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Die Diagnose lautete: "Angeborener Schwachsinn". Das war Annas Todesurteil, 1940 wurde sie in der Gaskammer von Grafeneck im Sinne der nationalsozialistischen Rassen- und Erbhygine ermordet.Ihre Familie löschte die Erinnerung an sie aus - bis ihre Nichte Sigrid Falkenstein nachzuforschen begann. Einfühlsam zeichnet sie Annas tragischen Lebensweg nach und macht dabei gemeinsam mit dem Psychiater Frank Schneider bewusst: Annas Schicksal steht exemplarisch für ein grauenvolles Verbrechen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, den Massenmord an Hunderttausendenpsychisch kranken, geistig oder körperlich behinderten Menschen.…mehr

Produktbeschreibung
Die Diagnose lautete: "Angeborener Schwachsinn". Das war Annas Todesurteil, 1940 wurde sie in der Gaskammer von Grafeneck im Sinne der nationalsozialistischen Rassen- und Erbhygine ermordet.Ihre Familie löschte die Erinnerung an sie aus - bis ihre Nichte Sigrid Falkenstein nachzuforschen begann. Einfühlsam zeichnet sie Annas tragischen Lebensweg nach und macht dabei gemeinsam mit dem Psychiater Frank Schneider bewusst: Annas Schicksal steht exemplarisch für ein grauenvolles Verbrechen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, den Massenmord an Hunderttausendenpsychisch kranken, geistig oder körperlich behinderten Menschen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.07.2012

Ein Loch in der Erinnerung

Weil sie behindert war, wurde Anna von den Nazis ermordet. In ihrer Familie wurde nie über das Schicksal der jungen Frau gesprochen - bis der zufällige Treffer einer Suchmaschine ihre Nichte nach Jahrzehnten wieder auf ihre Spur brachte.

Von Sarah Engel

Obwohl sie damals noch nichts von seinem dunklen Geheimnis wusste, war Sigrid Falkenstein schon als Kind fasziniert von dem alten Familienfoto. Es zeigt ihre Großmutter zusammen mit deren Tochter, ein Schwarzweißbild aus einer anderen Welt, aufgenommen nach dem Ersten Weltkrieg. Die Frisur der Großmutter scheint perfekt gesteckt. Zu ihrem langen, gestreiften Kleid trägt sie eine Perlenkette. Ihre Hand liegt schützend auf der Schulter ihrer Tochter. Auch die steckt in einem Kleid, im blonden Haar eine überdimensionale Schleife. Während die Großmutter milde lächelt, blickt Anna mit verkniffenen Augen in die Kamera.

"Dieses Bild war wie gemacht für kleine Mädchen", seufzt Falkenstein. Immer wieder betrachtete sie das Foto, träumte sich in die zwanziger Jahre. Als sie später von zu Hause auszog, nahm sie es mit. Hängte es an die Wand ihrer Berliner Wohnung. Über die abgebildeten Personen, Großmutter und Tante, wusste sie kaum etwas.

Falkenstein ist zwar in einem Haus mit ihrer Großmutter aufgewachsen, im Ruhrgebiet. Doch über die Vergangenheit redet die unnahbare alte Frau nicht. Sie leidet an Depressionen und kommt nach einem Selbstmordversuch in den fünfziger Jahren in einer Nervenklinik. Über das kleine Mädchen auf dem Foto, von der Familie Änne genannt, wird nicht gesprochen. Irgendwann bekommt Falkenstein mit, dass Änne noch als Kind in einer Anstalt gestorben sein soll. Von einer leichten Behinderung ist hinter vorgehaltener Hand die Rede. Weiter nachzuhaken traut sich Falkenstein über all die Jahre nicht. Bis im Herbst 2003 der Treffer einer Internet-Suchmaschine eine Suche lostritt, die ihr Leben durcheinanderwirbelt.

Auf Wunsch ihres Vaters will Falkenstein die Stammtafel der Familie digitalisieren. Außerdem soll sie im Internet nach weiteren Hinweisen suchen. Und so tippt sie eines Abends den Namen ihrer Großmutter, Anna Lehnkering, in eine Suchmaschine. Ein Treffer macht sie neugierig. Auf einem israelischen Server entdeckt sie den Namen und ein Geburtsdatum. Daneben steht: "Murdered by German medical doctors between 1939 and 1948".

