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Ein Roman über die größte Liebe, die es im Leben gibt
In seinem neuen großen Roman geht Arnon Grünberg, einer der bedeutendsten Schriftsteller der Niederlande, ans Herz: Er erzählt von zwei Menschen, die aneinander gebunden sind ohne Wenn und Aber, die ohne einander nicht leben und nicht sterben können und die eine unendliche Liebe eint: Mutter und Sohn.
Otto Kadoke, benannt nach Anne Franks Vater Otto Frank, einem früheren Freund der Familie, arbeitet als Psychiater in einem Krisenzentrum. Er versucht, Menschen mit Selbstmordabsichten von ihren Plänen abzubringen. Als er eines Tages
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Produktbeschreibung
Ein Roman über die größte Liebe, die es im Leben gibt

In seinem neuen großen Roman geht Arnon Grünberg, einer der bedeutendsten Schriftsteller der Niederlande, ans Herz: Er erzählt von zwei Menschen, die aneinander gebunden sind ohne Wenn und Aber, die ohne einander nicht leben und nicht sterben können und die eine unendliche Liebe eint: Mutter und Sohn.

Otto Kadoke, benannt nach Anne Franks Vater Otto Frank, einem früheren Freund der Familie, arbeitet als Psychiater in einem Krisenzentrum. Er versucht, Menschen mit Selbstmordabsichten von ihren Plänen abzubringen. Als er eines Tages seine pflegebedürftige Mutter besucht, öffnet eine nepalesische Hilfskraft die Tür, nur in ein Handtuch gehüllt. Der Psychiater, sonst immer tadellos professionell, verliebt sich augenblicklich in die junge Frau. Und sieht sich wenig später mit der Situation konfrontiert, dass er sich von nun an alleine um die Pflege seiner Mutter kümmern muss. Kadoke ist kinderlos, mittleren Alters, aber nicht unattraktiv, besonders nicht für junge Ärztinnen. Als er auch bei einer suizidalen Frau die professionelle Distanz nicht wahrt, kommen sein Privat- und sein Berufsleben ganz durcheinander: Das Haus seiner Mutter wird ab da zum ambulanten Krisenzentrum für alle, und Kadoke dekliniert Liebe auf ganz neue Weise: fürsorglich. »Muttermale« ist ein gnadenlos komischer, berührender Roman über die Spielarten der Liebe, ein Meilenstein und zugleich Wendepunkt in Arnon Grünbergs Werk.
Autorenporträt
Grünberg, ArnonArnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam, wohnt in New York, Amsterdam und Berlin. Seine Bücher wurden mit allen großen niederländischen Literaturpreisen ausgezeichnet, 2002 erhielt er den NRW-Literaturpreis für sein Gesamtwerk. Neben seinen literarischen Arbeiten schreibt Arnon Grünberg für internationale Zeitungen und Magazine. 2016 hielt er die Eröffnungsrede auf der Frankfurt Buchmesse zum Gastlandauftritt der Niederlande und Flandern. Sein Werk erscheint in 27 Sprachen.

Kluitmann, AndreaAndrea Kluitmann, geboren 1966, Studium der Germanistik und Niederlandistik in Bochum und Amsterdam. Arbeitet als freie Übersetzerin aus dem Niederländischen und übersetzte Werke u.a. von Hella Haasse und Gerbrand Bakker. Ihre Übersetzung von Do van Ransts Jugendroman »Wir retten Leben, sagt mein Vater« wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Für leicht zu lesen, aber nicht leicht zu verdauen hält Jörg Magenau Arnon Grünbergs Roman über das Verhältnis eines Sohnes zu seiner sterbenden Mutter. Den autobiografischen Hintergrund erkennt Magenau leicht, auch die Neigung des Autors, Grenzen zu überschreiten und seinen Themen, hier Leben, Sterben und Tod, so nahe wie möglich zu kommen. Die Geschichte von Grünbergs Mutter, die den Holocaust überlebte, empfiehlt Magenau als Hintergrundlektüre für dieses Buch. Fulminant findet er, wie der Autor seine Figuren anordnet, sodass am Ende kaum noch zu erkennen ist, wer hier wen pflegt. Überraschend sind die Volten in der Geschichte, meint Magenau. Ein menschenfreundliches, unterhaltsames Buch auch über die Erscheinungs- und Verfallsformen der Liebe, findet er. Die Fähigkeit des Autors, das Schwere mit Witz und Leichtigkeit zu nehmen und nie zu belehren, scheint Magenau bemerkenswert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.10.2016

