Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der Schauspieler Joachim Meyerhoff hat aus seinem Bühnen-Solo am Wiener Burgtheater „Alle Toten fliegen hoch“ einen höchst vergnüglichen Coming-of-Age-Roman gemacht
Die Entscheidung fällt bei der Beantwortung des Fragebogens: Wie wichtig ist der Aufenthalt in einer großen oder mittelgroßen Stadt? Unwichtig. Wie wichtig ist die Nähe zur Natur? Sehr wichtig. Wie wichtig ist Religion für dich? Sehr wichtig. Einige Zeit später schickt die Agentur die Adresse der Gastfamilie. Nicht New York, nicht Kalifornien. Kein urbane Erfahrung und kein Beach Boys-Surferfeeling, stattdessen: Laramie, Wyoming. Noch nicht einmal die größte Stadt in einem auf der Landkarte leeren, streng rechteckigen Staat, der von zwei blauen Straßenlinien durchkreuzt wird. So groß wie England, bevölkert von 500 000 Menschen. Ein Zuhause bei einer Familie mit Topffrisuren und Cordanzügen. Eine Amerikaerfahrung der etwas anderen Art.
Seit 2007 erzählt der Schauspieler Joachim Meyerhoff auf der Bühne des Wiener Burgtheaters mit großem Publikumserfolg sein Leben. Mittlerweile geht Meyerhoff mit seinem auf sechs Teile gewachsenen Programm sogar auf Tournee. Die ersten beiden Teile, deren Herzstück der USA-Aufenthalt als Austauschschüler Mitte der 1980er-Jahre bildet, hat Meyerhoff nun aufgeschrieben. Und das geht nicht nur erstaunlich gut, sondern – das lässt sich schon auf den ersten Seiten bemerken – entpuppt sich als eines der auf kluge Weise unterhaltsamsten Bücher, die man in diesem Jahr in deutscher Sprache zu lesen bekommen dürfte. Meyerhoff ist Jahrgang 1967. Der Verdacht der Hybris, der sich angesichts des radikal autobiographischen Großprojekts zunächst einmal einstellt, wird schnell ausgeräumt: Hier will einer nicht in erster Linie von sich, sondern von der Welt erzählen. Und er hat die nötigen sprachlichen Mittel, die Einfälle und die Beobachtungsschärfe dafür.
So authentisch und ungekünstelt der Tonfall des Ich-Erzählers auch durchgehend wirken mag, so deutlich wird gleichzeitig, dass Meyerhoff sich nicht auf den nostalgisch angehauchte Jux einer Jugenderinnerung zurückzieht. Vielmehr inszeniert er die eigene Biographie als einen neoromantischen Entwicklungsroman und sich selbst als einen modernen Taugenichts, angefüllt mit den Hemmungen und der Scham der Spätpubertät, aber auch mit Entdeckerfreude: „Wie gerne wäre ich in diese Landschaft hineingewandert. Mit einem Stock über der Schulter, an dem ein kleines Bündel hängt.“ Da steht der Erzähler, wohlgemerkt, am Rande einer Autobahn, auf dem Weg zum Frankfurter Flughafen, von wo aus er in die USA weiterfliegen soll, und von hinten ruft der Bruder „Ey, los komm“.
Meyerhoff sucht nicht das Extravagante und nicht die schnelle Pointe. Auf diese Weise kann sich das Spektakuläre, Überraschende umso effektiver entwickeln. Josse, wie der Vater den Ich-Erzähler nennt, stammt aus Schleswig. Eine Fahrt nach Hamburg inklusive Bordellbesuch ist da schon ein Abenteuer. Meyerhoffs Verfahren ist das der freien Assoziation – das macht seinen Text so variabel in Raum und Zeit, gibt dem Erzähler die Möglichkeit, aus einem vermeintlichen Flickenteppich von Anekdoten heraus eine stimmige Herkunftswelt zu entwickeln, die in der amerikanischen Gastfamilie zunächst ihre Entsprechung zu finden scheint: Vater, Mutter, drei Söhne und der Hund. Und doch ist alles ganz anders. Den bildungsbürgerlichen Anspruch eines Studienjahres konterkariert der Blick für das skurrile Detail, der die noch so absurd erscheinenden Riten und Gepflogenheiten des amerikanischen Alltags in aller Offenheit registriert, ohne sich darüber zu erheben.
Josse alias Joachim ist Sehnsuchtsmensch, jugendlicher Melancholiker und Pragmatiker zugleich, kein Verlierer, aber eben auch nicht der strahlende Siegertyp. Ein Schlaks mit drahtigen Locken, der ohne ein Klischee im Kopf in einem fremden Land ankommt und deswegen immer wieder die Haltung des Staunenden einnimmt. Das Unbekannte bereitet weniger Probleme als gedacht; das Heimweh hält sich in Grenzen. „Konzentration“, so heißt es, „war keine Frage der permanenten Selbstermahnung, sondern schlichtweg ein Zustand der Neugierde, um bloß nichts zu verpassen“. Sei es die landesübliche absurde Verabredungspraxis zwischen den Geschlechtern, sei es der Ausbruch von Nasenbluten in der ungewohnten Höhenluft von Wyoming, sei es der Psychokrieg, den Joachim mit seinem Gastbruder führt, der Kampf mit einem Stinktier, der Besuch beim Basketballtrainer in dessen von zwei Schäferhunden bewachtem Schwarzwaldhaus oder der Briefwechsel mit einem Häftling im Todestrakt des örtlichen Gefängnisses – „Alle Toten fliegen hoch“ ist eine dramaturgisch geschickte Abfolge von Szenen, denen subtile Komik („You are really from Germany? How did you get out?“), Detailfreude und Situationsgespür innewohnt.
Wie auf der Bühne bedient Joachim Meyerhoff auch in seinem Roman das ureigene menschliche Bedürfnis nach Geschichten und danach, sie sich so anschaulich wie möglich erzählen zu lassen. Ein reiner Jux ist das nicht und soll es auch nicht sein: Mitten in den geregelten amerikanischen Alltag platzt die Nachricht, dass Joachims Bruder bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Im Haus tragen alle Schwarz, zum ersten Mal; später noch einmal nach der Explosion der „Challenger“. Dann geht man gemeinsam in die Kirche. Religion ist hier nicht nur laut Fragebogen sehr wichtig. Zur Beerdigung reist Joachim zurück und flieht kurz darauf wieder das mit Trauer angefüllte Elternhaus.
Die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion verwischen in einem ambitionierten Vorhaben wie diesem. Wichtig ist, dass es jeder Koketterie entbehrt. Wo die Person Meyerhoff aufhört und die Kunstfigur Joachim anfängt, ist für das Gelingen nicht weiter entscheidend: Entweder ist es glänzend erinnert oder glänzend erfunden. Sehr wahrscheinlich aber beides. CHRISTOPH SCHRÖDER
JOACHIM MEYERHOFF: Alle Toten fliegen hoch. Teil 1: Amerika. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011. 320 Seiten, 18,95 Euro.
Als der Bruder stirbt, muss Josse
die Worte im Duden nachschlagen
Selbst-Darsteller: Meyerhoff in „Alle Toten fliegen hoch“. Foto: Reinhard Werner
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de