Das kann nicht sein!, schießt es Falkenstein durch den Kopf. Erst als sie noch einmal das Geburtsdatum anschaut, den 2. August 1915, versteht sie: Hier ist die Rede von ihrer Tante Anna, benannt nach der Großmutter. Entsetzt recherchiert Falkenstein weiter. Sie liest vom "Euthanasieprogramm" der Nationalsozialisten, dem Tausende kranke und behinderte Menschen zum Opfer fielen. Sie liest von der "Aktion T4", benannt nach dem Ort, Tiergartenstraße 4 in Berlin, an dem Ärzte über Leben und Tod entschieden. Bis tief in die Nacht sitzt Falkenstein vor ihrem Computer. Am nächsten Morgen ruft sie sofort ihren Vater an.

"Das muss die Änne sein. Das Datum passt", sagt er. Viele Fragen sprudeln aus Sigrid Falkenstein heraus: Was hatte Änne für eine Behinderung? Wo hat sie zuletzt gelebt? Kannst du mir sagen, wo sie beerdigt ist?

Doch die Erinnerung ihres Vaters scheint wie ausgelöscht. Nein, sagt er, er wisse nichts, außer dass sie während des Krieges in einer Anstalt gestorben sei. Die gleiche Erklärung wie viele Jahre zuvor. Eine Anmerkung scheint ihrem Vater jedoch besonders wichtig zu sein: "Änne war so sanftmütig und lieb. Sie hat immer so schön mit uns gespielt. Sie konnte zwar nicht so gut lernen, aber das hat man ihr nicht angesehen. Sie sah ganz normal aus." Das Wort Behinderung verwendet er nicht.

Falkenstein ist bestürzt über die "schwarzen Löcher" in der Erinnerung ihres Vaters, wie sie heute sagt. Beim Berliner Bundesarchiv fordert sie deshalb die Patientenakte ihrer Tante an. "Es war ein unendlich schlimmes Krankenblatt, aus dem hervorging, wie elendig und qualvoll Annas Leben in der Anstalt war." Am Ende der Akte steht: "Verlegt nach . . ." Falkenstein will herausfinden, was sich hinter den drei Punkten verbirgt.

Einen weiteren Hinweis erhält sie dabei doch noch vom Vater. Er kramt eine alte handschriftliche Notiz hervor, die er im Nachlass seiner Mutter gefunden und all die Jahre aufbewahrt hatte. Darin beklagt sie den Tod ihrer "unvergesslichen Tochter Änne", die am 23. April 1940, um zwei Uhr nachts, an einer Bauchfellentzündung gestorben sei. "So ein Irrsinn", sagt Sigrid Falkenstein. Heute weiß sie, dass ihre Familie vom Regime der Nazis getäuscht wurde. Todesursache, Todeszeitpunkt und Todesort waren gefälscht.

Tatsächlich lebte Anna bis zum März 1940 in der Anstalt Bedburg-Hau. Dann wurde sie mit 450 weiteren Patienten in das Schloss Grafeneck in der Nähe von Tübingen deportiert. Anna war für die Nationalsozialisten kein Mensch mehr, sondern nur noch eine Nummer. Anna starb in den Gaskammern von Grafeneck.

Über das Schicksal ihrer Tante und das lange Schweigen ihrer Familie hat Sigrid Falkenstein ein Buch geschrieben: "Annas Spuren". Dafür hat sie sich mit Frank Schneider zusammengetan, Chefarzt für Psychiatrie an der Uni-Klinik Aachen. Schneider hat eine Erklärung dafür, weshalb man sich in Falkensteins Familie nicht an Annas Behinderung, ihre Zwangssterilisierung, ihre Heimaufenthalte und an ihren plötzlichen Tod erinnern konnte oder wollte. "Die Angehörigen der Opfer wissen, dass hier ein großes Unrecht geschehen ist. Aber selbst wenn man nur als Mitwisser beteiligt war, über Unrecht spricht man nicht gerne", sagt er. Die traumatischen Erfahrungen der Zeit hätten dazu geführt, dass Falkensteins Vater einige Erinnerungen nicht mehr abrufen konnte. Auch andere Angehörige von Opfern des Nazi-Regimes versänken in Schweigen, weil sie sich schämten, nicht geholfen zu haben.