Es bleibt alles in der Familie
Der neue Roman des niederländischen Schriftstellers Arnon Grünberg im Spiegel der Memoiren seiner Mutter

Heute Abend wird der niederländische Schriftsteller Arnon Grünberg bei der Eröffnung der diesjährigen Frankfurter Buchmesse sprechen - neben seiner belgischen Kollegin Charlotte Van den Broeck, die Flandern repräsentiert. Ausgewogener geht es kaum, nicht nur betreffs der verteilten Herkunft beim gemeinsamen Ehrengastauftritt ihrer Sprachregion: ein Mann und eine Frau, ein Romancier und eine Lyrikerin, ein gestandener Erfolgsautor und ein erst fünfundzwanzigjähriges Talent. Allerdings ist der 1971 geborene Grünberg im Vergleich mit den anderen international bekannten Schriftstellern seines Heimatlandes auch noch jung. Seinen Durchbruch hatte er aber bereits vor mehr als zwanzig Jahren mit dem Roman "Blauer Montag", der 1994 in den Niederlanden und 1997 in deutscher Übersetzung erschien. Seitdem hat Grünberg mehr als ein Dutzend Bücher publiziert, und in Deutschland ist er ein Aushängeschild der niederländischen Literatur.

Mitgebracht nach Frankfurt hat er seinen neuen Roman "Muttermale", der auch im Original erst in diesem Jahr herausgekommen ist. In dessen Mittelpunkt steht der in Amsterdam in der Suizidprävention arbeitende Psychiater Otto Kadoke. Wann immer ein Mensch sich das Leben nehmen will oder dessen Umwelt es befürchtet, wird Kadoke gerufen, und das Urteil des Arztes ist entscheidend dafür, ob die betreffende Person in die Psychiatrie eingewiesen wird - auch gegen deren Willen. Manchmal auch gegen die Überzeugung der Assistenzärzte, die Kadoke auf seinen Missionen begleiten, aber der zweiundvierzigjährige Psychiater gilt als Autorität in seinem Fach.

Grünberg ist bekannt für durchaus humoristisches Erzählen, und daran hindert ihn dieses bitterernste Grundthema auch hier nicht. Zumal Kadoke ein privates Handikap hat: seine betagte Mutter, eine jüdische Überlebende der Schoa, die mittlerweile auf häusliche Betreuung angewiesen ist. Mit zwei dafür schwarz engagierten jungen Frauen aus Nepal verscherzt es sich der einmal sich selbst vergessende Arzt gleich zu Beginn des Buchs, so dass fortan alle Last auf ihm ruht. Und was man schon immer über das Verhältnis von jüdischen Müttern zu ihren Söhnen gehört hat, das wird von Grünberg weidlich ausgenutzt, um das heute so verbreitete Problem adäquater Seniorenpflege daheim nicht nur in ein Psychodrama münden zu lassen.

Darin allerdings auch, und dazu subkutan in ein persönliches Drama. Der Roman wurde kurz nach dem Tod von Grünbergs Mutter geschrieben, die selbst die deutschen Vernichtungslager überlebt hat und über diese Erlebnisse einen privaten Bericht für ihre Kinder verfasst hat, der in den Niederlanden im Vorjahr und jetzt auch auf Deutsch erschienen ist: "Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich dazu keine Zeit." Dieser Titel stammt nicht aus dem eigentlichen Text der über Jahre zusammengetragenen Erinnerungen der 1927 in Berlin geborenen Hannelore Grünberg-Klein, sondern gibt einen Satz wieder, den sie in hohem Alter ihrem Sohn gegenüber immer wieder geäußert hat. So jedenfalls erzählt es Arnon Grünberg im Nachwort, das er zu den Memoiren seiner Mutter verfasst hat.

