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Kaum ein anderer Denker hat die jüdische Moderne in einem so hohen Maße beeinflusst wie der Philosoph Baruch Spinoza. Als eine intellektuelle Grenzfigur, die nach ihrer Verbannung aus der jüdischen Gemeinde Amsterdams im Jahre 1656 in die christlich-abendländische Geisteswelt eintrat, inspirierte er jene Aufklärer der Haskala, die ein gutes Jahrhundert später nach einem eigenen jüdischen Weg in die europäische Moderne suchten. Diese Denker trafen dabei auf eine nichtjüdische Gelehrtenwelt, in der sich mit dem Namen des niederländischen Philosophen ebenso idealisierende Erwartungen wie…mehr

Produktbeschreibung
Kaum ein anderer Denker hat die jüdische Moderne in einem so hohen Maße beeinflusst wie der Philosoph Baruch Spinoza. Als eine intellektuelle Grenzfigur, die nach ihrer Verbannung aus der jüdischen Gemeinde Amsterdams im Jahre 1656 in die christlich-abendländische Geisteswelt eintrat, inspirierte er jene Aufklärer der Haskala, die ein gutes Jahrhundert später nach einem eigenen jüdischen Weg in die europäische Moderne suchten. Diese Denker trafen dabei auf eine nichtjüdische Gelehrtenwelt, in der sich mit dem Namen des niederländischen Philosophen ebenso idealisierende Erwartungen wie irrationale Ängste gegenüber dem in Spinoza identifizierten intellektuellen Idealtypus des Jüdischen verbanden. Somit ist die Geschichte der jüdischen Rezeption Spinozas seit dem Zeitalter der europäischen Aufklärung stets ein Indikator dafür, welchen Stand das wechselhafte Verhältnis zwischen jüdischer und nichtjüdischer Welt gerade erreicht hatte. Im Nachvollzug der Verlaufsformen der jüdischen Spinoza-Rezeption vom 17. bis ins 20. Jahrhundert zeigt die vorliegende Studie, wie sich jüdisches Selbstbild und Fremdzuschreibung immer wieder wechselseitig bedingt haben.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.10.2013

