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Geleitet von einem spezifisch religionswissenschaftlichen Ansatz wird die Inszenierung der Nürnberger Reichsparteitage - als Exempel wird der von 1938 herangezogen - als großangelegter Opferkult gedeutet, bei dem sich ein ganzes Volk gleichsam selbst zu Grabe trägt. Im Ritual der Reichsparteitage ist das Totalopfer der Subjekthaftigkeit gemeint, das von jedem Volksgenossen eingefordert wird: sich ganz und gar und bedingungslos dem Führer und dem Vaterland zur Verfügung zu stellen und bis zuletzt zu kämpfen , das ist das endgültige Ziel. So mag die auf den Reichsparteitagen quasireal und…mehr

Produktbeschreibung
Geleitet von einem spezifisch religionswissenschaftlichen Ansatz wird die Inszenierung der Nürnberger Reichsparteitage - als Exempel wird der von 1938 herangezogen - als großangelegter Opferkult gedeutet, bei dem sich ein ganzes Volk gleichsam selbst zu Grabe trägt.
Im Ritual der Reichsparteitage ist das Totalopfer der Subjekthaftigkeit gemeint, das von jedem Volksgenossen eingefordert wird: sich ganz und gar und bedingungslos dem Führer und dem Vaterland zur Verfügung zu stellen und bis zuletzt zu kämpfen , das ist das endgültige Ziel.
So mag die auf den Reichsparteitagen quasireal und stellvertretend für die ganze Gesellschaft in Szene gesetzte Selbstaufopferung des Subjekts die beste Vorbereitung gewesen sein für die im zweiten Weltkrieg real erfolgte eigene kollektive Auslöschung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.1998

Besoffen vom Erlebnis
Wenn die Nazis sich feierten, waren die Volksgenossen nicht nur vor Begeisterung trunken

Die nationalsozialistische Gesellschaft war kein Block, der nur mittels Repression, Zwang und Gewalt funktionierte. Ebenso, und das ist in der deutschen Erinnerung an den Nationalsozialismus der weit schmerzhaftere Teil, gab es Zustimmung und Begeisterung. Terror und Euphorie schlossen einander nicht aus, sondern waren vielfältig ineinander verschränkt.

Seit 1945 ist die innere Heterogenität des Nationalsozialismus in immer neuen Kontroversen betont worden. Hannah Arendt hat auf die "Banalität" der Täter hingewiesen, in der Debatte über Goldhagen stand jüngst die "Brutalität" im Mittelpunkt. Angeregt durch Martin Broszats Konzept der Historisierung, interessiert sich die Forschung für die Haltung der Bevölkerung. Die vorliegenden beiden Arbeiten beschäftigen sich mit der emotionalen Anziehungskraft des Nationalsozialismus.

Die Religionswissenschaftlerin Yvonne Karow interpretiert die Reichsparteitage als Ritual, das den Mythos eines fernen Ursprungs darstellte. Schon die Architektur des Nürnberger Geländes symbolisierte eine eng verbundene Gemeinschaft der Lebenden und der Toten, konzentriert auf den "Führer" - als obersten Opferbringer und als erstes Opfer an den beschworenen Ursprung. Offen bleibt, ob man aus dem durchaus plausibel gedeuteten Ritual auf eine tiefgreifende Prägung der Bevölkerung schließen muß. Massenveranstaltungen hatten immer auch ihre eigene Dynamik. Die Verfasserin betont, daß nicht nur die religiös-politische Ekstase des Rituals die Teilnehmer in einen Rauschzustand versetzte, sondern auch der reichlich genossene Alkohol. Zum Skandal wurde 1938 die Aufführung von Wagners Meistersingern - sie fand vor leeren Rängen statt, da die Geladenen lieber in die Biergärten gegangen waren.

Die Analyse der nationalsozialistischen Selbstinterpretation in der Liturgie des Parteitags überzeugt. Der Opfertod wurde als Voraussetzung der Einheit des Volkes präsentiert. Die Selbstauslöschung des Individuums wurde in einer Verschmelzungsphantasie als Voraussetzung für die Rückkehr in die Geborgenheit des Ursprungs inszeniert. Der Parteitag repräsentierte das Selbstopfer des Volkes. Der einzelne lieferte sich hier "der Brutalität aus".

Gudrun Brockhaus ist Sozialpsychologin, ihr Thema ist die "emotionale Erlebniswelt" des Faschismus. Sie tritt mit dem Anspruch an, sich von einer "wissenschaftlichen Fachsprache möglichst gründlich zu verabschieden". Zum Glück hält sie sich nicht immer an den eigenen Anspruch. Spannend sind vor allem jene Passagen, in denen sie mit Rückgriffen auf neuere psychologischen Forschungen - und in einer präzisen Fachsprache - die Struktur der emotionalen Bindungen an den Nationalsozialismus und der Erinnerung an ihn skizziert. Läßt man sich auf das Bild eines "psychischen Haushalts" ein, werden die Barrieren erkennbar, die Elemente der nationalsozialistischen Realität in der Seele der Menschen hinterlassen haben.

Der Erlebnisbegriff, von Dilthey und Simmel popularisiert, wird gegenwärtig in den verschiedensten Zusammenhängen benutzt. Doch im Gegensatz zum vergangenen Fin de siécle wird er heute selten theoretisch erläutert. Auch hier nicht - eingeführt wird er mit Beispielen aus den verschiedensten Bereichen des Alltagslebens. Der Autobahnbau, literarische Zeugnisse, Filme, Hitlerreden, Fackelzüge - an diesen heterogenen Beispielen will die Autorin die "Faszination des nationalsozialistischen Erlebnisangebotes" zeigen und damit eine Erklärung liefern für die damalige Zustimmung zum Regime und die bis heute widersprüchliche Erinnerung.

Dem Nationalsozialismus gelang es, die Ganzheitssehnsucht der Kulturkritik in ein politisches Programm zu integrieren. Das Individuum konnte in dem Gefühl schwelgen, mit der Masse zu verschmelzen, dann wieder konnte es die eigene Identität intensiver erleben. So verschränkten sich das Erleben des Selbst und das Erleben des Nationalsozialismus - was den Überlebenden die Erinnerung und die Distanzierung sehr schwergemacht hat. Trotzdem blieb die identitätsstiftende Wirkung des Nationalsozialismus begrenzt. Wegen ihrer immanenten Widersprüchlichkeit konnten die vermeintlich positiven Elemente der Ideologie und des Systems nicht einlösen, was sie den Anhängern versprachen.

Darin lag eine Quelle für die Eskalation der Gewalt. Der illusionäre Anspruch auf Ganzheit und Gleichheit setzte immer neue Ausstoßungsprozesse in Gang. Die Juden wurden als nicht näher bestimmbare Gefährdung der Sehnsucht nach Harmonie identifiziert. Wie beide Bücher indes zeigen, richtete sich das Destruktionspotential des Nationalsozialismus nicht nur nach außen, sondern von Anfang an auch nach innen. Die "ungeplante Dominanz des Destruktiven", so Brockhaus, die im nationalsozialistischen "Erlebnisangebot" selber lag, radikalisierte die Ambivalenzen und bereitete der Gewalt den Weg. MANFRED HETTLING

Yvonne Karow: "Deutsches Opfer". Kultische Selbstauslöschung auf den Reichsparteitagen der NSDAP. Akademie Verlag, Berlin 1997. 301 S., 17 Abb., geb., 78,- DM.

Gudrun Brockhaus: "Schauder und Idylle". Faschismus als Erlebnisangebot. Verlag Antje Kunstmann, München 1997. 233 S., br., 36,- DM.

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