Ohne den Ruhm des Sohnes wäre dieser schlichte, aber gerade deshalb bewegende Text, der wie eine abendliche Erzählung im engsten Familienkreis daherkommt, wohl nicht erschienen, und Arnon Grünberg weiß das. Aber die Bedeutung der Publikation für ihn selbst schätzt er denkbar hoch ein: "Das wichtigste Ergebnis meiner jahrelangen Arbeit als Autor, und das sage ich nicht mit geheuchelter Bescheidenheit, bloß mit einem realistischen Blick auf das, was ich bin und wo ich herkomme, ist, dass dieses Buch endlich erscheinen konnte." Mit einer solchen Formulierung lenkt Grünberg angesichts seines neuen Romanstoffs die Aufmerksamkeit weg vom Beruf seines Protagonisten Kadoke und auf dessen Familienkonstellation, vor allem auf die Person der betagten Mutter.

Die Parallelen sind deutlich: Frau Kadoke ist wie Hannelore Grünberg-Klein deutsche Jüdin, die aus dem niederländischen Exil in die Lager verschleppt wurde und sich nach dem Krieg in den Niederlanden ansiedelte, wo sie einen jüdischen Mann heiratete, dem die Erfahrung der Schrecken in den Lagern erspart geblieben war. Was Grünberg im Nachwort zu den Erinnerungen seiner Mutter über deren Persönlichkeit schreibt, klingt wie eine Kurzbeschreibung der Verhältnisse im fiktiven Hause Kadoke: "Meine Mutter war eine unglaublich starke Frau, so stark und aggressiv, dass wir häufig Konflikte miteinander hatten, bis die nach und nach abnahmen und eine Liebe übrig blieb, unzulänglich und mängelbehaftet, aber das ist menschliche Liebe immer."

Wobei gesagt werden muss, dass "Muttermale" einen inhaltlichen Kunstgriff vornimmt, der hier nicht verraten werden soll, weil dadurch der Clou der Handlungskonstruktion zu früh preisgegeben wäre, durch den aber jede Identifikation des Romanpersonals mit der Familie des Autors gegenstandlos wird. Die psychologische Präzision der Figurenkonstellation profitiert jedoch zweifellos von Grünbergs eigener Biographie, und wer die Erinnerungen von Hannelore Grünberg-Klein liest, wird manche im Roman nur angedeutete Charakterprägung von Frau Kadoke besser einzuschätzen wissen. Also lohnt sich deren Lektüre sogar noch über die Bedeutung hinaus, die dieses Zeugnis eines individuellen jüdischen Schicksals in der Schoa als solches bereits besitzt.

Wobei es gegen "Muttermale" spricht, dass der Roman nicht aus sich selbst heraus alle Informationen bereitstellt, die ein Leser zum Verständnis der wichtigsten Frauenfigur braucht. Das setzt sich leider fort in den zahlreichen weiteren Frauen, die Grünberg um seinen Protagonisten Kadoke versammelt: neben den beiden Pflegerinnen noch die farbige Assistenzärztin Dekha, Kadokes geschiedene Ehefrau Deborah und vor allem die neunundzwanzigjährige Suizidpatientin Michette. Sie wird von dem Psychiater als neue Hilfskraft im Haus der Mutter eingesetzt, was er als "alternative Therapie" beschönigt, obwohl der private Nutzen, den er daraus zieht, natürlich gegen alle Regeln verstößt. Dass Michette ihr Leiden am Leben durch Schmerzen übertönen will und sich deshalb regelmäßig ritzt sowie Chlorreiniger trinkt, ist für die von ihr betreute Auschwitz-Überlebende unbegreiflich. Aber auch den Lesern wird die Motivation der jungen Frau nicht klar genug. Grünbergs Stärke als Erzähler liegt mehr im Exemplarischen als im Existentiellen: Die Frauen um Kadoke sind jeweils nur Abziehbilder für bestimmte soziale und ethnische Gruppen.

