Sind wir die geworden, die wir sein wollten?»Damit hatte er nicht rechnen können, ausgerechnet hier, am Mare Balticum, von seinem Vorleben eingeholt zu werden.« Uwe Timm erzählt vom späten Wiedersehen zweier Männer, die in den frühen Sechzigern, noch vor dem großen Aufbruch, als Studenten in München ihren Weg suchten.Am Freitisch saßen sie mittags beieinander, in der Kantine einer spendablen Versicherung, und ihre Gespräche kreisten um Gott und die Welt und einen gemeinsamen Bezugspunkt: Arno Schmidt. Als sie sich in Anklam wiedertreffen, prallen zwei Lebensentwürfe aufeinander. Der Erzähler hat hier als Lehrer gearbeitet, Deutsch und Geschichte, und führt seit seiner Pensionierung ein Antiquariat. Der andere, Euler, damals Mathematiker mit literarischen Ambitionen, kommt als Investor und sondiert das Terrain, um eine Mülldeponie zu bauen.Beide helfen sich und der Erinnerung auf die Sprünge, geben Anekdoten zum Besten, zitieren ihre Lektüren und landen immer wieder bei dem Dritten im Bunde: Falkner, der damals schrieb, ohne jemals einen Text vorzuzeigen, und mittlerweile ein bekannter Schriftsteller ist. Und bei jener merkwürdigen Reise, die sie in die Heide, zu Arno Schmidts Grundstück führte.Wie man wurde, was man ist, und was man vielleicht hätte werden können - davon handelt Uwe Timms geistreiche, gewitzte, glänzend geschriebene Novelle, die voller Anspielungen steckt und der existenziellen Frage nachgeht: Was lässt sich umsetzen von den Wünschen und Hoffnungen, mit denen man angetreten ist?
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2012In der Grabbelkiste
der Vergangenheit
Von Boccaccio bis heute sind Novellen immer Sozialisationsgeschichten. Uwe Timm macht mit „Freitisch“ keine Ausnahme. Nach vierzig Jahren treffen sich in Anklam zwei Studienfreunde wieder. Euler und der Erzähler beginnen bei Bier und Kaffee in der „Grabbelkiste der Vergangenheit zu wühlen“. Die Bundesrepublik der frühen Sechzigerjahre nimmt Gestalt an, Lübke, Happenings, die ersten Krawalle.
Damals hockten sie in der Kantine einer Münchner Versicherung und schwadronierten über Frauen, das Leben, die Literatur. Die meisten Gespräche besaßen ein Thema: Arno Schmidt. Nur Freund Falkner schloss sich der Verehrung des Miesepeters aus der Heide nicht an. Er war schwerer Existenzialist. Euler aber pilgerte eines Tages nach Bargfeld. Wie er bei seinem Besuch den Verfechter einer „voll=biegsamen“ Sprache dann hinter dem Zettelkasten hervorlockt, sei nicht verraten. Timms Novelle ist ein leichtfüßiges, geistreiches Spiel mit der Gattung und ihren Konventionen. Am Ende trennen sich Euler und der Erzähler um die Erkenntnis reicher, dass viele einstige Träume unter die Räder des Lebens geraten sind: „Eine traurige Ferne.“
FLORIAN WELLE
Uwe Timm:
Freitisch. Novelle.
dtv, München 2012.
144 Seiten, 8,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
der Vergangenheit
Von Boccaccio bis heute sind Novellen immer Sozialisationsgeschichten. Uwe Timm macht mit „Freitisch“ keine Ausnahme. Nach vierzig Jahren treffen sich in Anklam zwei Studienfreunde wieder. Euler und der Erzähler beginnen bei Bier und Kaffee in der „Grabbelkiste der Vergangenheit zu wühlen“. Die Bundesrepublik der frühen Sechzigerjahre nimmt Gestalt an, Lübke, Happenings, die ersten Krawalle.
Damals hockten sie in der Kantine einer Münchner Versicherung und schwadronierten über Frauen, das Leben, die Literatur. Die meisten Gespräche besaßen ein Thema: Arno Schmidt. Nur Freund Falkner schloss sich der Verehrung des Miesepeters aus der Heide nicht an. Er war schwerer Existenzialist. Euler aber pilgerte eines Tages nach Bargfeld. Wie er bei seinem Besuch den Verfechter einer „voll=biegsamen“ Sprache dann hinter dem Zettelkasten hervorlockt, sei nicht verraten. Timms Novelle ist ein leichtfüßiges, geistreiches Spiel mit der Gattung und ihren Konventionen. Am Ende trennen sich Euler und der Erzähler um die Erkenntnis reicher, dass viele einstige Träume unter die Räder des Lebens geraten sind: „Eine traurige Ferne.“
FLORIAN WELLE
Uwe Timm:
Freitisch. Novelle.
dtv, München 2012.
144 Seiten, 8,90 Euro.
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Timms Novelle ist ein leichtfüßiges, geistreiches Spiel mit der Gattung und ihren Konventionen. Florian Welle Süddeutsche Zeitung 20121005