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Das Radio war das zentrale Leitmedium der Nachkriegszeit und eines der wichtigsten Erziehungsmittel der alliierten "Re-education" in Westdeutschland. Am Beispiel des Schulfunks geht Melanie Fritscher-Fehr der Frage nach, welchen Beitrag der öffentlich-rechtliche Rundfunk als geschichtskultureller Akteur zur Demokratisierung der Bundesrepublik leistete. Ihre Untersuchung der Genese von historischem und gesellschaftlich relevantem Wissen im Rundfunk legt bislang unbekannte Netzwerke zwischen Rundfunk und Geschichtswissenschaft offen und spürt dem Einfluss zeitgenössisch führender Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf die Massenmedien nach.…mehr

Produktbeschreibung
Das Radio war das zentrale Leitmedium der Nachkriegszeit und eines der wichtigsten Erziehungsmittel der alliierten "Re-education" in Westdeutschland. Am Beispiel des Schulfunks geht Melanie Fritscher-Fehr der Frage nach, welchen Beitrag der öffentlich-rechtliche Rundfunk als geschichtskultureller Akteur zur Demokratisierung der Bundesrepublik leistete. Ihre Untersuchung der Genese von historischem und gesellschaftlich relevantem Wissen im Rundfunk legt bislang unbekannte Netzwerke zwischen Rundfunk und Geschichtswissenschaft offen und spürt dem Einfluss zeitgenössisch führender Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf die Massenmedien nach.
Autorenporträt
Fritscher-Fehr, MelanieMelanie Fritscher-Fehr wurde an der Universität Freiburg promoviert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählten Medien- und Kulturgeschichte, öffentliche Geschichtsnarrative sowie Hörfunk- und Wissensgeschichte. Sie arbeitet als Referentin in der Stabsstelle »Strategie und Hochschulentwicklung« der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.07.2019

Den "verdrehten Geist" der Jugend entwirren
Die Bedeutung des Schulfunks für die Werteerziehung in Deutschland nach 1945

Ein Radio ist bekanntlich ein Gerät, mit dem man Hörfunksendungen empfangen kann. Nicht mehr und nicht weniger. Als technischer Apparat ist es weltanschaulich neutral, und deshalb ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass die Nationalsozialisten den Rundfunk ebenso effizient zu verwenden wussten wie die Siegermächte nach 1945. Doch während die physikalischen Voraussetzungen der Rundfunktechnik nicht von politischen Systemwechseln bestimmt werden, sind die Inhalte und Formate unverkennbar ideologischen Konjunkturen unterworfen. Dass die Demokratie nur "eine Form" sei und solche Formen "wechseln", sich "ins Gegenteil verkehren", ja "missbraucht" werden können, war einer klugen Beobachterin wie Margherita von Brentano, die von 1950 bis 1954 die Schulfunkredaktion des Südwestfunks leitete, nur allzu bewusst.

Nicht von ungefähr stehen diese warnenden Worte am Beginn von Melanie Fritscher-Fehrs lesenswerter Studie zur Bedeutung des Schulfunks für die Werteerziehung im Nachkriegsdeutschland. Auch das Radio sollte seinen Beitrag zur "Re-Education" leisten, und es war, in den Worten von Fred J. Taylor, einem amerikanischen Rundfunkoffizier bei Radio Stuttgart, gerade "der Funk", der dafür prädestiniert zu sein schien, den "verdrehten Geist" der jungen Generation zu entwirren. Dabei setzten die intellektuellen Aufräumarbeiten, die gleichsam die Trümmer in den Köpfen beseitigen sollten, zwar bei den Kindern und Jugendlichen an, zielten jedoch letztlich auf die gesamte Gesellschaft.

Mit dem Schulfunk, der seit 1945 fast täglich historische Bildungssendungen ausstrahlte, wendet sich dieses Buch also keinesfalls einer nebensächlichen Angelegenheit zu. Mit neuen Lehrinhalten, insbesondere in den Fächern Deutsch und Geschichte, waren vielmehr auch neue Ordnungsvorstellungen verbunden, und die Frage, ob man das Bismarckreich als modernen Verfassungsstaat oder als autoritären Sündenfall betrachtete, hatte unmittelbare Auswirkungen für die Wahrnehmung der eigenen Gegenwart.

Diese geschichtspolitischen Implikationen des Schulfunks verfolgt Melanie Fritscher-Fehr für den Südwestfunk (SWF) und den Süddeutschen Rundfunk (SDR). Dabei treten erhellende Unterschiede zutage, sowohl zwischen den einzelnen Besatzungszonen als auch hinsichtlich der Zusammensetzung der Redaktionen. So bedienten sich die Amerikaner bei Kriegsende gern ihrer vielfältigen Erfahrungen mit dem Fernunterricht ("school of the air"), während die Franzosen auf Schulfunksendungen zunächst komplett verzichteten. Vom weltanschaulichen Profil her präsentierten sich die Redaktionen in den Anfangsjahren alles andere als stromlinienförmig: Konservative Journalisten arbeiteten dort neben bekennenden Sozialisten wie etwa Karl Kuntze, der den Schulfunk bei Radio Stuttgart leitete, bis er 1951 inmitten des sich verschärfenden Kalten Kriegs seinen Hut nehmen musste.

Die "Widersprüche und Unsicherheiten" im Alltag der Redaktionen, wo es immer auch um Netzwerke, Freundschaften und Honorarsummen ging, lässt diese Studie deutlich hervortreten. So konnte man in Schulfunksendungen beispielsweise auf der einen Seite nachdrücklich für eine freiheitlich-demokratische Wertekultur eintreten und auf der anderen Seite den Nationalsozialismus als einen bloßen Betriebsunfall der deutschen Geschichte darstellen. Aufschlussreich ist es, wie stark die Sendungen des Schulfunks, unabhängig vom parteipolitischen Standort des einzelnen Redakteurs, auf die Nation fixiert blieben. Gerade weil der Nationalstaat in Trümmern lag, wurde er offensichtlich einhellig bejaht. Weniger einhellig fielen die Antworten auf die Frage aus, wie die Vorstellung eines solchen Nationalstaats inhaltlich zu füllen wäre.