Und der Psychiater selbst steht für eine Haltung gegenüber dem Leben, die in Isolation ihr Heil sucht. Zum eigenen Beruf fragt er: "Eigentlich sind wir also Kopfschmerztabletten in Menschengestalt?" Und fährt dann fort: "Ich weiß nicht, ob ich dazu da bin, das Leiden zu lindern. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich bin dazu da, um Dinge zu verhindern, soweit möglich." Sich auf die jeweiligen Ursachen seiner Patienten, sich umbringen zu wollen, einzulassen, lehnt er ab. Hauptantrieb im Umgang mit seiner Mutter, deren Tod absehbar, für ihn aber inakzeptabel ist, ist denn auch vorrangig Prävention.

Die ménage à trois im mütterlichen Haus, die für Kadoke allerlei Herausforderungen bietet, die er aber durch Selbstverleugnung zu meistern versteht, endet schließlich doch in der Abnabelung - so wie sich der Psychiater einige wuchernde Muttermale (daher der Titel des Romans) herausschneiden lässt. Arnon Grünberg hätte diesen Stoff vor dem Tod der eigenen Mutter nicht schreiben können, denn auch diese Erfahrung steckt verklausuliert mit im Buch; die Kaschierung durchs Komische vermag das nicht zu überspielen. Doch "Muttermale" ist weder Tragödie noch Komödie geworden, sondern ein unentschiedenes Buch. Das sind wir von diesem sonst so meinungsfreudigen Autor nicht gewöhnt. Heute Abend wird er zweifellos entschiedener auftreten.

ANDREAS PLATTHAUS

Arnon Grünberg: "Muttermale". Roman.

Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten und Andrea Kluitmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 442 S., geb., 24,- [Euro].

Hannelore Grünberg-Klein: "Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich dazu keine Zeit".

Nachwort von Arnon Grünberg. Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 167 S., Abb., geb., 17,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.11.2016

