des Alltags, man stößt auf Wiedergänger und auf Sätze, die einen mit der Zunge schnalzen lassen. Der Trost runder Dinge ist ein Buch voller Irrlichter und doppelter Böden - radikal erzählt und aufregend bis ins Detail.
Autorenporträt
Clemens J. Setz wurde 1982 in Graz geboren, wo er Mathematik und Germanistik studierte. Heute lebt er als Übersetzer und freier Schriftsteller in Wien. 2011 wurde er für seinen Erzählband Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Sein Roman Indigo stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2012 und wurde mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2013 prämiert. 2014 erschien sein erster Gedichtband Die Vogelstraußtrompete. Für seinen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre erhielt Setz den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2015. Mit Vereinte Nationen war Setz 2017 und mit Die Abweichungen 2019 zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. 2021 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt.
Rezensionen

buecher-magazin.de - Rezension
buecher-magazin.de

Tomaten, überhaupt runde Sachen, lindern Zweigls allgegenwärtige Panikattacken etwas. Es ist die Liebe zu seinen Kindern, die ihn daran hindert auseinanderzufallen und trotzdem wünscht sich der alleinerziehende Vater nichts sehnlicher, als dass seine Söhne seine Angst teilen, verstehen, wie es wirklich ist. Runde Dinge durchziehen die Erzählungen von Setz, in der die Menschen in ihren ganz eigenen Realitäten leben. In jeder der 20 Geschichten und Miniaturen gibt es diesen typischen surrealen Setz-Sound: Eben noch Alltagsszenen, doch dann geht ein Tor auf in eine unheimliche Parallelwelt. Da steht plötzlich ein Or, irgendwie rund und fremdartig, mit seiner Besitzerin in der Polarnacht oder ein Familienvater weigert sich, ein Klassenfoto zu kaufen, weil das eiförmige Vehikel im Gruppenbild, in dem das Kind der Familie Grondl existiert, seine Vorstellungskraft von den Grenzen des Lebens sprengt. Eine Schlüsselgeschichte ist die Recherche eines Schriftstellers, der sich auf die Spuren des geisteskranken Malers Conradi (1891-1920) begibt. Was dieser als viel zu häufige und zu gewaltsam stattfindende "bildnerische Umerziehung" beschreibt, ist das Erblicken von andersartigen Bildern und Realitäten. Setz findet poetische, verstörende und aberwitzige Metaphern für eine tröstende Dingwelt jenseits der Norm.

© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.02.2019

Normal ist
das nicht
Wahnsinn ist nur eine Strategie, um mit
dem Chaos in der Welt fertigzuwerden.
Das ist das Thema vieler Geschichten von
Clemens J. Setz. Auch in seinem
Erzählungsband „Der Trost runder Dinge“
VON BIRTHE MÜHLHOFF
Die Geschichten in „Der Trost runder Dinge“ sind so schön und alltäglich wie der Titel selbst. Zwanzig Erzählungen, die in der österreichischen Gegenwart und im überschaubar Urbanen einer Stadt wie Graz spielen, in der der Autor Clemens J. Setz aufgewachsen ist und immer noch lebt. Wiederkehrende Motive darin sind, neben dem tröstend Runden – Obst zum Beispiel –, Butterbrote, die aus Papier ausgewickelt werden, Handschuhe auf Gehwegen. „Jeff“ ist mal der Name eines Hundes, mal der eines Katers und in den gut eingerichteten Wohnungen stehen „wunderlich gebogene Leuchten“. Vom Gewöhnlichen geht eine Faszination aus. Schlaflosigkeit spielt eine Rolle und psychologische Marotten, die mal klinische Ausmaße annehmen, mal bloß Eigenheiten sind, gerade noch an der Grenze des Normalen. Was von außen betrachtet wie Irrsinn wirkt, stellt für die betroffene Person womöglich eine Strategie dar, sich über einen noch größeren Schmerz hinwegzubringen.
In der Erzählung „Das Schulfoto“ versucht eine Schuldirektorin, Eltern davon zu überzeugen, ein Klassenfoto zu erwerben. Herr Preissner, Vater eines Kindes, hatte es bestellt, will es nun aber – wie viele andere Eltern – doch nicht haben. Denn auf dem Klassenfoto ist Daniel zu sehen, ein behindertes Kind. Es wird nicht näher beschrieben, um welche Art Einschränkung es sich handelt, nur dass das Kind von einem Gerät gehalten wird, in dem es Herrn Preissner zufolge aussieht wie eine Steckdose. Die Angelegenheit ist dem Mann unangenehm, er ist ein höflicher Mensch. Als er hereinkommt, hält er einen Regenschirm wie einen Strauß Blumen vor sich. Die Direktorin ist konsterniert von der Ablehnung der Eltern: „Dabei wussten Sie doch, dass der Daniel in dem Bild sein würde.“ Und Daniel interagiere ja: „Das ist alles, worauf es ankommt. Man kann mit ihm arbeiten. Er nimmt am Leben teil, auf seine Weise.“ – „Das tut ein Hydrant auch“, sagt Herr Preissner. Es ist keine moralisierende, sondern eine nachdenkliche und bewegende Gesprächssituation. Man verabschiedet sich danach in einem herzlichen, höflichen und unterkühlten Zwischenton.
In einer weiteren Erzählung geht es um einen Pflegefall. Annamaria lädt sich einen männlichen Prostituierten nach Hause ein und bittet diesen Chris, im Zimmer ihres Sohnes mit ihr Sex zu haben, der seit einem Unfall im Koma liegt. Sie bietet sämtliche Überzeugungskräfte auf – und natürlich wirkt sie dabei, als hätte sie einen relativ merkwürdigen Fetisch. Chris will es nicht machen: „Er seufzte auf diese männliche, cowboyartige Weise. Als wollte er sagen: Oh Mann, womit ich alles fertigwerden muss auf dieser Erde.“ Er kann es nicht, sagt er und ahnt nicht, dass Annamaria genau das hören will. Weil ihr Sohn dann für diesen einen Moment so wirkt, als würde er alles mitkriegen.
Ziemlich verschrobene, aber ausgeklügelte Strategien haben die Figuren dieser Erzählungen. Dabei entsteht das angenehme Gefühl, dass der Autor beim Schreiben so neugierig darauf war, wie man es beim Lesen ist: Was geht diesen Menschen im Kopf herum? Warum zum Teufel tun sie, was sie tun? Wie soll man als Gesunder mit Krankheit umgehen? Wer ist überhaupt gesund? Diese Fragen ziehen sich durch den Band, wenn auch nicht durch alle Erzählungen gleichermaßen. Klare Antworten werden nicht gegeben.
Clemens J. Setz beherrscht viele Formen. Zuletzt waren es ein tausendseitiger Roman, „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“, bereits sein vierter, ein Gedichtband, oder das schmale Buch „Bot. Gespräch ohne Autor“, für das Setz einen Algorithmus Antworten aus seinen Notizbüchern heraussuchen ließ, die mal mehr, mal weniger adäquat Fragen seiner Lektorin Angelika Klammer beantworteten. Nach „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“ (2011) ist „Der Trost runder Dinge“ sein zweiter Erzählungsband, der zeigt: Kurzgeschichten stehen ihm am besten. Es ist für einen Autor wahrscheinlich nicht angenehm, wenn man seine Werke wie Kleidungsstücke behandelt. Aber es sieht so aus, als säßen Gedichte bei ihm zu eng. Und der Roman schlackert ein bisschen. Durch das Bot-Buch entstand ein wenig der Eindruck, jemand habe sich fest vorgenommen, jedes Jahr ein Buch herauszubringen.