In diesem Zusammenhang beobachtet Melanie Fritscher-Fehr, nach einer experimentellen Phase in den späten vierziger Jahren, zunächst eine Hinwendung zur Geschichte des 19. Jahrhunderts: Die Revolution von 1848 wurde als Beleg für die demokratische Tradition eines guten Deutschlands präsentiert, Bismarck erschien als "ehrlicher Makler" und Friedenspolitiker. Dass der Schulfunk bei seinen Ausflügen ins Mittelalter auch auf die Bedeutung der deutschen Siedlungsgebiete in Osteuropa zu sprechen kam, ist vor diesem Hintergrund wenig überraschend. Und ebenso wenig überraschend ist es, dass es nicht selten Schüler von Gerhard Ritter und Hans Rothfels waren, die mit Blick auf die millionenfache Erfahrung von Flucht und Vertreibung nach 1945 versuchten, in den Sendungen des SWF und des SDR die deutsche Ostsiedlung historisch zu legitimieren.

Seit Mitte der fünfziger Jahre entwickelte der Schulfunk ein zunehmend kritisches Potential. Einen wichtigen Ausgangspunkt bildeten die Arbeiten von Karl Dietrich Bracher, die die Weimarer Republik im Allgemeinen und den Parlamentarismus im Besonderen einer Neubewertung unterzogen. Sie waren ein ebenso gewichtiger Baustein für die demokratische und liberale Umgestaltung der deutschen Gesellschaft wie die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Es war Eberhard Jäckel, der sich 1956 - soeben in Freiburg promoviert - mit der Bitte an den Schulfunk wandte, "über die nationalsozialistische Judenpolitik, Verlauf, Ursachen und Hintergründe etwas zu bringen". Die Verfolgung jüdischer Kinder in Polen, das unmenschliche Leben im Krakauer Getto, die Verbrechen in Arbeits- und Vernichtungslagern - all dies wurde in Sendungen des SWF-Schulfunks seit den fünfziger Jahren thematisiert.

Insgesamt vermittelt die Studie einen treffenden Eindruck davon, wie es dem Hörfunk in der Nachkriegszeit gelang, sich als ein "zentraler Ort der Aushandlung einer bundesrepublikanischen Selbstverständigung" zu etablieren. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob die Entscheidung der Verfasserin, sich auf zwei Rundfunkanstalten im deutschen Südwesten zu beschränken, sinnvoll ist. Der weitgefasste Anspruch der Studie, wie er im Untertitel anklingt, lässt sich auf dieser Basis jedenfalls nicht überzeugend einlösen. Noch schwerer wiegt womöglich der Einwand, dass die Rolle des Radios als "geschichtskultureller Akteur", die im Mittelpunkt des Buches steht, keinesfalls ausschließlich in den Sendungen des Schulfunks greifbar wird. Nach 1945 wurde Geschichtskultur im Rundfunk auch dort ausgehandelt, wo das Label "Geschichte" auf den ersten Blick überhaupt nicht zu sehen war: in Diskussionsrunden, Reportagen und Features über Politik, Literatur oder Religion beispielsweise, in Hörspielen und Nachtgesprächen zu Themen der Zeit. Diese Formate waren mindestens ebenso stark an der Entwicklung von historischen Narrativen und der Ausbildung eines bundesrepublikanischen Geschichtsbewusstseins beteiligt wie der Schulfunk, der aufgrund seiner Sendezeiten vielfach als Hausfrauenprogramm belächelt wurde. Den Wert der Studie von Melanie Fritscher-Fehr schmälert dies nicht. Für weitere Forschungen ist jedoch reichlich Platz.

CARSTEN KRETSCHMANN.

Melanie Fritscher-Fehr: Demokratie im Ohr. Das Radio als geschichtskultureller Akteur in Westdeutschland, 1945-1963.

Transcript Verlag, Bielefeld 2019. 487 S., 49,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Eine materialreiche,sauber gearbeitete Monographie, welche hoffentlich weitere Forschung zum Zusammenhang von Rundfunk, Geschichtskultur und Demokratie inspirieren wird.« Nina Verheyen, Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 22 (2020) »Lesenwert, sowohl für Schulfunkinteressierte, als auch für Leser_innen, die sich für Rundfunkgestaltung und -inhalte der Nachkriegszeit interessieren und über mögliche demokratisierende Effekte des Rundfunks nachdenken mögen.« Tabea Bodenstedt, Rundfunk und Geschichte, 3/4 (2020) »Für alle Medienwissenschaftler_innen, die sich für den Schulfunk interessieren, sowie Historiker_innen, die sich mit medial vermittelter Geschichte auseinandersetzen, ist dieses Buch [...] zu empfehlen.« Tanja Weber, MEDIENwissenschaft, 2-3 (2020) O-Ton: »Keineswegs eine ideologiefreie Wertevermittlung« - Melanie Fritscher-Fehr im Interview bei L.I.S.A. Wissenschaftsportal der Gerda Henkel Stiftung am 10.09.2019. »Die Studie [vermittelt] einen treffenden Eindruck davon, wie es dem Hörfunk in der Nachkriegszeit gelang, sich als 'zentraler Ort der Aushandlung einer bundesrepublikanischen Selbstverständigung' zu etablieren.« Carsten Kretschmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.07.2019 Besprochen in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte, 22 (2020), Nina Verheyen