Trio mortale
Ein furioser Mix aus Fiktion
und autobiografischer Recherche:
In seinem neuen Roman „Muttermale“
erzählt der holländische
Schriftsteller Arnon Grünberg vom Leben
und Sterben seiner Mutter
VON JÖRG MAGENAU
Für den Schriftsteller Arnon Grünberg existieren Grenzen allenfalls, um sie zu überschreiten. „Normalität“ gibt es für ihn nicht – oder vielmehr dehnt er ihren Geltungsbereich so weit aus, dass sie auch die absonderlichsten Undenkbarkeiten, Wünsche und Lebensweisen umfasst. Dabei rückt er seinen Themen und Gegenständen stets so nahe wie möglich. Er ist der Reporter unter den Schriftstellern und der Literat unter den Reportern.
  Als Embedded Journalist begab er sich in den Irak und nach Afghanistan. Weil er sich für das Handwerk des Tötens interessierte, besuchte er Schlachthöfe und arbeitete dort mit, um zu erleben, wie es sich anfühlt, eine Kuh zu zerlegen. Als er über Psychiatrie schreiben wollte, ließ er sich als Patient in eine Klinik einweisen. Seine Romane erkunden den Möglichkeitsraum des Lebens; auch deshalb umkreist er immer wieder das Sterben und den Tod.
  Da mag es seltsam erscheinen, wenn er mit „Muttermale“ nun einen Roman vorlegt, der so etwas Intimes wie das Verhältnis des Sohnes zur Mutter thematisiert, und zwar mit durchaus autobiografischem Hintergrund. Aber auch da geht es ums Sterben und ums Leben. Ausgangspunkt ist die eher unfreiwillige Rückkehr des Sohnes ins Haus der alten, pflegebedürftigen und äußerst launischen Frau und damit der vielleicht riskanteste „embedded“-Einsatz: nämlich in eigener Sache. Nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 2015 notierte Arnon Grünberg in seinem Blog: „Jetzt muss ich meine eigene Mutter werden.“
  Was er damit meinte, lässt sich nun in dem Roman „Muttermale“ nachlesen. Und falls jemand den Verdacht haben sollte, es könnte sich um die humoristische Neuauflage von Loriots „Ödipussi“ handeln, dem wird beim Lesen sehr bald Hören und Sehen vergehen. Ein Muttersöhnchen – ja, durchaus. Aber was für eins! Und was für eine Mutter! Hannelore Grünberg-Klein hatte als eine der wenigen ihrer Familie die Deportation nach Auschwitz überlebt. Als Arnon Grünberg einmal mit ihr dorthin fahren wollte, sagte sie nur: „Was soll ich da, da war ich doch schon.“ Ihre Lebens- und Überlebenserinnerungen sind gerade unter dem Titel „Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich dazu keine Zeit“ auf Deutsch erschienen. Man sollte diesen in seiner unsentimentalen Wahrhaftigkeit beeindruckenden Bericht vom Überleben als Hintergrund zu Grünbergs Roman lesen, in dem diese Geschichte zwar anklingt, aber im Hintergrund bleibt.
  Aufgewachsen in einem jüdischen Elternhaus in Amsterdam, hat Grünberg sich nie als wirklicher Holländer empfunden. Seine Eltern sprachen weiter Deutsch, lasen deutsche Zeitungen und begriffen sich als Deutsche, auch wenn sie verfolgt und verjagt worden waren. Für Grünberg bedeutete das, in einem exterritorialen Gebiet zu leben. Sprachliche und nationale Unzugehörigkeit sind prägend für ihn und zur Voraussetzung seiner schriftstellerischen Arbeit geworden.
  Im Mittelpunkt von „Muttermale“ steht der Psychiater Otto Kadoke, der im Kriseninterventionsdienst arbeitet und immer dann gerufen wird, wenn jemand droht sich umzubringen. Dann muss er entscheiden, ob eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie nötig ist. Selbstverständlich hat Grünberg auch für diese Romanfigur gründlich recherchiert und einen Suizid-Notfallhelfer wochenlang begleitet. Dass Kadoke zwischen seinen Nachtdiensten nun aber auch noch die Mutter pflegen und versorgen muss, daran ist er selber schuld. Denn als er sie eines Tages besuchte, öffnet ihm das nepalesische Hausmädchen die Tür, nass aus der Dusche kommend, nur mit einem Handtuch verhüllt. Er liebt dieses Mädchen schon lange, weil es so gut zu seiner Mutter ist, und auch die Frau scheint ihm durchaus zugeneigt: der klassische Fall einer Übertragungsreaktion, die in Begehren umschlägt.
  Obwohl er sich dabei wie ein holländischer Kolonialherr fühlt, der sich nimmt, was er braucht, kommt es im Badezimmer nahezu zum Vollzug. Das Kondom hat er schon übergestreift, als die Mutter, klagend und mit blutenden Beinen, vor der offenen Badezimmertür steht. Die Folgen des nicht vollendeten Sexualaktes sind trotzdem verheerend. Am nächsten Tag erscheint der Verlobte der Nepalesin, schlägt Kadoke sorgfältig zusammen und nimmt die Freundin mit. Von da an muss er seine Mutter selber versorgen.