Radikalität ist kein Selbstzweck
Aber Spinozas theologisch-politische Überlegungen sind durchaus brauchbar für moderne Demokratie
Die Behauptung, dass Macht ein besonderer Stoff sei, wird leicht Zustimmung finden. Woraus aber besteht er? Wer darüber nachdenkt, der muss beim Individuum anfangen: Es ermächtigt sich selbst, setzt sich als Ich in die Welt, in der es doch schon immer ist. Und gleichzeitig ist Macht ohne Gemeinschaften und Gesellschaften, ohne Institutionen, letztlich also den Staat, nur ein Begriff. Macht bedarf, ein klassischer Topos, der Verkörperung.
  Der in den USA lehrende Soziologe Michael Mann hat in seiner einflussreichen, nunmehr vierbändigen „Geschichte der Macht“ vier unterschiedliche „Quellen“ benannt, in denen Macht entsteht, sich entfaltet, die schließlich den Staat konstituieren: Ideologie, Ökonomie, Militär und Politik.
  Mann aber interessiert sich nicht für den Einzelnen, deshalb muss sein empirisches Modell immer auf der Ebene von anonymen „Prozessen“ bleiben. Damit kann sich eine Philosophie der Macht nicht zufrieden geben. Sie muss erklären können, wie Macht konkret entsteht, daher ist der Institutionenlehre eine Subjekttheorie zur Seite zu stellen. Von Platon und Aristoteles, über Cicero und die Scholastiker, Machiavelli, bis hin zu Hegel lässt sich das Ineinandergreifen der beiden Elemente denn auch als grundlegend für deren Machtphilosophien ausmachen.
  Umstritten war bei den Genannten immer, ob ihr Denken auch als Grundlage für ein zeitgemäßes Demokratiemodell gelten könne. Die Skepsis führte seit der anonymen Veröffentlichung des „Theologisch-politischen Traktats“ 1670 hin zu dessen Autor: Spinoza. In den Kapiteln 16 bis 20 fanden seine zahlreichen Bewunderer und Kritiker die Grundlagen für ein demokratisches Gemeinwesen ausgearbeitet, was Spinozas Denken seit dem 19. Jahrhundert den Titel als das eines „radikalen Aufklärerers“ einbrachte. „Radikal“ war Spinoza deshalb, weil er als wohl letzter auf der Basis eines umfänglichen Wissens der jüdischen Traditionsliteratur und genauer Kenntnis unter anderem von Thomas Hobbes’ politischer Philosophie seine Kritik an der Rolle der Religion für die Legitimation des Staates formulierte. Sein „Theokratie“-kritisches Verständnis verwies die Religion auf die Rolle der Koordinatorin sozialer Belange innerhalb einer Gesellschaft.
  Seitdem hat die Diskussion über seine Machtphilosophie stets stimulierend gewirkt: ob für Berthold Auerbach, den Autor der berühmten „Schwarzwälder Geschichten“, der Spinoza übersetzte und ihm eine Biografie widmete, und ihn als Anwalt für ein säkulares Judentum in Anspruch nahm. Oder in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts bei Lewis Feuer, dessen Weg vom Demokraten Spinoza zur Übersetzung von Marx führte. Was anfangs skurril wirkte, wurde während der Studentenrevolte ein millionenfach verkaufter Renner. Seit Mitte der sechziger Jahre dann war Spinoza der Held der diversen marxistischen Strömungen in Frankreich. Die „Groupe Spinoza“ um Louis Althusser und seine Schüler wie Etienne Balibar versuchten in geheimen Treffen auch damals Marx-abstinente Denker wie etwa Jacques Derrida für die „Radikalität“ Spinozas zu gewinnen.
  Gerade aus Frankreich, den USA und Italien kommen bis heute die stärksten Impulse zu Spinozas Machtphilosophie, wobei sie häufig lediglich die historische Referenz darstellt, um sich dann freihändig an den Gegenwartsfragen möglichst „radikal“ abzuarbeiten. Neben Balibar sind es die Theoretiker der „Multitude“ Antonio Negri und Michael Hardt sowie Alain Badiou, die sich von dem Amsterdamer Häretiker inspirieren lassen.
  Nun liegt mit Martin Saars Frankfurter Habilitationsschrift eine exzellente deutschsprachige Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen von Spinozas Macht-Denken vor. In einem ersten Teil liefert Saar pointierte Zusammenfassungen der politischen Schriften, bedeutender aber, des eigentlichen Hauptwerkes, der postum veröffentlichten „Ethik“. Saar liest die „Ethik“ über ihre Widersprüche, in denen er zusammen mit den Kernaussagen des „Traktats“ für eine demokratische Machttheorie taugliche Elemente findet. Rationaler Umgang mit weltanschaulichen Differenzen, eine Theorie des Strebens und der Affekte, die sich mit einer ausgearbeiteten Ontologie zwischenmenschlicher Beziehungen, der Ich-Setzung des Menschen und der möglichen Steigerbarkeit menschlicher Welterfassung befasst, stellen die Eckpunkte von Saars Rekonstruktion dar.
  Im zweiten Teil seiner Untersuchung konfrontiert er dann seine Analyse mit aktuellen Deutungsangeboten, wobei er nicht nur die bereits erwähnten radikalen, marxistischen Ansätze mit ihren Übersteigerungen galant ausbremst. Auch die Ansätze der Governance-Forschung, die sich zwischen Übergeneralität und Hyperdetailversessenheit nicht entscheiden können, werden nachvollziehbar und fair kritisiert. Saar ist auch darin klug, dass er sich nicht aus aktuellen Anlässen verführen lässt, ein spinozistisches Modell, wie das jetzt häufig mit Marx geschieht, als Allheilmittel gegen das Verschwinden demokratischer Elemente innerhalb des kapitalistischen Systems zu setzen. Radikalität ist kein Selbstzweck und die bloße Behauptung von Radikalität im Denken eine bloß hohle Geste, die niemand ernst nehmen muss. Saar jedenfalls ist für all das viel zu ernsthaft an einer rekonstruktiven Lösung heutiger Demokratiedefizite interessiert. Spinoza allein reicht dafür nicht aus, so das realistische Resümee des Buches.
  Wenn sich etwas an Saars wichtigem Buch kritisieren ließe, dann die Unterschätzung der Ideengeschichte, die er nicht immer plausibel gegen das setzt, was er „systematisch“ nennt. Wer sich von der Leistungskraft ideengeschichtlicher Rekonstruktion, die in sich selbst gar nicht anders als systematisch sein kann, überzeugen möchte, der greife zu Jan-Hendrik Wulfs Studie über die Aufnahme Spinozas von der jüdischen Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert. Hier wird historische Genauigkeit mit dem Gespür für die Ambivalenzen von Deutungen und Zuschreibungen verbunden, wie dies nur selten zu finden ist. Spinoza wird bei Wulf zur Reflektionsfläche für Identitätsentwürfe und ihre Durchstreichungen, die mit einer Ausnahme allesamt ihre Verwirklichungen in der Wirklichkeit nicht einlösen konnten. Wulf beendet seine für die Rezeptionsforschung ungeheuer bedeutsame Arbeit nämlich mit Israels erstem Premierminister: Ben Gurion.
  Um Saars und Wulfs gewichtige Arbeiten richtig würdigen zu können, ist die Lektüre Spinozas natürlich unerlässlich. Es muss als ein Glücksfall bezeichnet werden, dass der Hamburger Philosoph Wolfgang Bartuschat seit Jahren sich der Übersetzung Spinozas widmet. Nun legt er die bislang beste Übertragung des „Theologisch-politischen Traktats“ vor. Auf dem neuesten Stand der komplizierten Spinoza-Philologie hat er seine Edition zudem mit einer so nüchternen und klaren „Einleitung“ versehen, dass man mit bestem Gewissen auf die Frage, was man denn in diesen Zeiten lesen solle, antworten kann: Spinoza! Natürlich!
THOMAS MEYER
Baruch de Spinoza: Theologisch-politischer Traktat. Übersetzt u. hrsg. v. Wolfgang Bartuschat. Meiner Verlag, Hamburg 2013. XLVI+388 S., 24,90 Euro.
Martin Saar: Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 450 S., 17 Euro.
Jan-Hendrik Wulf: Spinoza in der jüdischen Aufklärung. Akademie Verlag, Berlin 2013. 622 Seiten., 128 Euro.
In den Sechzigern war Spinoza
der Held diverser marxistischer
Strömungen in Frankreich
Es gibt in der Frage der
Identitätsentwürfe Bezüge
zwischen Spinoza und Ben Gurion
  
  
Baruch Spinoza
(1632-1677), niederländischer Philosoph. Eine Zeichnung von K. J.
Boehringer (Heliogravüre, Corpus Imaginum, Sammlung Hanfstaengl, Foto: Blanc Kunstverlag).
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