Das Thema seiner Erzählungen war in gewisser Weise schon das seines letzten Romans, der auf seltsam eindringliche Weise den Alltag der jungen Krankenpflegerin Natalie in einem Behindertenheim schildert und den Umgang mit den Angehörigen der Bewohner, von denen sich einer als Stalker entpuppt. Da ergibt sich die Frage: Wie verhält sich körperliches zu psychischem Leid? Von Natalie selbst müsste man sagen, dass sie zwar alle Tassen im Schrank hat, aber nicht alle Henkel nach rechts. Es umgibt sie eine Einsamkeit, die sie nur durch übertriebenen Gebrauch sozialer Medien abmildern kann und indem sie Live-Übertragungen im Fernsehen ansieht.
Auch Angehörige haben aber nicht immer die Verantwortung. Manchmal sind es Kinder, wie Felix und Mike in der Erzählung „Geteiltes Leid“, deren alleinerziehender Vater eine Angststörung hat. Würde er es schaffen, ihnen zu erklären, wie sich das anfühlt, denkt der Mann, dann würden sie ihn verstehen und könnten Rücksicht nehmen. „Aber dann fiel etwas vom Küchentisch, ein Löffel, und die Angst war zurück, unverändert und so schlimm wie noch nie.“
Die Angst ist jedes Mal aufs Neue so schlimm wie nie. Gelindert wird sie nur durch Boxkämpfe im Fernsehen, den Anblick von Auberginen, Tomaten und Obst überhaupt. Das Innenleben dieses Mannes geht einem nah, und es ist auch verständlich, was in seinen Söhnen vorgeht, vielleicht in Kindern generell: Sie sind zu Recht irritiert von den Erwachsenen.
„Der Trost runder Dinge“ ist eine Reise auf den synästhetischen Sonderplaneten von Clemens J. Setz. Man ahnt noch, dass es sich dabei um eine Erde handeln könnte: Auf dem Gehsteig liegt ein Wollhandschuh „in der Haltung eines angespülten Seesterns“, während eine Krähe, die vorbeihüpft, „einem Achselzucken“ gleicht. Setz stellt Vergleiche an, wie andere Leute Autoradios anstellen oder Streiche. So beiläufig wie jemand, der das, was er tut, unheimlich gerne und auf die selbstverständlichste Art macht. Der alles, was er in die Hand bekommt, gegen das Licht hält und zu dem Schluss kommt: „Die meisten Gegenstände, so glaubt man, haben Rückseiten, aber in Wahrheit trifft dies nur auf einen kleinen Ausschnitt der sichtbaren Welt zu.“ So verfährt Setz auch mit den Grafiken und Fotos, die in der Geschichte „Die Katze wohnt im Laland’schen Himmel“ abgebildet sind. Darin findet ein Mann ein altes Fotoalbum, entdeckt auf der Rückseiten eines Schwarz-Weiß-Fotos eine Notiz und begibt sich auf die Suche nach den Abgebildeten.
Auf Twitter kann man Setz’ Einfälle und Erlebnisse täglich mitverfolgen. Wenn sie unter politisierten und zynischen Tweets auftauchen, wirken seine absurden Beobachtungen fast wie das einzig Vernünftige. Womöglich kann einen die Wahrnehmungsintensität in seinen Erzählungen etwas erschlagen, das aber auf eine Weise, die einen später beschwingt nach Hause gehen lässt.
Wir sehen Menschen in einer Abflughalle auf ihren Flug warten, „ein jeder mit seinem Buch als Lenkrad“. Oder Tauben, die hinter weit entfernten Häusern aufflattern, „lautlose Trümmer einer kontrollierten Sprengung“. Solche Metaphern haben auf die Dauer einen nicht zu unterschätzenden Effekt. Sogar die Beschreibung des Normalen erscheint im Zusammenhang damit auf einmal beachtenswert: „Ein Radfahrer hielt sich, ohne abzusteigen, an einer Ampelstange fest.“ In einer der Norm nicht ganz entsprechenden Normalität sieht Clemens J. Setz Menschenschicksale. Sie überlagern sich für einen Moment und zerfallen dann wieder zu neuen Mustern, Trost und Schmerz und über allem: Alltag. Ein rundum rundes Ding.
Clemens J. Setz: Der Trost runder Dinge. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 320 Seiten,
24 Euro.
Was geht diesen Menschen im
Kopf herum? Warum zum
Teufel tun sie, was sie tun?
Verständlich, was in Kindern
vorgeht: Sie sind zu Recht
irritiert von den Erwachsenen
Die meisten Gegenstände, so
glaubt man, haben Rückseiten,
aber in Wahrheit trifft dies
nur auf einen kleinen Ausschnitt
der sichtbaren Welt zu.“
CLEMENS J. SETZ
Der Autor Clemens J. Setz.
Foto: imago/Gerhard Leber
Rätselhafte Bilder spielen
eine Rolle in Setz’ Erzählungen: „Vermessene Gestalten“
und ein historisch-futuristischer Aérobus.
Foto: Suhrkamp
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.03.2019

