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In seinem vielfach preisgekrönten Roman "Neu-York" erzählt Francis Spufford von einem geheimnisvollen Fremden, von Liebe und von Sklaverei in einem Amerika vor der Unabhängigkeit.
Ob er aus London komme, fragt die New Yorkerin den Fremden, und als er das bestätigt, will sie ihn schüchtern um etwas bitten, tut sich allerdings schwer damit, es auszusprechen: "Dann haben . . . haben Sie . . . könnten Sie doch . . . vielleicht . . ." Da fällt ihr die Schwester ins Wort, um verächtlich zu erklären, dass es der Schüchternen um Romane gehe: "Denn die verschlingt sie wie Laudanum und kennt schon alle, die New York zu bieten hat, sodass sie jeden Reisenden um neue Lektüre anbettelt." Das New York des Jahres 1746, in dem Francis Spuffords erster Roman spielt, mag zwar der bücherliebenden Flora Lovell zu wenig Lesestoff bieten, aber die einst holländische, nun britische und künftig amerikanische Stadt wird bei Spufford ein brodelnder Ort voller Geschichten, die nur auf solch einen klugen Erzähler gewartet zu haben scheinen.
Spufford ist Brite, Sachbuchautor, Dozent am Londoner Goldsmiths College und mit Anfang fünfzig ein spät debütierender Romancier, der für "Neu-York" inzwischen schon mit drei angesehenen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. An Allerheiligen lässt er den jungen Richard Smith in New York ankommen und sogleich, "über Rübenblätter und Katzengedärm und all die Ausflüsse des Hafens" rutschend, zu Gregory Lovell, dem Vater der beiden Schwestern, eilen, um dem Händler einen Wechsel über tausend Pfund vorzulegen. Lovell ist verpflichtet, die hohe Summe in sechzig Tagen auszuzahlen. Dass Smith sich weigert, zu verraten, was er mit dem Geld vorhat, macht ihn verdächtig - und interessant - für die New Yorker. Seine Ankunft wird zum Stadtgespräch, noch bevor er überhaupt damit begonnen hat, den Auftrag, der ihn nach Amerika bringt, auszuführen.
Als Smith tags darauf die Stadt erkundet, wird ihm die Brieftasche gestohlen, in der das Geld ist, von dem er bis zur Auszahlung des Wechsels hätte leben wollen. Da ihm ohnehin der Ruf vorausgeht, ein reicher Mann zu sein, kann er seine Mittellosigkeit noch verbergen, indem er anschreiben lässt, ob in der Pension oder im Kaffeehaus, wo er Septimus Oakeshott begegnet. Der Sekretär des Gouverneurs warnt Smith: Die New Yorker seien "ungebärdig, argwöhnisch und aufbrausend - sie zu regieren ist die Hölle".
Die Geschichte New Yorks ist eine Geschichte des Kontrasts von bürgerlicher Kultiviertheit und entgrenzter Gewalt. Die Stadt war 1746 klein und relativ jung; einer von fünf Einwohnern war ein schwarzer Sklave. Nachdem 1712 ein Sklavenaufstand gescheitert war, wurden die Verurteilten gehängt oder verbrannt - und einen band man aufs Rad, um ihm die Knochen einen nach dem anderen mit einer Stange zu zertrümmern. Als 1741 bei einer Serie von zehn Feuern auch das britische Fort brannte, wurden dreißig Sklaven und, als angebliche Anführer der Verschwörung, vier Weiße hingerichtet.
In den zwei Monaten, die er in New York verbringt, trifft Smith auf reale historische Figuren wie den Richter James DeLancey. Gelegentlich verdreht Spufford jedoch historische Fakten, um erzählerische Effekte zu steigern. Smith sitzt zeitweilig im Schuldturm und hat dort einen Mithäftling, der jede Drecksarbeit übernimmt, für die sich die New Yorker zu fein sind. Von ihm hört Smith vom Brand des Forts, und der Gefangene erläutert genüsslich, wie er 1741 dem geräderten Sklaven die Knochen gebrochen habe. Es ist ein Anachronismus, aber indem Spufford die brutale Hinrichtung von 1712 nach 1741 verlegt und einer fiktiven Figur zuschreibt, lässt er den Handlanger der Mächtigen noch diabolischer wirken.
Am "Papsttag" erfährt Smith am eigenen Leib, wie leicht man in New York in Lebensgefahr geraten kann. Protestanten ziehen in einer Parade zum Stadtrand und verbrennen Puppen des Papstes und anderer Katholiken. Bei dem trunkenen Fest wird Smith unterstellt, ein "Papist" zu sein. Ein Fleischer geht mit dem Klappmesser auf ihn los, aber plötzlich taucht Oakeshott auf und verhilft Smith zur wilden Flucht über die Dächer der nächtlichen Stadt.
In Smith als geheimnisvollem Fremden und Oakeshott als Retter in letzter Minute finden sich natürlich Romanklischees, mit denen Spufford meisterlich spielt. Das Buch macht immer wieder das romanhafte Erzählen - im achtzehnten Jahrhundert eine junge literarische Form - zum Thema. Das geschieht zum einen durch die Figuren selbst, denn der begeisterten Leserin Flora steht ihre spöttische Schwester Tabitha gegenüber, die Romane für verlogen hält und als "Schmant für kleine Geister" abtut. Zum anderen hat "Neu-York" eine sich einmischende Erzählstimme, die den Roman mit einem einundzwanzig Zeilen langen Satz sprachsprudelnd beginnt, nur um bald darauf bei der Beschreibung des Händlers Lovell mundfaul zu werden: "in aller Kürze seine Eigenschaften, soweit für einen ersten Eindruck nützlich". Wer da erzählt, erweist sich erst ganz am Ende.
Tatsächlich hat Smith einen Roman im Gepäck, den er Flora mitbringt, als er bei den Lovells zum Abendessen eingeladen ist. Am Tisch mit der Händlerfamilie und ihren Gästen übergibt er Tabitha das Buch, damit die es Flora weiterreiche, woraufhin Tabitha es quer über die edle Tafel schleudert. Zwischen Zank und Zuneigung entsteht bei den Aufeinandertreffen von Smith und Tabitha das Porträt einer frechen, sehr schlauen, doch auch selbstzerstörerischen Frau, die quersteht zu den Konventionen ihrer Zeit. Ebenso vielschichtig ist der Staatsdiener Oakeshott gezeichnet, der ein Repräsentant von Recht und Ordnung ist, aber heimlich ein Verhältnis mit dem Sklaven Achilles führt - und mit dieser rassenübergreifenden Liebe unter Männern gleich zwei Tabus bricht.
Über Smiths Identität und seine Absichten soll vorab nichts weiter gesagt werden. Fasziniert folgt man ihm jedenfalls lesend durch das koloniale New York. Romane sind schließlich nicht nur zum Werfen da.
THORSTEN GRÄBE
Francis Spufford: "Neu-York". Roman.
Aus dem Englischen von Jan Schönherr. Rowohlt Verlag, Reinbek 2017. 396 S., geb., 19,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
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