  Aber das ist nur der Auftakt zu einem fulminanten Romangeschehen. Kadoke weiß sich nicht anders zu helfen, als Michette, eine Borderlinerin, die vorzugsweise Putzmittel trinkt und von Kopf bis Fuß tätowiert und vernarbt ist,zur Betreuerin seiner Mutter zu machen. „Alternative Therapie“ nennt er das, in der Hoffnung, Verantwortung könne heilend wirken. In dem Kampf, der innerhalb dieses absurden Trios einsetzt, ist bald nicht mehr auszumachen, wer da wen therapiert und wo die Grenzen zwischen Wahn und Wirklichkeit verlaufen. Grenzen werden in diesem Buch geradezu systematisch überschritten: Aggression erscheint als wahre Form der Zuneigung, Liebe ist etwas, vor dem man sich besser in Sicherheit bringen sollte, und die Grenzen zwischen Leben und Tod, Mann und Frau, Ich und Du, Begehren und Zerstören sind hauchdünn.
  Grünberg verhandelt witzig, unterhaltsam und mit überraschenden Volten große Themen: die Frage nach der eigenen Identität und nach den Traumata, mit denen wir leben – den eigenen wie den fremden. Dabei kommt es – das ist Kadokes psychiatrische Überzeugung – nicht so sehr darauf an, sie zu „lösen“ oder die Ursachen zu finden und zu beseitigen, sondern darauf, mit den Traumata auf eine möglichst erträgliche Weise zu leben. Das gilt für die Mutter – deren Geheimnis nicht verraten werden darf – ebenso wie für die Patienten, vor allem aber für Kadoke selbst, der sich hinter der Professionalität und seinem Dasein als Sohn verschanzt, weil er darüber hinaus kein eigenes Leben hat.
  Seine Frau hat sich von ihm getrennt, zu mehr als zu Liebeleien mit Assistentinnen im Dienst ist er nicht mehr fähig. Die Annäherungen Michettes weist er zurück, denn die einzige Grenze, die es für ihn zu verteidigen gilt, ist die zwischen Therapeut und Patientin. Das ist nicht einfach, weil Michette ein Notizbuch führt, in dem sie alle Männer, mit denen sie schläft, mit einer Nummer versehen in eine Liste einträgt. Sie nimmt die Redewendung „eine Nummer zu schieben“ also sehr wörtlich. Doch Kadoke wehrt sich standhaft dagegen, in ihrem Notizbuch zu landen. Er duldet lediglich, dass Michette an seinen Muttermalen auf dem Rücken herumspielt, und als er sich diese Flecken entfernen lässt, schenkt er ihr die Hautfetzen in einer kleinen Dose. Mehr Liebe geht nicht.
  Kadoke ist eine Figur, die das eigene Ich mit seinen Bedürfnissen und Emotionen verleugnet und sich stattdessen ganz auf die anderen konzentriert. „Auf mich kommt es nicht an“, sagt er immer wieder und verzichtet auch auf den eigenen Vornamen. Diese Selbstverleugnung macht ihn aber zugleich zu einem Helden des Geltenlassens, der seine Mitmenschen nicht in dieser oder jener Weise verändern will, sondern sie in ihren Besonderheiten stärkt. Das ist seine Form der Therapie; und so ist schließlich sogar mit der äußerst launenhaften Mutter ein liebevolles Verhältnis möglich, indem er ihre wütenden Beschimpfungen als Form der Zuneigung begreift.
  „Muttermale“ ist ein Buch über die verschiedenen Erscheinungsformen der Liebe (und der Wut), über ihre Degeneration und ihre erstaunliche Zähigkeit. In der Eingangsszene des Romans echauffiert sich Kadoke darüber, dass der Rasen im Garten des Elternhauses so schlecht gegossen wurde und vergleicht Rasenpflege mit Liebe, habe doch beides mit Ausdauer und Verantwortungsbewusstsein zu tun: „Beharrlichkeit ist auch Liebe – die Weigerung aufzugeben. Der entscheidende Unwille zu verlieren, zu sterben: alles miteinander Formen der Liebe.“ So wird auch die Geschichte der Mutter, ihre im Roman höchst beiläufig angedeutete Lager-Vergangenheit, ihr Überlebenswille zu einem Liebesphänomen. Sie kann nicht sterben. Denn was würde dann aus dem Sohn werden?
  Arnon Grünbergs Kunst besteht darin, das Schwere und Schmerzvolle mit Witz und Leichtigkeit zu erzählen. Der Roman ist gespickt mit präzisen Beobachtungen und Erkenntnissen, wird aber niemals belehrend. Er behält das Staunen über die menschlichen Abgründe bei und betrachtet sie voller Neugier. „Muttermale“ ist ein kluges, menschenfreundliches und äußerst unterhaltsames Buch, leicht zu lesen, aber gar nicht leicht zu verdauen. Was kann man von Literatur denn mehr erwarten, als den Geltungsbereich der Normalität zu erweitern?
Die Grenzen zwischen Ich und Du,
Begehren und Zerstören, Tod
und Leben sind hier hauchdünn
Arnon Grünberg ist der Reporter unter den Literaten und der Literat unter den Reportern. Im neuen Buch hat er seinen bislang riskantesten „embedded“-Einsatz: nämlich in eigener Sache.
Foto: Bettina Fürst-Fastré
            
    
Arnon Grünberg:
Muttermale. Roman.
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten und Andrea Kluitmann. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 448 Seiten, 24 Euro. E-Book 20,99 Euro.
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