Im Sternbild der Geworfenheit

Clemens J. Setz, der verspielte Exzentriker unter den Schauerromantikern, legt einen Band mit starken neuen Erzählungen vor: Sie handeln von Bewusstseinsverwirrung, Einsamkeit und Trost.

Wenn einem auf den ersten Seiten ein schlecht synchronisierter Specht begegnet - die Kopfbewegungen passen nicht zum Hämmer-Sound -, dann befindet man sich mit einiger Wahrscheinlichkeit im narrativen Kosmos von Clemens J. Setz. Kleine verunsichernde Verschiebungen sind die Regel in diesem, pardon, Setzkasten für blankpolierte Faktoten. Sogar die beiden Grundstimmungen, eine naiv-schöpferische und eine mild-suizidale, verhalten sich zueinander wie übermütig gewordene Spiegelbilder. Dazwischen, gleichsam als Zerrspiegel, findet sich oft der Erzähler (a.k.a. Autor) selbst, der seine Avatare immer wieder gern in die kunstvoll angerichteten Schlamassel hineinmanövriert.

Nicht grundlos steht der mit 36 Jahren immer noch junge Österreicher seit Jahren unter notorischem Genieverdacht, wobei diese sensible Schwerstbegabung mit einer spezifischen Schüchternheit verbunden ist: ein Spieler, der am liebsten gegen sich selbst spielt, weil er dann gewinnen kann, ohne besiegen zu müssen. Setz' Kreativität ist so produktiv, dass darunter mitunter seine Spannungsbögen ächzen. Schon ein "verlorener Wollhandschuh" reißt die Phantasie fort, stürzt uns ins Meer, denn der Handschuh liegt nicht einfach so da, sondern "in der Haltung eines angespülten Seesterns". Zur Allegorie reicht es allerdings selten, weil die Phantasie so fix weitereilt - hier zur Krähe, deren Hüpfen an ein Achselzucken erinnert, zum Gesicht eines alten Mannes, "mitvergilbt mit den Postkarten seines Jahrhunderts", zum Milchflaschenschüttelgeräusch, das "übersetzt" wird als "Jeff is the name is the name is the name". Jeder dieser Vergleiche ist großartig: treffend, originell und witzig. High-End-Metaphern sozusagen. Es sind nur eben sehr viele.

Und kaum ist da ein solches Stocken, fließt der Plot nicht mehr schlank vorüber, sondern verwirbelt sich, bildet Andockpunkte für weiteres bildhaftes Treibholz - "Der Kirchturm hatte so ausgesehen, als wäre ihm das Zifferblatt als Schnuller für die Nacht gegeben worden" -, bis der Erzählfluss zuverlässig über die Ufer tritt. Dahinter steckt jedoch Kalkül, weil so das Phantastische, Groteske und Dunkle elegant mit in den Strom hineinrauschen kann. Das Symbolische und die Synästhesie sind bei Setz Einfallstore für das Über- oder Hypernormale. Da kann dann eine Frau mit ihrem "Or" verreisen, einem Wesen zwischen Troll-Haustier und Kafkas bedrohlich sinnfreiem Odradek, ohne dass es uns verwundert. Wer hier nur eine Schizophrenie-Parabel sieht, nimmt der Erzählung die Seele. Da kann die Diskussion über ein Klassenfoto in ethische Abgründe führen, weil eines der Kinder darauf eine Art Cyborg ist: "doch kein Kind mehr" beharrt ein Vater; inklusionsbedürftig, sagt die Rektorin.

Auch wenn Setz überzeugende Romane vorgelegt hat, ist für ihn die kurze Form ideal. Bei aller avantgardistischen Verspieltheit fokussieren die Geschichten immer wieder gestochen scharf auf emotionale Grundzustände wie Güte, Panik, Vertrauen und Einsamkeit. Sie handeln von Trost, der nicht nur in runden Dingen (wie Auberginen) zu finden ist, sondern auch im umrundenden Abtasten psychischer Verknotungen, die man selbst vornehmen oder (besser!) anderen Händen überlassen kann. Es verwundert nicht, dass sich der Erzähler selbst als kindlichen Pikaro inszeniert - über einen Mann, der sich am Ticketschalter beschwert, heißt es: "er konnte es viel besser als ich. Ein Erwachsener." Es ist die Lizenz zum lapidaren Drunterwegkrabbeln, selbst in poetologischer Hinsicht wie in der Auftakterzählung, in der die Mitwartenden am Flughafen für den Betrachter zu "NPCs, non playable characters" werden: "Ich stellte mir Unaussprechliches mit ihnen vor." Da aber spricht kein bösartiger Demiurg, sondern ein leicht verlorener Nerd, den es kaum erschüttern kann, unbemerkt in ein Paralleluniversum zu gelangen, in dem seine Wohnung als Lazarett in einem ihm unbekannten Krieg dient. Er hatte die Möglichkeit, in einem Traum zu leben, wohl immer schon einberechnet.

