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Die Neue Welt stand im Zentrum mannigfacher Interessen. Nur langsam aber wurde sie zu einem Raum des Imaginären, des Utopischen sowie der Fremd- und Selbsterfahrung. Christian Kiening beschreibt erstmals zusammenhängend, wie die beiden Amerika als Gegenstand ästhetischer, literarischer und wissenschaftlicher Sinnstiftung entdeckt werden, wie komplexe Austauschprozesse und Schnittfelder entstehen und Figuren des Übergangs - der verwilderte Europäer und der europäisierte 'Wilde' - auftauchen. Behandelt werden die vielfältigen Geschichten von Alterität und Mimesis, von utopischen und…mehr

Produktbeschreibung
Die Neue Welt stand im Zentrum mannigfacher Interessen. Nur langsam aber wurde sie zu einem Raum des Imaginären, des Utopischen sowie der Fremd- und Selbsterfahrung. Christian Kiening beschreibt erstmals zusammenhängend, wie die beiden Amerika als Gegenstand ästhetischer, literarischer und wissenschaftlicher Sinnstiftung entdeckt werden, wie komplexe Austauschprozesse und Schnittfelder entstehen und Figuren des Übergangs - der verwilderte Europäer und der europäisierte 'Wilde' - auftauchen. Behandelt werden die vielfältigen Geschichten von Alterität und Mimesis, von utopischen und literarischen Inseln. Kienings brillante Studie bietet eine Vorgeschichte von Exotismus und Natursehnsucht und lässt die kulturellen und historischen Bedingungen erkennen, unter denen Fremdes als Fremdes repräsentiert wird.
Autorenporträt
Dr. Christian Kiening ist Ordinarius für Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich, Schweiz.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.02.2007