Am 2. April 2009, fast sechs Jahre nachdem Sigrid Falkenstein im Internet auf das wahre Schicksal ihrer Tante stieß, wird in Mühlheim, vor Annas letztem Wohnhaus, ein "Stolperstein" zu ihrem Andenken verlegt. An diesem Tag spricht Falkensteins Vater mit fast 89 endlich aus, was er jahrelang für sich behalten hat, wie sich die Tochter erinnern wird. Mit blassem Gesicht und zitternder Stimme sagt er: "Ich hatte eine Schwester, die geistig behindert war." Als er später mit seiner Tochter alleine ist, fügt er hinzu: "Danke für alles, was du für die Änne getan hast." Wenige Wochen später stirbt er.

Sigrid Falkenstein hat im Laufe ihrer Erinnerungsarbeit viele Betroffene kennengelernt. Sie weiß jetzt, dass der Umgang ihrer Familie mit dem Schicksal der Tante kein Einzelfall ist. Das Verhalten ihrer Großmutter, sagt Falkenstein, könne sie inzwischen verstehen. Mit 35 Jahren war deren erster Mann, ein Alkoholiker, an einer Leberzirrhose gestorben. Ihre zweite Ehe war gescheitert. Die alleinerziehende Mutter hatte es in den stürmischen Zeiten der Weltkriege nicht leicht. Als Mediziner an ihrer Tochter die Diagnose "Schwachsinn" stellten, muss eine Welt für sie zusammengebrochen sein. Doch das Leben ging weiter. Nach unzähligen Untersuchungen wurde Anna drei Tage vor dem Weihnachtsfest 1936 in eine Anstalt verwiesen. Vielleicht glaubte die Mutter, das sei die einzige und beste Alternative für die Tochter.

Die Aufnahme der Großmutter mit Anna aus dem Jahr 1919 hängt noch immer in Sigrid Falkensteins Wohnung. Doch heute sieht sie das Bild mit anderen Augen. Die weißen, schicken Rüschenkleider sind in den Hintergrund gerückt. Nun achtet sie eher auf den verkniffenen Blick ihrer Tante. Denn nach dem Lesen der Akten weiß sie, dass zu diesem Zeitpunkt bereits erste auffällige Veränderungen an Anna wahrgenommen worden waren.

Welche Behinderung ihre Tante tatsächlich hatte, lässt sich heute nicht mehr sagen. "Schwachsinn war damals ein gängiger Begriff und bezeichnet eine im weitesten Sinne geistige Behinderung oder Intelligenzminderung", sagt Falkenstein. Letztendlich sei aber auch egal, unter welcher Beeinträchtigung ihre Tante gelitten habe. Viel wichtiger sei es, zu erkennen, wie schnell eine Gesellschaft auf die schiefe Bahn geraten könne. Wie Mediziner geglaubt hätten, mit ihren regimekonformen Einschätzungen das Richtige zu tun. Wie Angehörige sich den Anordnungen der Ärzte gebeugt hätten, weil sie überfordert waren.

"Am Ende zählt aber nur die Würde des einzelnen Menschen", sagt Sigrid Falkenstein. Zum Glück sei der Umgang mit Kranken und Behinderten heute anders, sagt sie. "Trotzdem ist es immer noch schwierig, zum Beispiel zu sagen: Ich habe eine Schwester, die schizophren ist. Das sagt sich nicht so leicht wie: Ich habe einen Bruder, der hat Diabetes."

Sigrid Falkenstein: "Annas Spuren. Ein Opfer der NS-,Euthanasie'". Unter Mitarbeit von Prof. Dr. Dr. Frank Schneider. Herbig 2012. 192 Seiten, 17,99 Euro.

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