Fast alle Erzählungen enthalten überraschende Wendungen und rätselhafte Zuspitzungen, wie es sich für gute Kurzgeschichten gehört. So entdeckt der neue Liebhaber einer blinden Frau, dass ihr Appartement mit touretteartigen Beleidigungen ("HUR KLANE HUR") vollgekritzelt ist, verpasst aber den Moment, mit ihr darüber zu reden. Das macht ihn zum Komplizen des anonymen Verfassers: eine ererbte Schuld sozusagen. Einen alleinerziehenden Vater mit Angstattacken wiederum erfüllt es mit verständlicher und doch bedrückender Befriedigung, als einer seiner Söhne von einer Panikattacke heimgesucht wird. Aber dann unterminiert der Zweifel auch diese Entwicklung, weil der Sohn die Attacke und ihre Abwehr nach einem Online-Ratschlag bloß vorgespielt haben könnte. Ein Fake. Damit droht die Überhitzung dieses familiären Systems, denn die letzte Verbindung ist gekappt.

Wiederkehrende Situationen (Phobien, Rührung, Drang) und eine sich vertikal durch das Erzählte bewegende Katze (das Schrödinger-Paradox spukt im Hinterkopf herum) verbinden die Geschichten zu einer größeren Einheit. Sie handeln von den Verschlingungen des schreckhaften Bewusstseins, das seine eigenen Einfälle nicht mehr vergessen kann, zumal die schauerlichen - ganz so, wie jener Erzähler, der im vielleicht stärksten Beitrag des Buches den Tag verflucht, an dem er auf die Spur eines mental merkwürdigen Malers namens Conradi stieß. Dadurch nämlich habe er Kenntnis eines "entsetzlichen" Sternbilds erlangt, das fortan als Vorschein des Untergangs sein Leben bestimmte. Zugleich haben wir hier natürlich ein fulminantes Bild für die Kraft und den Fluch der Phantasie.

Und doch sind es nicht unbedingt die metafiktionalen Reflexionen und exzentrischen Einfälle, die den Wert des Buchs ausmachen. Die größte Faszination geht vielmehr von den anrührenden Figuren aus. Es sind Vertreter einer Normalität ohne feste Norm, im Denken und Wahrnehmen entsynchronisiert gewissermaßen und damit zugleich frei und verwundbar. Jener Junge, der durch eine aus Neugier im Nachtclub hinterlassene Telefonnummer mit der Banalität des Begehrens konfrontiert wird, jener traurige Voyeur, der eine dunkle Invasion herbeisehnt, weil er mit den Mitmenschen nicht kommunizieren kann, oder jene Frau, die eine abstrus verdrehte, Callboys einschließende Methode entwickelt hat, um für Sekunden in ihrem Selbstbetrug, der komatöse Sohn nehme noch am Leben teil, bestätigt zu werden - solche ergreifend mit der Ins-Dasein-Geworfenheit des Menschen ringenden, tief glaubhaften Charaktere wird man so schnell nicht vergessen.

OLIVER JUNGEN

Clemens J. Setz: "Der Trost runder Dinge". Erzählungen.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 318 S., geb., 24,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension

Clemens Setz hängt ein bisschen quer in der Welt, glaubt Rezensent Florentin Schumacher, der Setz' dadurch "verrückten Blick" aufs Geschehen ganz gut leiden kann. Im Kurzgeschichtenband "Der Trost der runden Dinge" erlebt Schumacher also Bäume, die sich wie träumende Giraffen bewegen, eine Blinde, die nicht sehen kann, wie hässlich die Wände ihrer Wohnung beschmiert sind, eine Schulkrankenschwester, die einen Jungen entführt. Die Geschichten gehen dem Rezensent nah, aber begeistern kann er sich nicht wirklich für sie, wie er gesteht. Zu angestrengt findet er die "coole Tiefkühl-Lakonie", zu perfekt den Sound, zu hypersensibel die Wahrnehmung all der supersympathischen Figuren. Am Ende findet Schumacher es tröstlich, dass selbst ein hochbegabter Autor wie Setz es nicht ganz hinbekommt, lebensnahe Figuren zu schaffen.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Es gibt Momente, da fürchtet man, die Gegenwartsliteratur könnte in Zukunft zu einem einzigen großen Müllhaufen emporwachsen. Wenn man dann Trost sucht, dann bei Clemens J. Setz, dem futuristischen Sprachclown.«
DIE WELT 29.07.2019