Wilde Ungeheuer! Wildere Schlangen! Wildeste Menschen!
Wie die Grenzen zwischen den Kannibalen und den zivilisierten Europäern verschwammen: Christian Kienings Poetik der Neuen Welt
Über die europäische Auseinandersetzung mit dem Wilden im Zuge der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten so viele Untersuchungen erschienen, dass kaum noch sonderlich aufregende Ergebnisse zu erwarten sein sollten. Man könnte auch sagen: Das Thema ist durch. Insofern ist der Züricher Literaturwissenschaftler und Mediävist Christian Kiening kein geringes Risiko eingegangen, als er es noch einmal aufgegriffen hat. Dass er in der Tat beabsichtigt, etwas Neues zu präsentieren, demonstriert schon der Titel seines Buches: „Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der Neuen Welt”. Damit distanziert sich Kiening von älteren Untersuchungen, die vorwiegend den Objektstatus der als „gute” oder „böse Wilde” klassifizierten indigenen Bevölkerung Amerikas betonten.
Kiening spricht demgegenüber vom „wilden Subjekt” und pointiert damit seine zentrale These, wonach der Wilde in den Berichten der Europäer keineswegs nur als Objekt erscheint, sondern als handelndes, denkendes und sprechendes Subjekt, das als Gegenfigur des „zivilisierten” Eroberers diesen nicht nur nötigt, den Wilden in dessen eigener kulturellen Perspektive zu beschreiben, sondern zur Reflexion seiner eigenen Identität zwingt. Unter dieser Prämisse gilt Kienings Interesse der poetologischen Frage, wie die Neue Welt vom Erfahrungs- zum Erzählraum der Alten Welt wird und der Wilde, ob als guter oder als böser Wilder, zu einer Figur der europäischen Literatur, die immer neue poetische Entwürfe anregt und letztlich nur dadurch gebändigt werden kann, dass schließlich der Europäer selbst den Platz des Wilden einnimmt.
Um diese Entwürfe zu verfolgen, spannt Kiening einen weiten Bogen von den Entdecker- und Erobererberichten des frühen 16. Jahrhunderts bis in die Literatur des 19. Jahrhunderts, wobei sein Schwerpunkt auf der Frühen Neuzeit liegt. Er entwickelt seine These historisch-systematisch; er geht nicht einfach chronologisch vor, sondern anhand rhetorischer und poetologischer Fragen, und dabei geht es ihm weniger um den Kern der Berichte und Erzählungen, sondern des Berichtens, Erzählens und Repräsentierens. Wie berichtet man von der Neuen Welt? Zunächst, indem man einer Rhetorik der Innovation eine Rhetorik der Erfahrung zur Seite stellt: Die Neue Welt ist unfassbar, ganz unglaublich, aber ich habe es selbst gesehen.
Diese Rhetoriken des Neuen, die die ersten Jahrzehnte nach der Entdeckung Amerikas beherrschen, werden im Laufe des 16. Jahrhunderts von einer Poetik der Passion abgelöst, in der die Eroberer in bemerkenswerter Umkehrung der tatsächlichen Macht- und Gewaltverhältnisse sich selbst als Märtyrer der europäischen Expansion inszenieren. In den zunehmenden Gefangenschaftsberichten von Europäern, die den Kannibalen ausgeliefert waren und ihre Nahperspektive deutlich hervorheben, erscheint der Kannibalismus nicht mehr als unerklärlich grausame, sondern als begründbare kulturelle Praktik, und damit verschwimmen zugleich die Grenzen zwischen den wilden Menschenfressern und den zivilisierten Europäern: Wenn der Bericht des Engländers Antony Knivet mit den reißerischen Worten angekündigt wird, hier erfahre man von „wilde Beasts, wilder Serpents, wildest Men”, dann bleibt letztlich unklar, wer gemeint ist: die grausamen Kannibalen oder die brutalen Portugiesen, vor denen Knivet zu den Menschenfressern flieht, denen er kurz zuvor entronnen war.
Stolz und Schiffbruch
Damit nimmt der böse Wilde eine Position ein, die vordem nur dem guten Wilden zugedacht war: die eines Gegenpols zur eigenen verworfenen Welt. Freilich ist der böse Wilde, so Kiening, eine komplexere Gestalt: Seine Kennzeichen sind nicht Herrschaftsfreiheit, sondern Unbeherrschbarkeit, nicht ängstliche Unterwürfigkeit, sondern stolzes Beharren auf der eigenen Identität. In dieser Widerständigkeit entwickelt das „wilde Subjekt” nach Kiening eine ganz eigene poetische Kraft und wird damit von der Neuen Welt zunehmend ablösbar.
Eines der zentralen Kapitel widmet sich deshalb Shakespeares „Der Sturm”. Die Insel, die Prospero mit Hilfe seiner Zauberkunst unterworfen hat, liegt im Mittelmeer, und sie hat neben Erd- und Luftgeistern vor Prosperos Ankunft nur einen einzigen Bewohner: Caliban. Caliban ist also kein Wilder aus der Neuen Welt, und doch ist er ohne den Rekurs auf den Wilden nicht denkbar. Das erweist sich nicht nur an seinem Namen, der offensichtlich ein Anagramm von Canibal ist, es zeigt sich auch in den Dialogen zwischen Caliban und Prospero, in denen immer wieder Calibans Widerspenstigkeit deutlich wird. Prospero beherrscht den Luftgeist Ariel, aber nicht Caliban, auch wenn er von ihm sagt, „this thing of darkness I acknowledge mine”. Damit verkörpert Caliban das, was in den Beschreibungen der Neuen Welt zunehmend in den Mittelpunkt tritt: jenes wilde Subjekt, das zugleich unterworfen und unbeherrschbar ist.
Von dieser immer wieder scheiternden Aneignung des Wilden her beschreibt Kiening, wie er als Gegenstand durch den Europäer in der Wildnis ersetzt wird. Die zentrale poetische Gelenkstelle dieser Erzählungen ist der Schiffbruch, der schon in der Antike als Ausdruck des Ausgeliefertseins fungierte. Die Gegenpole der sich daraus ergebenden poetischen Entwürfe bilden Grimmelshausens „Continuatio” zum Simplicissimus und Defoes Robinson Crusoe: Während die wilde Insel bei Grimmelshausen zum eremitischen Zufluchtsort wird, erscheint sie bei Defoe als Bewährungsort der europäischen Identität. Das mag im Hinblick auf Defoe nicht sonderlich originell sein, aber insgesamt macht Christian Kienings kleine Poetik der Neuen Welt deutlich, dass eine kulturwissenschaftlich fundierte und literaturwissenschaftlich inspirierte Fragestellung auch an einem scheinbar abgegriffenen Thema zahlreiche neue Entdeckungen machen kann. MARINA MÜNKLER
CHRISTIAN KIENING: Das wilde Subjekt. Kleine Poetik der Neuen Welt. Vandenhoeck & Rupprecht, Göttingen 2006. 311 Seiten, 32,90 Euro.
Das wilde Subjekt, unterworfen und unbeherrschbar zugleich: Michael Clark als Caliban in Peter Greenaways Film „Prosperos Bücher” von 1991 Foto: Cinetext
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Bemerkenswert findet Marina Münkler diese Studie über die "Poetik der Neuen Welt" von Christian Kiening, auch wenn das Thema - die europäische Auseinandersetzung mit dem Wilden im Zuge der Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt - abgefrühstückt scheint. Münkler entdeckt bei Kiening nämlich durchaus neue Perspektiven auf das Thema. Gespannt folgt sie seiner Untersuchung von Entdecker- und Erobererberichten vom frühen 16. Jahrhundert bis in die Literatur des 19. Jahrhunderts. Dabei widme sich Kiening insbesondere den zahlreichen poetologischen Entwürfen, die von der Figur des Wilden in der europäischen Literatur angeregt wurden. Insgesamt wird für Münkler deutlich, dass der Wilde in den Berichten der Europäer keineswegs nur als Objekt erscheint, sondern als Subjekt, das den "zivilisierten" Europäer zum Nachdenken über seine eigene Identität zwinge.

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